Sinkende Sterne.

  Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023

Wie der Wind losbrach und an mir zerrte, als ich aus dem Auto stieg. Wütend fuhr er mir ins Gesicht, dass mir die Luft wegblieb, beißend kalt tobte er um mich her wie eine Hundemeute, die et­ was bewachte, von dem ich nicht wusste, was es war. Wie die dürren, langen Äste der Lärchen dumpf an­ einanderkrachten und sich brausend schüttelten. Ich fürchtete mich, als wäre ich wieder das Kind, das ich hier gewesen bin, und beeilte mich, durch die Schnee­ reste die Treppe hinab zum Haus zu kommen, wäh­ rend der Wind über mich hinwegfauchte. Er kam über den Berg und fegte über das Dach, fing sich in den Mauerecken, griff in die geschlossenen Läden, die klapperten und in ihren Scharnieren quietschten, und verebbte mit hohlem Seufzen in der Türlaibung, in die ich mich hineinpresste, um ihm zu entgehen. Als ich wieder zu Atem gekommen war, wagte ich einen Blick hinab ins Tal. Noch glomm der Himmel rot über dem Scherenschnitt der fernen Gipfelkette im Westen, doch schon verschwand der stumpfe Stein im Dun­ kel der anbrechenden Nacht. Nur das Weisshorn, auf dem der Schnee niemals schmilzt, zog das letzte Licht gespenstisch an und leuchtete fahl herüber, als gäbe es dort oben, auf seinem Gipfel, einen anderen Tag.

Spinnen hatten ihre Netze in den Türsturz gewebt, zusammengebackener goldgelber Flor aus Lärchenna­ deln im windstillen Schatten der Schwelle. Ich schloss die Augen. Im Wagen, wusste ich, tickte noch der heiße Motor von der Fahrt herauf, doch er würde lei­ ser werden und kalt und schließlich verstummen, und dann würde es sein, als hätte der Wagen immer schon hier gestanden, auf diesem Parkplatz am Rande des Lärchenwaldes hoch über dem Tal der Rhone. Erst ein halbes Jahrhundert ist es her, dass man die Straße in die Bergflanke gesprengt hat, mal schmaler, mal breiter, mit Ausweichstellen und Serpentinen und Brücken, von der Stadt im Talgrund ins Dorf herauf und weiter bis hierher zu dem Maiensäß auf tausendfünfhundert Meter. In einer sanften Kurve legt sie sich um den Hü­ gel, hinter dem sich die kleine Schar Häuser vor den Ostwinden verbirgt, und endet auf dem Parkplatz vor einer Phalanx von einem halben Dutzend verrosteter Garagentore. Daneben ein Gebäude aus Sichtbeton mit Rampen und Treppen aus feuerverzinkten Stahl­ gittern, auf dem Dach die durchhängenden Kabel einer Seilbahn, die in den Wald hinein verschwinden. Ihr Betrieb wurde schon kurz nach der Eröffnung in den siebziger Jahren als unrentabel wieder eingestellt, und nur zwei der Chalets hat man tatsächlich gebaut, die sich auf jenem bunten Prospekt des Architektur­ büros über den ganzen Hang verteilt hatten, der meine Eltern damals dazu bewog, eines davon zu kaufen. Auf­ gewachsen bin ich in der westdeutschen Provinz, aber als Kind habe ich alle Ferien hier verbracht.

Ich strich über das Lederläppchen, das der Vater eines Tages über das Schloss genagelt hatte, ich stand als Knabe dabei. Jetzt klappte ich es hoch, und es brach mürbe um die verrosteten Nägelchen herum ab. Das ist der Beweis, dachte ich. Beweis wofür? Dass es mich gibt? Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss, das tatsächlich nicht verstopft war und sich schließen ließ, als wäre ich nur kurz weggewesen und nun wieder zurück. Noch einmal hielt der Vater die Zeit an, wie er es für mich als Kind immer getan hatte. Doch die Tür klemmte. Wieder und wieder rüttelte ich am Türgriff, warf mich mit aller Kraft gegen das Türblatt.

Mein Rütteln setzte sich fort im Innern des Hauses, lief eilig durch die lange verlassenen Räume, verteilte sich im dunklen Flur und in den beiden Schlafzimmern, im Muff der Daunendecken auf den alten Matratzen und den vergessenen Playmobiltieren in meinem Kinderzimmer, ein Löwe, eine Giraffe, ein Bär, im Bad an der Nordseite des Hauses, zwei grüne Waschbecken an der bis zur Decke ebenso grün ge­ kachelten Wand, runde Spiegel über den Becken und Lampen aus Rauchglas, die Zahnputzgläser in ver­ chromten Wandhalterungen darunter und der ebenso verchromte Dorn für den kleinen Magneten, den die Mutter immer nach unserer Ankunft fast als Erstes in das neue Seifenstück gebohrt hatte. Auf der Ablage Vaters Nassrasierer, angetrocknete Bartstoppeln noch zwischen den Klingen. Als Kind hatte ich ihm gern beim Rasieren zugesehen, irgendwie entblößt stand er da in seinem Feinrippunterhemd vor dem Spiegel, den weißen Schaum auf den Wangen, und wie er den Ra­ sierer über die Haut führte und immer wieder unter dem laufenden heißen Wasser abspülte. Lange hatte ein letzter Tropfen am Wasserhahn gehangen in dem verlassenen, unendlich stillen Haus, unentschieden, ob er fallen solle oder nicht, bis er verdunstet war.

Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, dass auch in diesem Neubau alles ihrer Vorstellung eines Schweizer Chalets entsprach, die Decken holzgetäfelt und von Zierbalken überspannt, breite Dielen und ein offener Kamin, eine Kommode mit Bauernmalerei, um den rustikalen Esstisch Stühle mit herzförmigen Ausschnitten in den Lehnen und eine Lampe mit rot­ kariertem Stoffschirm darüber. An den Wänden längst farbstichig gewordene Fotos von Murmeltieren, vom Weisshorn und der Bella Tola. Ich warf mich gegen die Tür, und das Wummern drang bis in die dunklen Ecken hinter den Möbeln, wo die Chitinpanzer un­ zähliger Generationen von Insekten den Fußboden be­deckten. Der Staub auf dem Tisch, auf den Stühlen. Der eisige Stein des schon ewig ausgekühlten Kamins. Auf der Anrichte das glimmende blaue Kristallglas des schweren Aschenbechers. Wenn es sonnig war, huschte seit Jahr und Tag ein Lichtstreifen unter den Läden des großen Südfensters herein und wischte über den Boden hin wie das lautlose Pendel einer unsichtbaren Uhr.

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Wie früher mit den Eltern hatte ich die A5 nach Süden genommen, die Grenze in Basel über­ quert, hatte Bern passiert und die Autobahn schließ­lich bei Spiez verlassen, linkerhand der Thunersee, war ins Kandertal hinaufgefahren und dann auf dem offenen Pritschenwagen des Autozuges durch den Lötschberg transportiert worden, der den Kanton Bern vom Kanton Wallis trennt. In meiner Kindheit habe ich diese Fahrt geliebt, und der Gedanke an sie ist so etwas wie mein Einschlaflied gewesen, das mich bei jeder Gelegenheit beruhigte, in meinen kindlichen Verzweiflungen und auch später immer dann, wenn ich mir vorstellte, vor irgendetwas in meinem Leben fliehen zu müssen und wieder wie als Kind im völligen, Dunkel des Berges zu verschwinden, durchgerüttelt auf den alten Schienen, während vor den Autofen­ stern der nackte Fels vorüberhuscht, dessen Konturen nicht mehr sind als ein Glimmen im Schwarz. Die Zeit scheint in diesem Rasen lange nicht zu vergehen, bis endlich die Helligkeit des Tunnelausgangs zunächst einen zähen Moment lang nur zu ahnen ist, nichts als eine Empfindung von Helligkeit, die sich dann bestä­ tigt, einen leuchtenden Punkt im Schwarz setzt, in den der Zug sich hineinzustürzen beginnt, bis das Licht von der anderen Seite des Berges den Stollen schließ­ lich ganz erhellt und man wieder hinausfährt in den Tag.

Aber diesmal war alles anders. In vorsichtigem Schrittempo fuhr der Zug in eine Art Stahlkäfig hinein, und während noch die Bremsen quietschten, hörte ich polternde Stiefel auf den Pritschen, dann tauchte ein Soldat neben dem Seitenfenster auf, seine große Stab­taschenlampe tastete den Innenraum des Wagens ab und verharrte schließlich mit blendendem Licht einen Moment auf meinem Gesicht. Mit einer knappen Geste bedeutete der Uniformierte, die Scheibe zu öff­ nen. Wie ich sicher wisse, sei die Einreise ins Wallis reglementiert, erklärte er, und ich beeilte mich, ihm meinen Ausweis und den Brief hinauszureichen, den ich vor zwei Wochen erhalten hatte. Der Soldat las ihn mit steinerner Miene, nickte mir dann zu und lief grußlos weiter. Er arbeitete sich den ganzen Zug ent­ lang, drei andere Soldaten, Maschinenpistolen im An­ schlag, folgten ihm dabei.

Ich atmete tief durch, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, aus dem Käfig hinausfuhr und den Bahnhof Goppenstein erreichte, unter dessen aufwen­ digen Betonsubstruktionen aus Pfeilern und Rampen für Gleise und Zufahrten sich im Sommer ein Flüss­chen bergab stürzt, und die im Winter unter meter­ hohem Schnee verschwinden. Wie immer fuhren die Wagen im Schrittempo von den Pritschen herunter, doch die Glasfront des Kiosks mit den öffentlichen Toiletten war bis auf schmale Sichtschlitze zugemauert, und die bunten Reklameschilder für Eis und Snacks waren verschwunden, mitten auf dem Rangierplatz ein auffälliger Soldat, ein muskulöser Hüne mit rotem Barett, der etwas von einem Landsknecht hatte, breit­ beinig und unbeweglich, die Hände in die Hüften ge­stützt. Über ihm flatterte die rotweiße Walliser Fahne mit den dreizehn Sternen an einem Mast, den man in den Asphalt gesetzt hatte. Mit ungeduldigem Winken forderte er mich zum Weiterfahren auf, und ich beeilte mich, der Aufforderung Folge zu leisten.

Irgendwann, als ich Serpentine für Serpentine die steile Straße ins Tal hinabfuhr, erspähte ich dann weit unten zum ersten Mal den See. Langsam rückte er immer näher. Alles, was ich über das Unglück ge­ lesen hatte, ging mir dabei durch den Kopf, und ich spürte meine zunehmende Beklemmung. Kurz über dem Örtchen Steg endet die Straße einfach im Wasser, verschwindet hinab in den Ort, den es nun nicht mehr gibt. Die Wagen stauten sich auf einem improvisier­ten Parkplatz, Soldaten wiesen uns ein, ich stieg aus. Offenbar warteten wir auf eine Fähre. Ich sah einen stählernen Ponton, der in den See hineinragte, dahin­ ter die Dachhaube des Kirchturms im düsteren Was­ ser, das grau und milchig unter tiefen Wolken an das schwappte, was nun sein Ufer ist, und konnte nicht aufhören, in dieses kalte Grau zu starren, erst das Hu­ pen der anderen Wagen riss mich aus meinen Gedan­ken.

