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Keine Ahnung, wann ich zuerst ausgerechnet habe, daß
ich am Ende des Jahres 1999 fünfunddreißig sein werde. So vertraut
ist mir diese Rechnung. Die Addition der fehlenden Jahrhundertjahre zu
meinem Geburtsdatum oder zu meinem aktuellen Alter war mir als Kind ein
beruhigender Abzählreim, eine Litanei im Dunkeln, wie das Zählen
der Pyjamaknöpfe oder der Herzschläge. Bis ich einschlief, betrieb
ich das oft, maschinenhaft wie eine jener Puppen aus lange schon abgestoßenem
und vom Wetter ausgeblichenem Fiberglas, die in den Märchenländern,
wie man das nannte, die Wege durch eine Fichtenschonung säumten.
Benjamins Engel allesamt: Prinzessinnen und Prinzen, Wölfe, Hexen,
Zwerge, Frösche und Rehe, Ritter, Drachen, Jungfrauen, erstarrt unter
Krüppelkiefern in den kenntlichen Posen ihrer Geschichten.
Warf man aber ein Geldstück in den
entsprechenden Schlitz des diskret verdeckten Apparates, begannen
der gestiefelte Kater, Dornröschen und Frau Holle sich vor ihren
Knusperhäuschen und in ihren blau gestrichenen Betonseen zu bewegen.
So endete das Märchen stets in der schnarrender Mechanik von Motoren,
Zahnrädern und Gelenkstangen. Was einen an all die Rückblicke
denken läßt, die Anthologien, Sammelbände, Leitfäden
und Lexika, die es zum Jahrtausendende en gros geben wird. Formationen
von Fakten, die angesichts der Möglichkeiten, zu denen das Internet
uns herausfordert, schon jetzt so antiquiert erscheinen wie jene Märchenpuppen,
denen manchmal dann ein Bonbon aus ihrem klappernd aufklappenden Maul
fiel.
Schriftsteller mögen diese Art von Ergebnissen
nicht.
Sie träumen statt dessen den Traum des allumfassenden Buches, der
nicht erst seit Borges der Literatur eingewoben ist. In dieser sind sie
auf der Suche nach einer erkennbaren Welt jenseits der menschlich begrenzten
Speicherkapazitäten unserer Rituale des Erinnerns. Die Literatur
entbindet davon und gleichsam verflüssigt auch das
Netz mit all seinem Stimmengewirr, seinen Überlagerungen und Widerprüchen,
seiner Paranoia und Schönheit.
Woraus die Idee zu einem Ort im Internet entstand,
der Adventskalender
und Flaschenpost wäre und eine langsam über das letzte Jahr
des Jahrtausends hinwegwachsende Anthologie junger deutscher Literatur.
Und an dem sich so, nämlich in der Zeit, Beiträge bespiegeln
und kommentieren können mit jener Transparenz und Geschwindigkeit,
die erst das Netz ermöglicht mit E-Mail und Chat, Bildern und Tönen,
dem unbegrenzten Raum und den flirrenden Konturen der Autorenschaft. Ein
Kalender also auf das Jahr 1999. Weshalb dieser Ort im Netz auch NULL
heißt. Ein Kalender jedoch, der nicht nur literarische Texte versammelt,
sondern auch Fundgut jeglicher Art und unabhängig vom Datenformat
das, was sich mitzunehmen lohnt ins nächste Jahrtausend und also
in das Archiv, das NULL damit werden wird: Bilder, Töne, Gespräche,
Essays, Comics, Scherenschnitte, Wetterkarten, Tagebuchnotizen, Arbeitsskizzen.
Die Debatten der Alten aber, derer die jüngeren
Schriftsteller
hierzulande nicht zufällig zumeist sich enthalten, werden sicher
hier nicht geführt, vielleicht aber wird eine Spur gelegt werden,
die aus diesem letzten Jahrtausendjahr ins Kommende führt. Und zwar
entlang von Texten der Autoren jener Generation, für die erstmals
die Rituale des Bleistifts nicht mehr gelten. Denn das Netz selbst ist
das Dokument eines Generationenbruchs. Die Zeit der Experimente, der Link-Sammlungen
und Selbstverlage im Netz ist vorüber. Vielmehr führt es vor,
wie sehr die Veränderungen der Arbeitstechnik eine der Öffentlichkeit
ist und die der Literatur eine ihrer medialen Voraussetzungen. Davon will
NULL berichten.
Zugleich aber könnte
NULL auch so etwas wie der Balkon über den Dächern der Stadt sein,
auf dem man schließlich sich einfindet, feiernd und frierend, miteinander
im Gespräch oder in Gedanken versunken, auf jeden Fall aber in Erwartung
des Feuerwerks am Ende dieser einjährigen Silversternacht. Dazu möchte
ich Leser wie Autoren einladen und freue mich nicht nur auf all jene, die
ihr Kommen schon zugesagt haben, sondern selbstverständlich auch auf
überraschende Gäste. Bis dann die Raketen hochgehen und die Uhren
umspringen werden. Erst dann wird auch NULL erstarren wie jene glasfibernen
Märchenpuppen mitten in der Bewegung, als die Zeituhr den Strom unterbrach.
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