Der See war auch das Erste, woran ich denken musste, als ich am nächsten Morgen erwachte, unend­lich beruhigend stieg das alte Aroma meines Kinder­ zimmers aus der Bettwäsche, die so lange unberührt im Schrank gelegen und in die ich mich am Abend ver­ krochen hatte. Ich warf die schwere Daunendecke von mir und tappte nackt durch das Haus. Es war noch eiskalt vom Winter in den seit Jahren ungeheizten Räu­ men, aber durch die große Schiebetür im Wohnzim­ mer kam die Sonne herein, vor Kälte zitternd öffnete ich sie, trat hinaus auf den Balkon und stellte mich in das wärmende Licht. Der Himmel war strahlend blau, die Luft windstill, vom Sturm des gestrigen Abends nichts mehr zu spüren. Der Frühling kam, doch auf den Gipfeln ringsum, bis hinab zur Baumgrenze, lag noch blendender Schnee. Darunter das breite, südli­ che Tal, in das ich hinabsah wie in eine Spielzeugwelt. Der mäandernde Fluss und die Dörfer, die Straßen zwischen ihnen, die Aprikosenplantagen, an den Hän­gen der Wein, darüber der Lärchenwald, der im Herbst golden wird. Wie als Kind suchte ich rhoneabwärts die beiden Burghügel von Sion, die Hoteltürme und Lift­ anlagen von Crans­Montana und ahnte in der Ferne Martigny, wo einst die römische Legion der Provinz Vallis Poenina stand. Dort führt der Weg zum Großen Sankt Bernhard hinauf und über den Pass nach Italien.

Und talaufwärts der See. Ich versuchte mich an die Berichte über den Bergsturz zu erinnern, an die Bil­ der, die durch die Medien gegangen waren, von dem verheerenden Murgang, durch den das ganze Tal blok­ kiert worden war. Ich hatte die Katastrophe kaum zur Kenntnis genommen und mir nicht einmal das genaue Datum gemerkt. Die Rhone hatte sich wohl in Win­ deseile aufgestaut, ein halbes Dutzend Dörfer war im Wasser versunken, der Lötschbergtunnel geflutet wor­ den, es hatte Tote gegeben. Und nun glitzerte der See, der dabei entstanden war, dort unten in der Sonne, als wäre er immer schon dort, die Kantonalstraße nur noch eine Erinnerung, die Weiler Gampinen und Agarn ver­ schwunden. Das Wasser leckte den Schwemmkegel am Illgraben hinauf bis gen Feithieren und Pletschen, und irgendwo bei Leuk, direkt unter mir und deshalb nicht zu sehen, endete wohl die Wasserfläche, deren bedroh­ liche Gleichgültigkeit machte, dass ich nicht aufhören konnte hinabzustarren. Ein Falke tauchte auf und be­ gann in weiten Schwüngen über dem Tal zu kreisen. Und als ich mich frierend endlich von seinem Anblick losmachte und wieder hineinging ins Haus, stand mir im Glas der Schiebetür plötzlich mein Spiegelbild ge­ genüber. Mitleidig betrachtete ich mein weißes Fleisch, meine weiche Brust und wie mein Bauch sich über mein Geschlecht wölbte, und wusste, es hätte mich weniger überrascht, wäre statt meiner tatsächlichen Gestalt die jenes Jungen im Glas aufgetaucht, der ich hier einmal gewesen bin.

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Alles war wie immer, und doch hatte sich offensicht­lich etwas grundlegend verändert. Die Soldaten mit den Maschinenpistolen, der Stahlkäfig, der Lands­knecht mit dem roten Barett unter der Walliser Fahne. Der See. Mein Telefon hatte keinen Empfang. Den ganzen Tag ging ich mit dem Blick auf das Display von Zimmer zu Zimmer, vor das Haus, auf den Parkplatz, immer wieder auf den Balkon, doch das Telefon blieb offline, und ich starrte hinab auf den See, als wäre er mit der Stille im Bunde. Schaltete das alte Küchenra­dio ein, doch über das ganze Frequenzband war nur Rauschen zu hören, die analogen UKW­Sender waren längst abgeschaltet. Einen Fernseher haben meine El­ tern nie besessen. Schließlich blieb ich vor dem alten Festnetztelefon stehen. Ich selbst hatte den Vertrag nach dem Tod meines Vaters gekündigt. Und doch nahm ich den orangenen Hörer mit dem Spiralkabel ab, und meine Hand erinnerte sich im selben Moment wieder daran, dass er ein wenig schwerer wird, wenn die Kontakte ganz herausgeglitten sind. Eingeholt von der Vergangenheit, presste ich gegen jede Logik die Muschel ans Ohr. Sinnlos, wie routiniert mein Zeige­ finger in die Löcher der Wählscheibe fasste, sie drehte, losließ und wartete, während sie mit einem klacken­ den Geräusch zurückschnurrte, bevor ich die nächste Nummer wählte. Die Leitung war tot.

Die Stille hatte die Farbe der Nacht und legte sich mir so kalt auf die Haut, dass es mich ängstigte. Drunten im Tal stieg jetzt das Schwarz aus dem Spiegel des unheimlichen Sees. Meretschihorn, Schwarzhorn, Rothorn, zählte ich mir die Namen der jetzt unsichtba­ ren Gipfel draußen vor dem Fenster auf und goss mir ein Glas von Vaters Pinot ein, von dem ich noch ein paar Flaschen gefunden hatte. Das schwarze Display des Smartphones auf dem Couchtisch zeigte dieselbe Nacht wie das große Fenster zum Balkon. Daneben lag der Brief aus Leuk, den ich vor zwei Wochen erhalten hatte. VORLADUNG prangte über dem Anschrei­ ben. Ich sei als deutscher Staatsbürger und Besitzer ei­ ner Parzelle in der Gemeinde Leuk gemäß Artikel 276 GemG–SGS/VS175.1 verpflichtet, auf dem Gemeinde­ amt Leuk, Rathausplatz 1, persönlich zur Einvernahme zu erscheinen. Datum und Uhrzeit. Unterzeichnet von Jesko Zen Ruffinen, Kastlan von Leuk und Bannerherr der Sieben Zenden. Immer wieder wanderte mein Blick zu dem Wappentier der Stadt im Briefkopf, dem Greifen mit dem erhobenen Schwert.

Das Schreiben war der Anlass herzukommen, aber nicht der Grund. Wenige Tage, bevor ich es im Brief­ kasten fand, hatte mich die Vizepräsidentin der Uni­ versität in ihr Büro gebeten und mir erklärt, man sehe, so leid ihr das tue, keine Perspektive mehr für mich an der Hochschule. Es sei meine Verantwortung als Leh­ render, einen offenen Raum zu gestalten, in dem die Studierenden konstruktiv, abwägend, mit angemes­ senem Ton und Sensibilität an einen Diskurs heran­ treten und daran teilhaben könnten. Meine Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons, mein Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen und mein sexisti­ scher Sprachgebrauch verunmögliche das jedoch. Es habe Proteste gegeben. Die Odyssee, versuchte ich eine hilflose Entgegnung, ich hätte ein Seminar zur Odyssee angeboten. Das Lächeln der Vizepräsidentin schwebte starr in der Luft.

Jede Kulturrevolution versteht den moralischen Terror, den sie ausübt, wie Robespierre als Ausfluss von Tugend. Ein Satz Pasolinis schoss mir durch den Kopf: Io sono una forza del passato. Was denn aus meinen Stu­denten werde, fragte ich. Es handle sich ja wohl, wenn sie richtig informiert sei, nur noch um einen Studie­ renden, entgegnete die Vizepräsidentin trocken, und damit hatte sie natürlich recht. Am Semesteranfang war nur eine Handvoll Studenten im Seminar erschie­ nen und nach drei Wochen lediglich Dschamīl üb­riggeblieben. Wir hatten weitergemacht, als wäre dasganz normal. Um ihn, einen syrischen Flüchtling, den ich für begabt hielt, tat es mir leid. Dennoch hatte ich genickt, und damit war das Gespräch beendet gewesen. Als der Brief aus Leuk kam, hatte ich ohne nachzuden­ ken gepackt, um die Stadt zu verlassen.

Ein kalter Wind fuhr mir ins Gesicht und unter das Hemd, als ich die Balkontür öffnete und ins Dun­ kel hinaustrat. Der See eine opake schwarze Fläche. Ich hielt mich an der Brüstung fest, legte den Kopf in den Nacken, suchte die Sterne über dem Haus, musste an den Falken denken, den ich am Morgen gesehen hatte, und erinnerte mich wieder daran, wie verständnislos
Tony Soprano seine Therapeutin ansieht, als sie seufzt: The falcon cannot hear the falconer. Things fall apart. The centre cannot hold. Lange habe ich nicht begriffen, dass meine Generation die letzte ist, die im amerikanischen Jahrhundert geboren wurde, dessen Ende Joan Didion in jenem Buch beschreibt, dem sie diese Verse von Yeats voranstellte. Der Falke hört den Falkner nicht. Die Dinge zerfallen. Die Mitte kann nicht halten. Das erste Mal im Kino war ich 1977, Star Wars, und als ich dreißig Jahre später, im siebten Teil, den zerstörten Sternenkreuzer aus jenem ersten Kinofilm wiedersah, begriff ich, dass dies die Trümmer meiner Jugend wa­ ren, die nun in einer neuen Gegenwart herumlagen. Die Ruinen einer Welt, an deren Zerstörung meine Generation Anteil hat. Wir haben Schuld an dem, was jetzt geschieht. Wie fasziniert wir waren von Lyotards Abgesang auf die großen Erzählungen. Wie begeistert wir Nietzsche zitierten, die Wahrheit sei ein Heer von Metaphern. Was uns interessierte, war der Raum von Freiheit jenseits jeder Moral. Doch die Klugheit des Ästhetizismus ist immer schon auch seine Dummheit gewesen.

Ich leerte die Neige aus der Flasche ins Glas und trank den letzten Schluck. Aber wann, fragte ich mich, ist meine Jugend, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hätte, denn zu Ende gegangen? Vielleicht in jener Silvesternacht des Jahrtausendwechsels in Rom, es war warm, der Ocker der Häuser glomm, und ich war sechsunddreißig Jahre alt. Einzig besorgte uns, die Computer könnten durch Programmierfehler Schwie­ rigkeiten mit der Zeitumstellung haben. Das Pantheon im Lachen der Menschen aus ganz Europa, das bald eine gemeinsame Währung einführen würde. Nichts wussten wir von all dem, was kommen würde. So fern diese Welt heute. Weiße Papierballons, erleuchtet von kleinen Kerzen, glitten in Schwärmen lautlos durch den Nachthimmel über die Stadt, und wir, an der Ba­ lustrade aus samtenem Travertin, sahen staunend zu, ein Glas Sekt in der Hand, vor uns die Stadt mit ihren Kuppeln. Ich erinnerte mich an Papageien, die keckernd durch die Nacht flirrten, grüne Sittiche, deren Vorfahren irgendwann ihren Besitzern entflohen sein mussten und am Tiber heimisch geworden waren.

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Dichtes Brombeergestrüpp hatte das Fenster des Arbeitszimmers im Keller zugewuchert, irgend­ wann hat Vater wohl aufgehört, die Büsche zurückzu­schneiden, konnte wohl auch nicht mehr hier herunter. Im Dämmerlicht an der Wand das kolorierte Foto mei­ nes Onkels Albert, des jüngsten Bruders meines Vaters, in Wehrmachtsuniform. Die Erzählung seines Todes 1942 in Russland war in meiner Kindheit die erste Ima­ gination einer großen Ferne. An den Rahmen gesteckt ein altes Passbild meiner Mutter und eines der Groß­ eltern, vielleicht aus Anlass ihrer goldenen Hochzeit. Der Großvater im Dreiteiler mit Krawatte, die Groß­ mutter mit dünnem Haar und Dutt in schwarzer ober­ hessischer Tracht. Der Raum hat so gar nichts von dem Alpengepränge des Wohnzimmers, und doch hielt sich mein Vater, der sich dieses Haus eigentlich nicht hatte leisten können und den Rest seines Leben dafür ar­ beiten und sparen musste, am liebsten hier unten auf. Wie, fragte ich mich, hatte der Traum wohl ausgesehen, den er, der nicht Ski fuhr und die Berge immer nur von der Terrasse aus betrachtete, sich hier unbedingt hatte verwirklichen wollen?

Das Reißbrett, das den kleinen Raum fast voll­ ständig ausfüllte, ist eines der wenigen Dinge, die Va­ter mitnahm, als die Eltern das Haus verkauften, in dem ich aufgewachsen bin, und hierher zogen. Seit ich denken kann, waren darauf die Konstruktionszeich­ nungen der Maschinen befestigt, mit denen sich mein Vater gerade beschäftigte, nun war das Blatt darauf leer. Rechts unten das Signet der Firma, für die er sein Leben lang gearbeitet hat: ein Anker in einem Kreis, die Jahreszahl 1731 und darüber BUDERUS’SCHE EISENWERKE. Diese Zeichnung ist nur zu den aus beigefügten Unterlagen ersichtlichen Zwecken bestimmt und dem Empfänger zur persönlichen Verwendung anvertraut. Sie darf deshalb nicht vervielfältigt und nicht ohne Zustimmung dritten Personen überlassen oder wei- tergegeben werden. Ich setzte mich an den Schreibtisch und hörte die Stille, die der Vater gehört haben muss, wenn er hier unten war, eine innere Stille, die in mir dröhnte, und erinnerte mich an jenen Moment eine Weile nach seinem Tod, als ich plötzlich spürte, wie etwas durch mich hindurchschmolz, durch mich und durch den Raum, in dem ich in diesem Augenblick war, und etwas von großer Schwere tropfte heiß ins Dunkel hinab, schmerzhaft und endgültig.

Ich war nicht hier, als er starb, und kam auch nicht zur Beerdigung, ließ alles von dem Notar organisie­ ren, der sich schon lange um die Belange meiner El­tern gekümmert hatte. Er löste das Konto auf, und ein paar Wochen später erhielt ich eine Überweisung aus der Schweiz, die gänzlich abstrakte Summe einer Rechnung, die ohne mich gemacht worden war. Das
Versprechen, ihn zu besuchen, das ich meinem Vater immer wieder gab, als er mich nach dem Tod der Mut­ ter öfter anzurufen begann, war nicht ernst gemeint, und da Arbeit ihm stets das Wichtigste gewesen war, konnte ich mich auf sein Verständnis für meine Aus­ reden verlassen. Ohne dass es eine medizinische In­ dikation gegeben hätte, wurde er in Jahresfrist selbst zum Pflegefall. Wieder versprach ich zu kommen und tat es nicht. Irgendwann mochte er nicht mehr telefo­ nieren, seine Pflegerin rief mich dann gelegentlich per Skype an und hielt Vater die Kamera vor das Gesicht, was ihm unangenehm war. Als ich seinen eingefallenen Greisenmund zum ersten Mal sah, ertrug ich den An­ blick kaum. Die letzten Zähne waren ihm ausgefallen, und das neue Gebiss wollte nicht halten. Ich verstand kaum, was er sagte, starrte nur auf seine Zunge, die gespenstisch gewachsen zu sein und im Mund keinen Platz mehr zu finden schien. Ununterbrochen rotierte sie über die Lippen und die eingefallenen Wangen. Bei unserem letzten Gespräch war der verwaschene Frot­ teepullover, den er trug, voller Speisereste. Die Hör­ geräte hielten offenbar nicht in den Ohren, sondern baumelten neben den Ohrläppchen, die viel größer geworden waren, wie die Zunge, dachte ich, wie bei Toten.

Ich würde nicht mehr erfahren, was ihm die­ses Haus bedeutet hatte. Traurig zog ich die oberste Schublade des Schreibtisches auf. Eine Plastiklupe mit eingebautem Lämpchen, ein Locher, ein halbes Dutzend Lesebrillen mit Etuis, ein Tesaroller aus ro­ tem Plastik, ein billiger Taschenrechner mit großen Tasten, ein stählernes Rollmaßband, ein Nagelknip­ ser, Eukalyptusbonbons, ein alter Füller, Heftstreifen, einige Münzen, eine Pappschachtel mit Werbekugel­ schreibern, eine Blechschachtel der Firma Schwan­Sta­ bilo mit Bleistiften, ein Klebestift, eine durchsichtige Dose mit Büroklammern, ein Durchschreibbuch, eine Pappschachtel mit Reißbrettstiften, eine leere lederne Brieftasche mit grünem Seidenfutter, Radiergummis, eine Schere, vertrocknete Kastanien, ein Tütchen koh­ lensaures Natron, ein goldenes Federmesser, ein halbes Dutzend Schlüssel, alle ordentlich mit kleinen Anhän­ gern versehen, beschriftet mit der Handschrift meines Vaters.

Und zwischen all dem Kram plötzlich ein Schäch­telchen, das mir bekannt vorkam. Ich nahm es aus der Schublade und öffnete den Deckel. Eine antike Scherbe lag darin, und sofort erinnerte ich mich wieder, wie der Vater sie mir geschenkt und wie ich sie als Kind sorg­ sam in dem Schächtelchen auf Watte gebettet hatte, als wäre sie kostbar. Dabei war es lediglich eine Replik aus dem Shop des Archäologischen Museums in Sion, der Kantonshauptstadt, in dem wir einmal waren. Meine Eltern gingen nie mit mir ins Theater oder ins Konzert, Kultur spielte für sie keine Rolle, insofern war jener Museumsbesuch während eines Sonntagsbummels et­ was Besonderes gewesen. Wie gebannt ich die Scherbe damals in der Vitrine betrachtet und den Begleittext gelesen hatte. Der Krug, zu dem sie einmal gehörte,stammte aus dem dritten oder vierten Jahrhundert, aus Karthago oder Leptis Magna, ich erinnerte mich nicht mehr genau, jedenfalls aus einer jener prunk­ vollen römischen Städte am Rande der afrikanischen Wüste, wo die Karawanen der Garamanten einliefen mit dem Nachschub an Löwen und Elefanten für die römischen Arenen. Gefunden aber hat man sie hier im Rhonetal, in der Asche einer römischen Feuerstelle, die man unter der Kirche Sankt Stephan in Leuk ausge­ graben hat. Ich drehte die Scherbe in der Hand und erinnerte mich, wie ich mir als Junge jenes nächtliche Feuer vorzustellen versucht hatte, im rauen Wind. Auf den Gipfeln erster Schnee. Woher kamen diese Men­ schen, hatte ich mich staunend gefragt, wohin waren sie unterwegs? Was wussten sie vom marmorglitzern­ den Leptis Magna am südlichen Meer? Eine steckna­delkopfkleine Sehnsucht spürte ich da zum allerersten Mal.

Krakau an einem Wintertag, zwanzig Jahre später, die knarrenden Dielen der ungeheizten Räume im ver­ blichenen eiskalten Glanz des ehemaligen Adelspalais, die wenigen Besucher in Mänteln, flüsternd. Endlich, im hintersten Kabinett, Leonardos Dame mit dem Hermelin. Die Fenster des Raums verhängt, vor dem Bild ein Rokokosesselchen, vergoldetes Holz, verschossener Samt. Für den Herzog von Mailand gemalt, dreihun­ dert Jahre später vom Fürsten Czartoryski gekauft und nach Polen gebracht, während eines Aufstands nach Paris geschickt, zurückerworben, im Zweiten Welt­ krieg nach Berlin verschleppt, als Wandschmuck der Residenz des Generalgouverneurs Frank wieder in Krakau, beim Rückzug der Deutschen mitgenommen, von amerikanischen Truppen in Bayern entdeckt und schließlich zurückgegeben. Ich schrieb über die Dame mit dem Hermelin, es war ein Text um jene steckna­delkopfkleine Sehnsucht. Leptis Magna am südlichen Meer.

Vielleicht, dachte ich und betrachtete die Scherbe in dem Kästchen, hat mit ihr tatsächlich alles begon­ nen, meine Flucht aus dem Elternhaus und das Schrei­ ben, das mich auf meiner Suche zu dem hat werden lassen, der ich nun war. Doch was war es, das ich die ganzen Jahre gesucht hatte? Monterchi fiel mir in je­ nem Moment wieder ein. Es war sehr heiß, an der kurvenreichen Straße von Arezzo durch die Berge sa­ ßen afrikanische Prostituierte auf ihren Klappstühlen, und als ich schließlich ankam, vibrierten auf dem ver­ wahrlosten Friedhof die verblichenen Plastikblumen in der Hitze. Ich stieß die alte Holztür der Friedhofs­ kapelle auf, und der Blick von Piero della Francescas Madonna del Parto fiel auf mich. Jedes Fresko durch­ scheint die Wand, auf die es gemalt wird. Das Bild ist nicht ablösbar von seinem Ort. Es ist, begriff ich da zum ersten Mal, wonach wir uns so sehr sehnen: das Ende unserer Reise. Eine Hand ruhig auf dem hoch­ schwangeren Bauch betrachtete die Madonna mich, so stolz wie alle Mädchen in jener Gegend, ich hatte ihr Ebenbild auf der kleinen Piazza gesehen, Jugend und Heiligkeit flirrten umeinander. Noch immer, hieß es, kämen Frauen hierher, um sich von der Madonna ein Kind zu erbitten. Um das Gefühl der Beschämung, das ich in jenem Moment in mir spürte und das mit dem Kunstwerk ebenso viel wie mit mir selbst zu tun hatte, kreiste der Text, den ich darüber schrieb.

Als ich Jahre später einmal wiedergekommen war, hatte ich die Kapelle verschlossen gefunden. Die Ma­ donna wohne hier nicht mehr, hatte mir die alte Frau zwischen den Gräbern erklärt. Man hatte sie von der Wand genommen, restauriert und in der ehemaligen Schule des Ortes hinter Panzerglas gehängt. Der Raum leer, klimatisiert und abgedunkelt, kein Heiligtum mehr, ein Käfig, die Jungfrau durch Spots gleichmäßig ausgeleuchtet. Es war mir peinlich gewesen, sie anzu­sehen.

Ich starrte in das Brombeergestrüpp vor dem Fen­ster. Es war gewiss richtig gewesen, sich aus alldem hier zu befreien und wegzugehen. Aber eine Ankunft irgendwo hat es nicht gegeben, dachte ich bitter. Ein­ mal flog ich in die USA, zuerst nach Dallas und dann weiter in einer kleinen Maschine nach El Paso, von dort mit einem Leihwagen über den menschenleeren Highway durch die texanische Wüste, um Donald Judds Skulpturen zu sehen. Doch als ich in dem al­ten Hangar der US­Army in Marfa vor ihnen stand, geschah etwas Seltsames. Ich erkannte Judds Kuben aus glänzendem rostfreiem Stahl, die mir aus Museen und Katalogen vertraut waren, nicht wieder. Sie waren da und waren es zugleich nicht. Verunsichert ging ich zwischen ihnen umher, und es dauerte lange, bis ich begriff, dass das, was sich flirrend über diese doch so eindeutigen Objekte gelegt hatte, mein eigener Blick war. In ihm waren sie plötzlich zu einer zwingenden Antwort auf die Landschaft geworden, durch die ich gefahren war. Es war schwer, darüber zu schreiben. Über jene Empfindung einer Lücke in der Schöpfung, die diese Kunstwerke besetzten und die ich nur zu se­ hen in der Lage war, weil dieser Highway mich direkt auf sie zugeführt hatte.

Ich zog die zweite Schublade des Schreibtischs auf. Darin all die Arbeitsutensilien meines Vaters, die ich aus meiner Kindheit kannte, und etwas von jener Empfindung in Marfa war plötzlich wieder da, wäh­ rend ich sie betrachtete. Da war der Tuschekasten mit den Füllern, der Glasfaserradierer, der Dreikantmaß­ stab mit den sechs Skalen 1:100, 1:50, 1:20, 1:10, 1:5, 1:2,5 und der weiße Rechenschieber. Das abgestoßene schwarze Futteral, aufgeprägt in Gold E.O.RICHTER & Co PRÄCISION VaP, wenn man einen kleinen Messinghaken seitlich herauszog, konnte man es auf­ klappen, gebettet in dunkelroten Samt ein Reißzeug mit verschiedenen Ziehfedern und Zirkeln. Lineale, Zeichenschablonen mit Kreisen, Ellipsen, Punkten, die Schieblehre meines Vaters, eingeritzt in den glän­ zenden Werkzeugstahl WILLI HETTCHE. Werk­ zeuge und Kunstwerke. Dinge und Körper. Der Tag verdämmerte im Gestrüpp vor dem Fenster, und zum ersten Mal spürte ich Trauer über den Tod meines Va­ ters. Ich rührte mich nicht, nur die Tränen liefen mir über die Wangen.

Krakau, Monterchi, Marfa. Immer wieder sagte ich mir diese Namen vor, als läge irgendein Trost in ihrer Wiederholung. Und ich dachte an die Texte, die ich über diese Orte geschrieben, an die Kunstwerke, die ich dort gesehen hatte, und an das Leben, das ich ihnen verdankte. Das lächelnde Gesicht der Vize­ präsidentin huschte durch meine Gedanken. Io sono una forza del passato. Aber stimmte das denn? Galt tatsächlich all das nicht mehr, woran ich immer ge­ glaubt hatte? Jene stecknadelkopfkleine Sehnsucht.
Werkzeuge und Kunstwerke. Dinge und Körper. Die Erinnerung an meine erste Begegnung mit Dschamīl flackerte auf, die in Wahrheit nicht unsere erste Be­ gegnung war. Wie er mich im Seminar angelächelt und seinen Namen genannt hatte. Damit, dachte ich, hatte alles begonnen. Und plötzlich kam mir der Torso im Archäologischen Museum von Agrigent wieder in den Sinn. Lange hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Auch über ihn habe ich geschrieben.

Der Torso ist ganz Stückwerk, wie zur Probe zusam­ mengefügt, ein Betonsteg verbindet Schulter und Kopf, die Arme dicht an der Achsel abgetrennt, die Bruch­ linien zwischen Leiste und rechtem Oberschenkel schmerzhaft sichtbar. Keine Hände, keine Schenkel, keine Füße. Der Kopf spitz behelmt. Der angesetzte rechte Oberschenkel deutet ein gebeugtes Knie an, man musste sich das rechte Bein angewinkelt vorstel­ len und einen Schild in der linken, nach hinten em­ porgereckten Hand. Kraftlos müht dieser Soldat sich, seinen Rücken zu schützen. Eine letzte Verteidigungs­ anstrengung. Ein sterbender Krieger, vierhundertacht­ zig vor Christus. Längst unwichtig geworden, wer er war, woher er kam, wofür er kämpfte. Er erwartet für immer den letzten, den tödlichen Schlag. Blaustichig wie das ägäische Meer sah mich von der Wand der ko­ lorierte Blick jenes Jungen in Wehrmachtsuniform an, der mein Onkel gewesen ist. Zwischen den Fingern drehte ich die Scherbe.

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Aus dem steil ansteigenden Wald war das Tropfen von Wasser zu hören, ein gleichförmiges helles Geräusch, fast ein Plätschern, aus dem nassen moo­sigen Gestein, in das sich die armdicken Wurzeln der Lärchen und Tannen krallen. An den schattigen Stellen am Rand des Parkplatzes Placken schmutzigen Schnees, von denen dünne Rinnsale über den Asphalt liefen. Ich wollte gerade den Funkschlüssel des Hyundai zücken, den ich bei Sixt gemietet hatte, als mein Blick auf die zugewachsenen Garagen am Rande des Parkplatzes fiel. Dichtes Berberitzengestrüpp hatte sich vor den Toren ausgebreitet, ich trat es zu Boden und rüttelte an dem Tor der Garage, die zu unserem Haus gehört. Muffige Luft, in der ein Rest von Benzin­ und Ölgeruch sich gehalten hatte, schlug mir entgegen, als das Tor mit einem Quietschen der alten Federn hochschwang.

Der aufrechte Kühler mit den senkrechten Stre­ben und den runden Scheinwerfern erinnerte tatsäch­ lich an einen Jeep, wie der Vater den Wagen immer genannt hat, den er Ende der siebziger Jahre hier für die Berge gekauft hat, obwohl es sich um einen Suzuki handelte. Die Reifen hatten noch Luft, Öl­ und Was­serstand waren normal, auf dem Boden keine Spuren einer Undichtigkeit. Vater hatte gewissenhaft die Bat­ terie abgeklemmt, ich verband die Kontakte, stieg ein, fand den Zündschlüssel hinter der Sonnenblende und startete den Motor. Unwillig schüttelte er sich, doch dann lief er rund. Das Lenkrad dünn und groß, lang und dünn auch die beiden Schalthebel auf dem rohen Blech des Mitteltunnels, daneben der armlange Hand­ bremshebel. Ich gab Gas und sah zu, wie die Nadel des analogen Drehzahlmessers ausschlug, während die Tankanzeige langsam gen Maximum wanderte. Wie lange ich so ein Auto nicht mehr gefahren war. Kein Bildschirm und keine Stimme, die mir sagte, wel­ chen Weg ich einschlagen musste, nicht einmal eine Servolenkung. Ich roch den lang vergessenen Geruch bleihaltigen Benzins, legte den ersten Gang ein, fuhr ins Dorf hinab, und wie in meiner Kindheit der Vater parkte ich direkt vor der Kirche. Alles schien wie frü­her, nur, dass niemand zu sehen war und Stille auf dem Dorf zu lasten schien. Über dem verlassenen Platz mit dem Brunnen orange die MIGROS­Reklame.

Stille ist das, was wir spüren, wenn etwas unsere Träume zerreißt. Das Mädchen im Laden mühte sich sehr, sie auszuhalten. In seinem weißen Hoody und mit großen goldenen Kreolen, viel Wimperntusche um die schwarzen Augen, die dicken Haare mit einem
strengen Mittelscheitel zum Pferdeschwanz gebändigt, rührte es sich nicht, während ich schweigend einen Einkaufskorb nahm und zusammensuchte, was ich brauchte, Nudeln, Zwiebeln, Milch, das Angebot war klein, doch es gab Alpkäse und die Hauswürste, die ich aus meiner Kindheit noch kannte, frischen Ziger, Zucchini und Tomaten. Auch Toilettenpapier, Kaffee, Wein packte ich in den Korb, als wollte ich nie mehr ins Tal hinab, und als ich alles auf den Verkaufstresen legte, fragte ich das Mädchen, wie es heiße.

»Serafine.«

Es sah mich abwartend an.

»Es ist so still hier im Dorf.«

Nur sie und die Mutter seien noch da, sagte das Mädchen leise, dem es schwerfiel, Hochdeutsch zu sprechen. Nach dem Bergsturz seien alle ins Tal hin­ unter. Weshalb sie hiergeblieben seien, fragte ich. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und zog stumm mei­ nen Einkauf über den Scanner. Wie alt sie sei.

»Fünfzehn«, sagte sie, nannte dann den Betrag, den die LED­Anzeige der Kasse zeigte, und fragte, ob ich ein Säckli wolle. Ich nickte und bezahlte. Während ich die Sachen in der Tüte verstaute, fragte ich noch, was mit dem Internet los sei.

»Es gibt kein Netz hier in den Sonnenbergen.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf und wollte ge­rade etwas erwidern, als jemand meinen Namen rief.

»Thomas, bist du das?«

Eine Frau war durch den Vorhang hinter dem Tre­ sen geschlüpft. Im ersten Moment sicher, sie nicht zu kennen, ganz fremd dieses Gesicht, erinnerte ich mich ebenso plötzlich, dass das hier der Laden ihres Vaters war. Wie konnte ich das nur vergessen. Sicher, ihren Namen nicht mehr zu wissen, fiel er mir im selben Moment, als öffnete sich eine Tür, wieder ein.

»Marietta!«

Sie kam lachend um die Theke, und wir umarmten uns. Im Augenwinkel sah ich, das Mädchen musterte uns skeptisch dabei.

»Damals war ich größer als du!« Marietta betrach­ tete mich lange. »Erinnerst du dich? Ich war mit mei­ner ganzen Familie im Sommer oben. So viele Kinder waren wir damals.«

Die schwarzen langen Haare ihrer Tochter hätten mich zu ihr führen können, dieselben schweren Haare hatte Marietta als Kind gehabt. Sie hatte sie immer of­ fen getragen und länger als die anderen. Nun waren sie grau. Ich suchte in ihrem Gesicht nach dem der Kinderfreundin und erinnerte mich plötzlich an einen ganz bestimmten Sommertag, stürzte kopfüber durch den Tunnel der Jahre in die Vergangenheit zurück, von den Erinnerungen weitergelenkt bis hinab auf ihren tiefsten, dunklen Grund, sah ihr ganz junges Gesicht wieder vor mir, atemlos und mit geröteten Wangen wie nach einem langen lachenden Lauf. Sie flüsterte meinen Namen. Ich hielt ihre Hand. Manchmal hatte mein Vater mich und die anderen Kinder im Sommer zum Schwimmen gefahren, meist war die Rückbank voll besetzt gewesen. Doch ein Mal, erinnerte ich mich jetzt, waren wir nur zu zweit, Marietta und ich. Es war sehr heiß an jenem Tag, alle Fenster waren offen bei der Fahrt die Serpentinen hinab ins Tal, und da war dieser Geruch nach Benzin und die Nähe zu dem Mädchen, die mich so schüchtern machte, dass ich kein Wort herausbekam. Wie wir froren im eiskalten Gerundensee. Ihr Badeanzug grün wie das Wasser. Der Vater auf seinem Handtuch sah uns zu. Später würde er uns Eis kaufen.

»Das mit deinem Vater hat mir sehr leidgetan. Ich hab ihn immer gern gehabt.«

»Er dich auch.« Ich musste mich räuspern. Jedes Mal habe er am Telefon davon erzählt, wenn er ihr zu­ fällig begegnet sei.

»Besser für ihn, so, wie es ihm in letzter Zeit gegan­gen ist.« Sie sah mich unsicher an. »Schade nur, dass du nicht zur Beerdigung kommen konntest.«

Ich nickte.

»Du willst jetzt sicher das Haus verkaufen«, sagte sie. »Überleg es dir doch noch einmal. Grund und Bo­ den gibt man nicht weg.«

Sie wusste nichts von meinem Leben. Der grüne Badeanzug ging mir nicht aus dem Kopf. »Serafine hat mir erzählt, es wohne niemand mehr hier oben?«

»Ja. Alle Dörfer sind jetzt verlassen, alle sind weg­ gezogen nach dem Bergrutsch, zuerst die Fabrikarbei­ ter der Lonza, die ja unter dem Wasser begraben ist, und dann auch die anderen.«

»Und du?«

»Ich nicht.«

Als handle es sich um eine Intimität, über die man nicht sprach, zögerte ich einen Moment, aber dann fragte ich sie doch: »Hast du es gesehen?«

Ja, sagte sie leise, sie habe von hier oben alles ge­ sehen in jener Nacht. Doch nicht vergessen könne sie, was sie gehört habe. Ihr Blick war so traurig, als bäte sie mich um Entschuldigung.

»Iär miässät eib mäldu!«, platzte es da aus Serafine heraus.

»Melden?« Ich drehte mich überrascht nach dem Mädchen hinter der Kasse um und freute mich über das Ihr. So hatten die Kinder aus dem Dorf auch zu meiner Zeit die Erwachsenen angesprochen, nie hätte ich gedacht, dass sie das noch immer taten.

»Ja, Iär miässät«, sagte es eindringlich. »Bitte!«

»Fiineli!«, ermahnte Marietta ihre Tochter.

Ich nahm die schwere Tüte und lächelte ihr zu. »Besuchst du mich mal?«

»Sie hat recht, Thomas«, sagte sie ernst, ohne auf meine Frage zu antworten.

Ich blieb in der Tür stehen. Bei wem ich mich denn melden müsse.

»Bim Jesko Zen Ruffinen.« Das Mädchen sah mich bittend an.

»Der hat mir geschrieben. Deshalb bin ich hier.«

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Es ist recht sehr Nacht geworden. Kleist, Raabe, Benn. Essays.

  Herausgegeben von Thomas Hettche. Mit Beiträgen von Lukas Bärfuss, Aris Fioretos, Durs Grünbein, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Olga Martynova, Ulrich Peltzer, Monika Rinck, Sabine Scholl Katharina Schultens und Ingo Schulze. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022

In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. So beginnt die Erzählung Das Erdbeben in Chili. Es ist der erste Text Heinrich von Kleists, der gedruckt wurde, 1807, im damals sehr populären Morgenblatt für gebildete Stände. Kleist war dreißig Jahre alt .

Obwohl er darin von einem konkreten historischen Ereignis erzählte, verwies der junge Autor die Zeitgenossen doch unverkennbar auf eine andere, ungleich größere Naturkatastrophe . Nämlich auf jenes Erdbeben, das am 1 . November 1755 zusammen mit einem Großbrand und einem Tsunami die portugiesische Hauptstadt Lissabon fast vollständig zerstörte und dessen Erschütterungen über die Iberische Halbinsel hinaus noch in Frankreichs zu spüren waren. Mit 30000 bis 100000 Todesopfern ist es eine der verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte . »Alles«, schrieb damals der fassungslose Immanuel Kant, »was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen neh- men, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen .«

           Die Nachricht dieser Katastrophe verbreitete sich in Wideseile durch ganz Europa, löste hitzige Debatten unter den Philosophen der Aufklärung aus und zerstörte für immer den Glauben, der Mensch lebe in einer von Gott gut eingerichteten Welt. Was bleibt und was hilft nach diesem Verlust? Literatur . »Eine solche Erzählung«, hoffte Kant, »würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können . Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen.«

Doch ganz so einfach ist es nicht mit den »geschickteren Händen«. Ulrich Peltzer stellt in seinen Frankfurter Poetikvor- lesungen kategorisch klar: »Schreiben ist kein therapeutischer Akt .« Und auch diese genuin zur Moderne gehörende Verwei- gerung der Literatur hat, wenn man so will, mit dem Erdbeben von Lissabon zu tun, denn mit dem Glauben an eine gut einge- richtete Welt endete auch die Bereitschaft der Literatur, sich in Dienst nehmen zu lassen, für welche Sache auch immer . Sie zog sich von der Bühne der Welt zurück in das Vieraugengespräch von Autor und Leser . Es war die Geburt der intimen bürgerlichen Lektüre aus dem Geist der Katastrophe .

Die téchne des Lesens, die damit sich zu entfalten begann, ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt, den Text und seinen Leser . Sie erschafft erst den Raum, in dem Literatur im emphatischen Sinn sich ereignen kann. Das war die Hypothese, der ich von 2018 bis 2020 in einer Veranstaltungsreihe der TU Berlin nachging. An jener Hochschule also, an der Walter Höllerer Ende der 50er-Jahre sein Institut für Sprache im technischen Zeitalter gründete, ein Name, der noch immer treffend den Rahmen benennt, in dem jede Beschäftigung mit Literatur in unserer Gegenwart stattfindet, zumal heute, da im Medienwandel, den wir erleben, das Verständnis für die Geschlossenheit eines literarischen Textes, das Wissen um seinen Traditionsraum, die Techniken seiner hermeneutischen Aneignung zunehmend verloren gehen. Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili, Wilhelm Raabes Zum wilden Mann und Gottfried Benns Gehirne waren die kanonischen Texte, an denen wir drei Jahre lang im Seminar in diesem Sinn eine Emphatische Lektüre – so der Titel der Veranstaltungsreihe – erprobten, und zwar gemeinsam mit Schriftstellern, die ich einlud, ihre eigenen Leseerfahrungen in Form jener Essays beizusteuern, die dieser Band versammelt.

Weshalb gerade diese drei Texte? Weshalb Kleist? Weil er, bevor er in das Königsberg des kurz zuvor gestorbenen Kant reiste, dessen Philosophie ihn in eine tiefe Krise gestürzt hatte, an seine Verlobte schrieb: »Wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins u seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich u die Seele u das ganze Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht giebt – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit for- dern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei . Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten u mit Andacht ißt er ihn auf .«

Das ist die Disposition, aus der heraus dieser Spross einer preußischen Offiziersfamilie, der gegen die französischen Revo- lutionstruppen gekämpft und überstürzt seinen Abschied genommen, ein Studium begonnen und abgebrochen, sich verlobt und die Verlobung wieder gelöst, Goethe seine Penthesilea auf den »Knien seines Herzens« überreicht und Zurückweisung erfahren hatte, der nach Frankreich gereist war, um sich Napoleon anzuschließen, und zurückgeschickt wurde, dieser gescheiterte und immer weiter scheiternde Kleist, der sich schließlich, vier Jahre nach dem Erscheinen des Erdbebens in Chili, erschoss, das Scheitern einer Liebe in einer scheiternden Gesellschaft erzählt.

Er beginnt mit der Geburt eines Kindes, die ein unstatthaftes Liebesverhältnis ans Tageslicht bringt, erzählt die Verhaftung des Kindsvaters und wie das Liebespaar durch das Erdbeben glücklich Tod und Gefängnis entkommt . Er schildert dann jenen Moment, in dem alle gesellschaftlichen Schranken ebenso einstürzen wie die Mauern der Stadt, und wie die beiden Liebenden in der Atempause einer Nacht, inmitten der Katastrophe, einen utopischen Moment des Friedens erleben . Doch schon mit dem Dankgottesdienst der Überlebenden am nächsten Tag konstituiert sich die Gesellschaft neu, und Kleist lässt das Liebespaar von einem rasenden Mob auf den Stufen der verschont gebliebenen Kathedrale töten.

Man liest das atemlos und zugleich irritiert. Die Erzählung, durch die Kleist’schen Konjunktivkonstruktionen kühl und distanziert, scheint keinerlei Deutung geben zu wollen für das, was sie schildert. Die Figuren scheinen keine Innenwelt zu haben und weisen unser Bedürfnis nach Identifikation ab . Die Handlung, die Zufälle auf Zufälle zu häufen scheint, ent- täuscht unsere Erwartungen. Und so bleiben wir am Ende der Geschichte ergriffen, doch seltsam ratlos zurück und wüss- ten noch nicht einmal zu sagen, was eigentlich ihr Thema ist: die Brutalität der Natur und des Schicksals? Die Feier eines Rousseau’schen Naturzustandes? Die Grausamkeit der Menschen? Der Triumph der Liebe? Oder doch jener der Moral? Wovon nur handelt dieser monströse Text?

In seinem Essay Wasser, Gänsehaut notiert Aris Fioretos zur Bildfolge eines antiken griechisches Gefäßes, sie enthalte alles, »was man sich von einem Roman wünschen kann. Es finden sich darauf Spannung, Schönheit, Verstecke, Besinnung, Präzision, jäher gewaltsamer Tod und eine überraschende Geburt .« Besser lässt sich Kleists Erdbeben in Chili nicht cha- rakterisieren, zumal Fioretos anhand des Vasenbildes auf eine Lektüreempfindung zu sprechen kommt, die jener des Kleist-Textes verblüffend gleicht: Ein Roman sei wie kaltes Wasser, das unsere Haut berührt, der Schauer beim Lesen gleiche ihrer physiologischen Reaktion . Man kann von einer sinnlosen Katastrophe nicht sinnstiftend erzählen, ließe sich so Kant entgeg- nen, denn dann erreicht man die Wirklichkeit des Katastrophischen nicht.

Und katastrophisch ist bei Kleist alles und vor allem die Liebe. Es ging diesem Dichter um Literatur, die ernst nimmt, nicht mehr entscheiden zu können, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, und die trotzdem an der Mög- lichkeit des Erzählens festhält. Das Zwischenreich, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz, in dem die Literatur seit dem Erdbeben von Lissabon ihren Ort hat, manifestiert sich bei Kleist in seinen Figuren. Alle können sie, wie Max Kommerell schreibt, »Rätsel sein für sich, für einen Partner, für die Umwelt, für uns«. Dieses Rätsel aber, das wir uns notwendig selber sind, wird bei Kleist nicht gelöst, sondern ausgehalten. Im Erdbeben in Chili kulminiert dieser Rätselcharakter in einem einzigen, in dem berühmten allerletzten Satz der Erzählung. Kleist lässt jenes Kind der Liebe überleben, von der er erzählt hat, doch nur zu dem Preis, dass ein anderes irrtümlich an seiner Stelle erschlagen wird. Und dessen Vater, der vergeblich versucht hat, die Liebenden vor dem Mob zu retten, und dessen Kind man gerade den Kopf an einem Kirchenpfeiler zerschmettert hat, nahm hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.

Freuen? Nach dem Tod des eigenen Kindes? Und müssen? Schaudernd beenden wir diese Erzählung im Wissen darum, nichts zu wissen und doch unendlich viel, das wir nicht in Worte fassen können, verstanden zu haben .

Das aber ist eine Empfindung, die uns, gleichgültig, aus welcher Epoche der Text stammt, bei dem wir sie haben, Modernität bedeutet. Eine Spur verläuft, quer zu den Gräben literaturgeschichtlicher Perioden, durch die Zeit, und wer diese Fährte aufnimmt, wird belohnt mit der Erfahrung, dass es Texte gibt, die einen mit unerbittlicher Neuheit treffen . Wir halten sie auf eine bestimmte Weise für glaubwürdig, denn sie geben uns die Gewissheit, etwas über die Welt zu erfahren, das wir vorher nicht wussten. Das ist wirklich geschehen, sagt der Text, es ist nicht ausgedacht, sondern abgenommen von der Wirklichkeit. Glaubhaft wird diese Behauptung durch die Genauigkeit der Erzählung und die Geschlossenheit der Fiktion, die psychologische Stimmigkeit von Figuren und Handlungen und all jene anderen Mittel, die das realistische Erzählen seit dem 19 . Jahrhundert, seit Flauberts Madame Bovary, seit Dickens’ Oliver Twist, Tolstois Krieg und Frieden und Melvilles Moby-Dick, perfektioniert hat.

Roland Barthes war nun der Ansicht, dieser »Wirklichkeitseffekt« entstehe durch »das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt. Das meiste, was wir Erzählung nennen, besteht in der Modulation dieser Bewegung.« Und diese Bewegung gelinge nur, weil ein solches Erzählen geläufige kulturelle Codes verwende, es handle sich dabei, urteilte Barthes abfällig, um ein »Erbrechen der Stereotypen« . Das aber bedeutete, die Anmutung von Realität, die Literatur zu erzeugen imstande ist, wäre nichts als Schein, die Behauptung, die Literatur nähme die Welt in den Blick, nichts als Ideologie.

Aber handelt es sich bei den Modulationen, von denen Barthes spricht, nicht vielmehr um eben jene Rätsel, wie etwa Kleists Erdbeben in Chili sie uns aufgibt? Um das Fantastische, das plötzlich hereinbricht, um Erwartungen, geweckt und schon unterlaufen? Wie sollte ein Schriftsteller wie Kleist nicht wissen, dass Realität weder einfach zu haben noch abzutun ist? Gerade ihm ist sie doch schon immer das, was Kant eine regulative Idee nannte, also etwas, dessen objektives Sein vorausgesetzt werden muss, sich der Abbildung aber entzieht. Das Wissen darum, wie Joseph Vogl es einmal formulierte, dass es »eine Welt oder eine Wirklichkeit da draußen gibt, die sich ungerührt, indifferent, selbstgenügsam, souverän und in völliger Unabhängigkeit von Denkprozessen und Begriffen behauptet«.

Das Reale ist real gerade darin, dass es kontingent und souverän sich der Erzählbarkeit widersetzt, und zwar am offen- sichtlichsten im Moment der Katastrophe, von der die Literatur deshalb nicht müde wird zu erzählen. Jede Katastrophenerzählung ist eine über die Möglichkeiten realistischen Erzählens selbst: »Etwas bricht herein, über die Protagonisten wie über uns Leser . Es bricht herein mit metaphysischer Gewalt; es bricht herein wie ein Teufelssturm, wie das Donnerwetter des Jüngsten Gerichts . Und das, was da hereinbricht, mit Gewalt und Komik, ist der Realismus .«

Daniel Kehlmann schreibt das in seinem Essay über Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann, die 1873 entstand, also ein halbes Jahrhundert nach Kleists Erdbeben in Chili, und uns im zweiten Jahr der Emphatischen Lektüre beschäftigte. Raabe, einer jener deutschen Realisten, die im Vergleich zu ihren Kollegen aus Paris und London als etwas provinziell gelten, weil sie dem Fantastischen so viel Raum geben, lässt seine Erzählung in einer Regennacht vor der Apotheke eines kleinen Städtchens im Harz folgendermaßen beginnen: Wir suchen einfach, wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, dass das ganze Haus widerhallt: wir sind darin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom wilden Mann.

Wir werden so vom Erzähler im Wortsinn in die Geschichte hineingezogen und registrieren das verblüfft, als erklärte uns ein Zauberer seine Tricks oder als würde die vierte unsichtbare Wand plötzlich durchstoßen, die Bühne und Zuschauerraum trennt. Aber: »Wer spricht?«, fragt Monika Rinck. »Wenn es der Erzähler, der ein Bündnis mit seiner Leserschaft eingehen wird, nicht sein kann, bleibt diese Stelle eigenartig leer. Oder ist’s ein Schatten aus einer anderen Welt?« Natürlich ist er das. Jeder Versuch, die Fiktion einer Erzählung zu durchbrechen, indem der Autor von sich selbst spricht, schafft nicht Authen- tizität, sondern nur eine weitere literarische Figur, die, wie alle Figuren, auf eine andere Welt verweist, die zugleich die eigentliche ist. Doch diese Welt liegt im Dunkeln. Es ist recht sehr Nacht geworden, stellt Rache gleich zu Anfang fest .

Allerdings vergisst der Leser jenen seltsamen Anfang schnell wieder und folgt gern einer zunächst ganz biedermeierlichen Geschichte um einen Apotheker, seine Schwester und einen unerwarteten Gast . Doch je mehr Raabe seine Geschichte entfaltet, beginnt er Perspektive gegen Perspektive zu setzen, und plötzlich geht es erstaunlich modern um eine Fabrik für Dosenfleisch in Brasilien, um Kolonialismus und Sklavenhan- del, dann wieder ist von einer Blutschuld die Rede, einem Henker und gar einem Teufelspakt, Gründerzeitökonomie koppelt sich mit Schatzgräberei, Liebigs Chemie mit einem mythischen Schiffsarzt, und wenn am Ende das ganze biedermeierliche Setting in Trümmern liegt, in das uns der Erzähler zu Beginn der Gewitternacht mitgenommen hat, weiß man: Nichts von dem, was einem gerade erzählt worden ist, ist das, was es scheint .

»Es haben wenige meiner kleineren Dichtungen das Publikum so intriguirt wie diese«, hält Raabe lakonisch fest. Das hat mit der Erzählweise dieses Schriftstellers zu tun, der betont, »ein Drittel« dessen, was er erzähle, habe »der Leser selber herauszudenken, zu fühlen und empfinden« . Was nichts anderes bedeutet, als dass wir die Sätze, die wir lesen, in unseren Köpfen ergänzen müssen zur Ganzheit einer Welt . Wenn wir Literatur als Wirklichkeit empfinden, erleben wir insofern eigentlich genau das Gegenteil, nämlich die Übereinstimmung der Erzählung mit jenen Konventionen, die uns vertraut sind, und zwar je mehr, je welthaltiger der Text zu sein behauptet . Weshalb der Realismus sein Versprechen, ein Erkenntnismittel jener Wirklichkeit zu sein, die sich immer entzieht, nur einzulösen vermag, wenn er miterzählt, was zwischen dem Text und uns geschieht, wenn wir lesen.

Und eben das ist es, was Wilhelm Raabe in Zum wilden Mann tut. Sobald sich in der Geschichte ein Element zu sehr mit Bedeutung auflädt und so den realistischen Charakter des Textes zu gefährden droht, zerstreut er in einer erzählerischen Bewegung der Metonymisierung jenen Sinn wieder, den er eben erst etabliert hat, um dann, wenn die Erzählung sich im realistischen Detail zu verlieren beginnt, wieder Prozesse der Bedeutungsaufladung in Gang zu setzen. Was eben jene Modulation beschreibt, aus der laut Barthes das »meiste, was wir Erzählung nennen, besteht«, einen ständigen Abgleich von Sensation und Deutung, von Kohärenz und Kontingenz .

Nichts anderes ist Realismus: Wir konstruieren unsere Welt in Sprache und aus Sprache, aber zugleich gibt es die Welt, sprachlos, ohne uns. Wir können sie nicht erreichen und müssen es doch. Dieses Eingeständnis macht die Modernität von Texten aus, egal wann sie geschrieben wurden. Und weil in der Katastrophe und der Liebe diese unaufhebbare Kluft uns am direktesten berührt, ist Literatur von beidem besessen. Es könne sein, vermutet Olga Martynova in ihrem Essay Warum Straßenbahn? Warum Lissabon?, »dass die Lissabonner, die seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nach und neben der Kata- strophe leben, ein Geheimnis kennen: Es gibt Dinge, die nicht überwunden werden können.«

Die Schönheit von Literatur ist daher immer auch die ihrer Vergeblichkeit. Darum, dass eine emphatische Lektüre sich dies eingesteht, kreisten unsere Gespräche im Seminar auch angesichts des dritten Textes, der uns nach Kleist und Raabe beschäftigte und dessen Konstruktion Durs Grünbein so zusammenfasste:

»Einen Text so zu komponieren, daß man ihn immer wieder lesen wird, um in seine Kammern einzudringen,

um zu begreifen, was da komplex erfaßt wurde,

bis der Leser versteht, daß er hier dasselbe erleben soll

wie beim Gang durch eine Kunstausstellung, ein Museum

mit lauter Bildern, die zum Verweilen einladen

(nur daß Satzkonstruktionen hier das Visuelle ersetzen) .

Also: lauter Bildergefüge . Und einen Kommentator, den Autor,

das moderne Ich, das durch den Ausstellungstext führt .«

Wovon ist die Rede? Von Gottfried Benns Gehirne. Novellen, einem halben Dutzend kurzer Erzählungen, deren erste so beginnt: Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und unerklärlichen Weise erschöpft.

Es ist das Jahr 1916, und wieder ist, seit Raabes Der wilde Mann, annähernd ein halbes Jahrhundert vergangen. Gottfried Benn, Pfarrerssohn aus der Prignitz jenseits der Oder, »wo die Ebenen weit«, hatte sein Medizinstudium in Berlin gerade erst beendet. Vier Jahre zuvor war sein erster Gedichtband Morque erschienen, neun Gedichte, die Skandal machten und heute Schullektüre sind: Kleine Aster, Schöne Jugend, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke. Es geht um Medizin, Körper, Schmerz, Gleich- gültigkeit, Armut und den Tod. Das Nest kleiner fiepender Ratten in einer Wasserleiche, der vom Krebs zerstörte Schoß einer Frau. Er habe die Gedichte während eines Sektionskurses am Klinikum Moabit in einer Nacht aufgeschrieben, erklärte Benn später. Sie machten ihn berühmt wegen ihrer scheinbaren Kälte .

Welche Anstrengung diese Kälte bedeutete, zeigt ein Gedicht Benns über seine Mutter, die in jener Zeit an Krebs starb. Der gläubige Vater hatte verhindert, dass der junge Arzt ihr Leid mit Morphium linderte.

»Ich trage dich wie eine Wunde

auf meiner Stirn, die sich nicht schließt .

Sie schmerzt nicht immer . Und es fließt

das Herz sich nicht draus tot .

Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre

Blut im Munde .«

Zu Kriegsbeginn eingezogen, arbeitete Benn 1916 als Militärarzt in einem Krankenhaus für Prostituierte in Brüssel. Hier – er hörte die Kanonen der Yser-Schlacht von fern – erfand er Rönne, die Hauptfigur seiner Erzählungen, die er uns folgen- dermaßen vorstellt: Das ist Rönne, Arzt, mittelgroß, von gesun- der Konstitution, linkes Augenlid hängt leicht herunter, meistens mißvergnügt, Dyspepsie im Gehirn, Neigung zu Fettansatz und Transpiration. Erkennbar ist dies ein unsentimentales Selbstporträt. Benn sieht uns durch seine Figur hindurch an. Diese Prosa zu lesen, bedeutet, über ihren Verfasser nachzudenken, was höchst zeitgenössisch anmutet, ist doch das Memoir die vielleicht populärste literarische Form der Gegenwart. Doch anders als bei seinen aktuellen Epigonen, ist Rönne gerade nicht einfach ein Abbild des Autors, es gibt da eine offensichtliche Differenz, diese Texte zielen nicht auf Authentizität, die Konturen von Rönne und Benn flirren und dem entspricht ein Flirren der Sprache.

Ha, heute nicht einfach, Beine breit und herab vom Stuhl, mein Fräulein, die feine blaue Ader von der Hüfte in das Haar, die wollen wir uns merken! Ich kenne Schläfen mit diesen Adern, es sind schmale weiße Schläfen, müde Gebilde, aber diese will ich mir mer- ken, geschlängelt, ein Ästchen Veilchenblut! Wie? Wenn nun das Gespräch auf Äderchen kommt – gepanzert stehe ich da, in Sonder- heit auf Hautäderchen: An der Schläfe?? O meine Herren!! Ich sah sie auch an anderen Organen, fein geschlängelt, ein Ästchen Veil- chenblut. Vielleicht eine Skizze gefällig? So verlief sie –, soll ich auf- steigen? Die Einmündung? Die große Hohlvene? Die Herzkammer? Die Entdeckung des Blutkreislaufes – – –? Nicht wahr, eine Fülle von Eindrücken steht Ihnen gegenüber? Sie tuscheln, wer ist der Herr? Gesammelt steht er da? Rönne ist mein Name, meine Herren. Ich sammle hin und wieder so kleine Beobachtungen; nicht uninteres- sant, aber natürlich gänzlich belanglos, kleiner Beitrag zum gros- sen Aufbau des Wissens und Erkennens des Wirklichen, ha! ha! Und Sie, meine Damen, wir kennen uns doch! Gestatten Sie, daß ich Sie erschaffe, umkleide mit Ihren Wesenheiten, mit Ihren Eindrücken in mir, unzerfallen ist das Leitorgan, es wird sich erweisen, wie es sich erinnert, schon steigen Sie auf.

Dieser Ton Rönnes hat die Literatur nicht mehr losgelassen. Es ist der Ton einer Überforderung und des Ichverlusts, von Nervosität und hohler Männlichkeit, der Härte und zugleich sentimentaler Sehnsucht . »So etwas war nicht zu finden woan- ders«, schreibt Klaus Theweleit, »bei keinem George oder Trakl oder Heym oder Brecht, auch Rilke nicht oder sonstwo in deut- scher Sprache . Zeilen, die ich jetzt Rocktexten näher finde als den Gedichten anderer deutscher Lyriker . Lyrics . Bennsche Klänge, sounds eher als Bedeutungswörter … Wortkonglomerate, die in den Körper eingingen … nicht wie, sondern als eine Musik. Woran liegt diese Wirkung?« Das ist die Frage, die sich bei Benn immer wieder neu stellt – ungefähr alle dreißig Jahre erlebt er eine Wiederentdeckung –, denn tatsächlich fällt es schwer, sich diesem politisch zweifelhaften und menschlich unangenehmen Dichter zu entziehen, es sei denn durch Verweigerung . Wohin verlockt er uns? In die Sphäre der Unschärfe, die zwischen einem Text und uns existiert und die er wie wenige offen zu halten verstand . In jenes Zwischenreich, von dem die Rede war, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz wie der Schirm von Raabes Erzähler . Es ist der Hallraum der Sprache selbst, in ihr nur entsteht Literatur . Jeder Vers Benns sagt: Es ist recht sehr Nacht geworden. Wir haben die Katastrophe bereits hinter uns. Geblieben von ihr ist uns die Kälte der Vergeblichkeit, doch sie berührt uns im Schauer der Lektüre tröstlich wie kaltes Wasser .

»Wie mich dieser angebliche Satz Benns durch meine Zwanziger begleitet hat: Man habe sein literarisches Material kalt zu halten«, schreibt Katharina Schultens . »Bis in den Marmorgarten meiner eigenen Medusa hallte er mir nach. Ich flüstere ihn noch immer unter jedem neuen Gedicht .«

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10/2021.

  Tübinger Poetikdozentur. Mit Dorothee Kimmich und Eva Menasse. Foto Michael Sturm.
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Hiddensee, 1. September 2021.

  Interview mit Pascal Mathéus und Clemens Wagner.

Wir treffen Sie auf der Insel Hiddensee, wo Gerhart Hauptmann seit 1929 ein Sommerhaus besaß. Verbindet Sie etwas mit diesem Schriftsteller?

Ich wurde mit Thomas Mann literarisch sozialisiert, was meine vielleicht etwas ungerechte Sicht auf Hauptmann erklärt.

Das wäre die Perspektive auf Mynherr Peeperkorn?

Ja.

Diese sehr bewusste Großautorattitüde bei Hauptmann ist aus heutiger Sicht befremdlich. Etwa wenn er sich sehr bewusst als Nachfolger Goethes inszeniert.

Das hat Thomas Mann auch getan. Aber Mann war sich bewusst, dass wir alle Spätgeborenen und Aneignung und Nachfolge höchst problematisch sind. Ersehnt und unmöglich zugleich. Um die entsprechenden Figuren der Ambivalenz kreist ja sein ganzes Schreiben und daher ist er auch in diesem Punkt weniger naiv als Hauptmann.

Hauptmann scheint vor allem ziemlich ironiefrei zu sein. Das kann man schwer ertragen. Als Philipp Tingler neulich aufgezählt hat, welche objektiven Kriterien für gute Literatur zu gelten haben, hielt er Ironie für obligatorisch.

Darüber ließe sich sprechen, wenn Herr Tingler nicht jenes arg simple popkulturelle Verständnis von Ironie hätte, das kaum mehr ist als die überhebliche Attitüde des coolen Bescheidwissers. Das hat mit der Thomas Mann’schen Ironie wenig zu tun, die ja immer ein Anlauf ist zum heiligen Ernst.

Wie meinen Sie das?

Seine Ironie ist jene der Romantik, für die unserer Distanz zu den Dingen der Welt etwas Tragisches hat. Die romantische Ironie bedauert, wie Kleist in seinem Marionettenspiel-Aufsatz schreibt, dass das Paradies durch unsere Reflektiertheit verriegelt ist, und will die Reise um die Welt machen, um zu sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Thomas Manns Romane sind solche Reisen. Der Doktor Faustusnatürlich, aber noch deutlicher Joseph und seine Brüder mit seinem Maskenspiel von Mythos und dessen Destruktion. Das Ziel ist für Thomas Mann nie, alles in ironischer Beliebigkeit nebeneinander zu stellen, womit sich die Popliteratur begnügt, sondern den Leser zu ergreifen: Denken Sie nur an die Echo-Episode im Faustus! Sein Schreiben – wie etwa auch das von Musil, der mich lange sehr beschäftigt hat – versucht, eine glaubhafte Erzählung zu schaffen und dabei zugleich die Bedingungen dieser Erzählung offenzulegen.

Wer hat sie literarisch noch beeinflusst?

Seltsamerweise habe ich jene Art von Präsenz dann vor allem bei amerikanischen Erzählern wiedergefunden, die man ja als Antipoden des Mann`schen Erzählens verstehen könnte, bei Cormac McCarthy und Raymond Carver, später aber auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Juan Carlos Onetti, Dino Buzzati oder Pierre Michon.

Auf der einen Seite die Amerikaner, auf der anderen Musil und Thomas Mann: Also hier das Ideal der Verknappung, dort die Girlanden, die nicht enden wollenden Sätze und Romane. Aber beide verfolgen mit ihrem Ironiespiel ähnliche Ziele…

Ironiespiel?

Ist das keine Ironie? Dieses gleichzeitige Reflektieren und trotzdem Erzählen, obwohl man um die Problematik weiß.

Ich halte das ja für das größtmögliche Pathos, aber von mir aus können Sie es auch Ironie nennen (lacht).

Von der Romantik her könnte man es Ironie nennen. Diese Bewegung: Eine Setzung machen, etwas aufschreiben, vielleicht auch pathetisch sein und durch die Reflektion es halb wieder zurücknehmen oder auf die nächste Stufe heben.

Sie haben recht, das ist das Verfahren. Aber ist es ein Spiel?

Was ist es denn? Wir machen es uns womöglich etwas zu einfach, wenn wir uns unseren Hettche aus dem Stil der Amerikaner und der ästhetischen Theorie von Thomas Mann und Robert Musil zusammenbauen, oder?

Vielleicht (lacht). Aber vielleicht kommen diese beiden gegensätzlichen Erzähltraditionen ja bei der Frage nach der Konstruktion eines literarischen Textes überein.

Es geht Ihnen doch bei aller Verknappung auch um ein sehr detailreiches Schreiben, sehr um die Ausformung von Lebensgeschichten und Kontexten. Es kommen in ihren Büchern etwa Märchenstoffe und phantastische Figuren vor. Ist die Verzauberung der Welt ein Anliegen von Ihnen?

Verzauberung klingt so, als müsste man die profane Welt zum Leuchten bringen. Dieser Handke-Gestus widerstrebt mir zutiefst. Nein, die Welt ist verzaubert und was wir ihren Zauber nennen, ist unserer unauflösliche Verstrickung in sie. Es gibt den Blick auf die Phänomene, es gibt aber zugleich das mythische Reservoir, das wir zur Beschreibung dessen mitbringen, was wir sehen, und schliesslich gibt es unsere Ratio. Wenn ich ein Ziel meines Erzählens nennen sollte, dann, die Komplexität dieser Rückkopplungen von Ereignis und Deutung nicht zu verkürzen, sondern zu entfalten. In Pfaueninsel etwa habe ich versucht, die verschiedenen Naturdiskurse des 19. Jahrhunderts zu erzählen, Erwartungen und Träume spielen dabei eine Rolle, der Gegensatz von Künstlich- und Natürlichkeit, aber auch das Fremde. Was haben etwa die Phantasmagorien des Orients mit der preussischen Landschaft zu tun, in der Pfaueninsel spielt? So etwas interessiert mich an historischen Figuren, wenn ich sie erzählerisch lebendig werden lasse. Es muss ästhetisch eingeholt werden, warum jemand etwas sagt.

Auch intellektuell, oder? Was bedeutet es in historischen Bezügen „ich“ zu sagen. Woher weiß ich überhaupt, was von mir kommt und was von außen.

Eben.

Da scheint aber immer noch der Foucault’sche Diskursbegriff durch, oder?

Stimmt schon. Während meiner Studienzeit im Frankfurt der 80er-Jahre war für mich einerseits die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie wichtig, vor allem mit Adornos Ästhetik, auf der anderen Seite die Texte der französischen Philosophen, die damals wie neu gelesen wurden, neben Foucault vor allem Lyotard und Derrida. Sich von so einer Prägung zu lösen, ist nicht ganz einfach (lacht).

Sie haben sich dazu entschieden Literatur zu schreiben und nicht etwa Philosoph zu werden. Literatur hat im Gegensatz zur Philosophie etwas Umkreisendes, nie Definitorisches. Die Frage ist bloß: Wann endet dieses Spiel? Wann kann man sagen, jetzt habe ich die Phänomene soweit umrissen, dass ich sagen kann, es ist gut?

Ich würde es, wie schon gesagt, nicht Spiel nennen, was da geschieht. Der Begriff, der uns in diesem Gespräch noch fehlt, ist derjenige der Form. Die Reflexion ist in der Kunst nicht zu Ende, wenn der Gegenstand erschöpft ist, sondern sie endet, wenn die Form erfüllt ist. Der frühe Lukács vonDie Seele und die Formen hat mich da sehr beeindruckt. Kunst bildet die Welt nicht ab, sondern liefert eine Übersetzung von Phänomenen in eine Form.

Gilt das gleichermaßen für ihre Essays wie für ihre literarischen Texte?

Ja klar. Ich habe ein großes Unbehagen angesichts der momentanen Konjunktur politischer Literatur, bei der die Erzählung immer nur Exempel eines richtigen Bewusstseins ist. Meine Profession ist die künstlerische Form und das gilt selbstverständlich auch für die Essays. Die Form eines Textes ist nicht einfach ein Gefäß, in das man etwas hineinstellt wie in eine Vase, sie ist Schönheit als Erkenntnis.

Wir fragen uns oft, wie es heute möglich ist, junge Menschen mit Literatur zu erreichen. Dabei kann sich schnell eine gewisse Frustration einstellen…

Also, ich bin ja schon völlig begeistert, dass ich hier auf Hiddensee sitze und mit zwei jungen Menschen über Literatur spreche. You made my day.

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ÄQUINOKTIUM.

  Akzente. 4/2021. Herausgegeben von Aris Fioretos.

Immer alles zu lange, zu weit, zu groß, und schon längst wieder hell, wenn man betrunken nach draußen stolperte: Westberlin. Immer bis in die Puppen! Womit der Volksmund einen weiten Spaziergang hier heraus in den Tiergarten gemeint haben soll, denn genau hier waren sie, die Puppen, antike Götter, im 18. Jahrhundert von Knobelsdorff hier am Großen Stern aufgestellt und längst wieder verschwunden. Wie still es war! Das Klappern der Absätze der Nutten konnte man hören, die an der Straße des 17. Juni vor ihren Wohnwagen auf Kunden warteten, und das Brüllen der Löwen im Zoo. So wenig wie wir in die Tage, passte die Stadt mehr in sich selbst. Der riesige Kreisverkehr leer. Die Mauer vor dem Brandenburger Tor flimmerte unscharf im Steppenlicht. So sinnlos die Schönheit der leeren achtspurigen Magistrale, von Albert Speer einst in die schon zerstörte Stadt geschnitten, so schön ihre Sinnlosigkeit. Wir standen blinzelnd in der tiefen Sonne, empfanden beides und uns am Ende der Geschichte. Es war der perfekte Moment! Exakt zwischen dem zu langen Tag und der unabsehbaren Nacht, Äquinoktium, Tagundnachtgleiche, nachmittags um halb fünf. Mit einem Seufzer lehnt Moltke sich zurück an seinen Marmorblock, die Beine lässig überschlagen. Damals, in jenem Moment, habe ich den Generalfeldmarschall nicht beachtet auf seinem Sockel, inzwischen ist er mir das liebste Denkmal von allen hier am Großen Stern. Denn alles kam anders. Moltke faltet seine Denkmalshände. „Kein Operationsplan“, lautet seine Überzeugung, „reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“ Ich nicke. Das mussten wir schmerzhaft erfahren und hatten noch nicht einmal realisiert, im Krieg zu sein. Nachmittags halb fünf und vor uns allen die leere Nacht. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Und niemand weiß, wer wieder erwacht.

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HERZFADEN. ROMAN DER AUGSBURGER PUPPENKISTE.

  Buchpremiere. Lesung Christian Brückner, Moderation Maike Albath. Internationales Literaturfestival Berlin, 13.10.2020.
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Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste.

  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.

Das Mädchen riss sich von der Hand seines Vaters los und lief weg. Auf keinen Fall sollte er es weinen sehen, verstand es doch selbst nicht, weshalb es plötzlich so furchtbar traurig war, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Verzweifelt drängte es sich durch die Horden kleiner Kinder, die nach der Vorstellung im Foyer des Theaters herumtobten, und kauerte sich schließlich in der hintersten Ecke des großen Raums, wo der Vater es nicht sehen konnte, auf den Boden. Es zog das iPhone aus der Tasche seines Kapuzenpullovers und schickte all seinen Freundinnen Tränen-Smileys. Wischte sich dabei mit der flachen Hand die echten Tränen so lange aus dem Gesicht, bis keine mehr kamen.

Als es wieder klar sehen konnte, bemerkte es neben sich eine kleine Holztür, so weiß gekalkt wie die Wand und ohne Schloss oder Griff. Neugierig tastete es mit den Fingern in den schmalen Spalt zwischen Holz und Stein hinein. Die Tür bewegte sich, doch so schwer, als hätte sie schon lange niemand mehr geöffnet. Das Mädchen stand auf, zog mit aller Kraft am Türblatt, und schon strich ihm ein Strom kalter, modriger Luft über das Gesicht. Eine dicke Staubschicht bedeckte den nackten Steinboden vor der gähnenden Dunkelheit und im Licht, das aus dem Foyer hineinfiel, sah das Mädchen die erste Stufe einer Wendeltreppe, darüber eine zweite, die im Dunkel verschwand. Als es hörte, wie sein Vater nach ihm rief, schlüpfte es durch die Tür und zog sie hinter sich zu.

Im selben Moment war alles rabenschwarz um es her. Das Herz schlug dem Mädchen bis zum Hals. Es schaltete die Taschenlampe am iPhone ein und setzte einen Fuß auf die erste Stufe der Treppe, dann auf die nächste, wieder auf die nächste, und immer weiter ging es hinauf. Dabei hielt es sich im bleichen LED-Licht an der steinernen Säule fest, um die sich die Spindel der Wendeltreppe eng nach oben schraubte. Plötzlich war das Licht aus. Das Mädchen blieb zitternd stehen. Der Akku, wusste es, hatte eben noch fünfundsiebzig Prozent gehabt.

Vorsichtig tastete es sich Stufe für Stufe im Dunkeln langsam weiter. Spürte, wie es immer kälter wurde. Hielt sich an der steinernen Säule fest und zog mit der anderen Hand die Kapuze über den Kopf. Musste daran denken, wie es am Morgen zu Hause unbedingt den neuen weißen Kapuzenpullover anziehen und die ziemlich komplizierten Zöpfe hatte flechten wollen, die ihr eine Freundin gezeigt hatte, obwohl die Mutter ständig drängelte, weil es längst zum Zug musste. Als es sich daran erinnerte, musste es beinahe wieder weinen. Was fiel dem Vater ein, dachte es wütend: Puppentheater war Kinderkram. Doch während es die Treppe, die nicht enden wollte, immer weiter hinaufstieg, hatte es das Gefühl, als würde es immer kleiner dabei, Stufe für Stufe, und gleich würde es in der Dunkelheit ganz verschwinden, überhaupt nicht mehr da sein und fast freute es sich darüber. Da stieß es mit dem Fuß gegen etwas Hartes.

Das Mädchen hielt den Atem an. Ob das wieder eine Tür war? Tatsächlich ertastete es Holz, und als es sich mit aller Kraft dagegenstemmte, öffnete auch diese Tür sich. Froh, dem Dunkel zu entkommen, schlüpfte es hinaus und begriff im selben Moment, dass die Dunkelheit nicht wich. Zwar spürte es die Enge der Wendeltreppe nicht mehr, nun aber hatte es das Gefühl, als müsste der Raum riesig sein, in dem es stand. Das Geräusch seines Atems verlor sich ins Unendliche. Ängstlich tastete sein Blick das Schwarz nach etwas ab, an dem er sich festhalten könnte.

Und nach einer Weile machte es tatsächlich Schatten aus, dann dünnes Licht, das von oben herabzusickern schien. Unmerklich und langsam schälte sich ein Raum aus der Dunkelheit, ein unabsehbar riesiger Raum. Hoch oben erkannte das Mädchen die offenen Balken eines Dachstuhls, und dann zwischen den Balken ein Dachfenster, durch das Mondlicht hereinfiel, und in der Mitte des riesigen Dachbodens, an dessen Rand es stand, eine Stelle, auf die das Mondlicht herabschien, als hätte man einen runden weißen Teppich ausgelegt.

Und nun entdeckte das Mädchen auch noch etwas anderes, Gestelle an den Seiten des riesigen Raums, hohe hölzerne Gestelle, an denen etwas hing. Neugierig traute es sich hinüber, nachzusehen, was da war, machte Füße und Arme im Dämmer aus, schwankende Glieder, bunte Gewänder. Es waren Marionetten, Marionetten übereinander, nebeneinander, unzählige Marionetten, die so leicht an ihren dünnen Fäden hingen, dass sie, als das Mädchen an ihnen vorüberging, zu klappern begannen. Erschrocken blieb es stehen, zu unheimlich war dieses Geräusch.

Und während das Klappern langsam wieder leiser wurde, hörte das Mädchen noch etwas anderes. Schritte näherten sich aus dem Dunkel. Sein Herz begann wild zu schlagen, während es diesen Schritten hilflos entgegenhorchte. Und dann tauchte aus dem Dunkel eine Gestalt auf, zunächst kaum zu erkennen, die sich langsam dem Lichtteppich in der Mitte des Dachbodens näherte. Zuerst konnte das Mädchen ein gelbes Gewand ausmachen, dann zwei schwarze Zöpfe, und schließlich blieb die Gestalt mitten im Mondlicht stehen und begann zu singen.

»Ach wie herrlich, ach wie schön
Ganz allein am Strand zu gehn!
Ich bin die Prinzessin Li Si
Weil ich nicht will, mich finden nie sie.«

»Li Si?«

Dem Mädchen fiel ein Stein vom Herzen. Schnell lief es zu der Prinzessin hinüber, an die es seit Jahren nicht mehr gedacht hatte und die ihm als Kind so lieb gewesen war.

»Guten Tag, Mädchen«, sagte die Marionette und nickte mit ihrem hölzernen Kopf. »Hab keine Angst. Ich bin die Prinzessin Li Si. Weil ich nicht will, mich finden nie sie. Humm dideldum schrumm.«

»Mich auch nicht!«

Das Mädchen musste lachen und spürte, wie die Angst sich löste. Es wollte der Prinzessin, die es mit ihren Puppenaugen freundlich ansah, gleich erzählen, wie es vor dem Vater davongelaufen und auf welch seltsame Weise es hierhergelangt war, als es plötzlich lautes Getrappel hörte. Es spähte ins Dunkel.

»Hab keine Angst, Mädchen«, sagte die Prinzessin Li Si.

Im selben Moment erschien ganz langsam, als käme er aus dem Dunkel wie unter einer Decke hervor, ein Storch im Licht, eine alte, ganz abgestoßene Marionette, die ihre langen Beine vorsichtig setzte und deren Kopf neugierig von links nach rechts und von rechts nach links pendelte.

Einen Moment lang betrachtete das Mädchen wie verzaubert den alten Storch, dann wurde das Geklacker und Geschepper im Dunkel immer lauter und eine ganze Blechbüchsenarmee erschien, dann drei kleine Teufel, ein Skelett, die Mumin-Familie, das Mädchen wusste gar nicht mehr, wohin schauen, Papageien und Nachtigallen und Eulen und Möwen flatterten über es hinweg, Esel und Pferde und ein kleiner Rehbock sprangen aus dem Dunkel heran, weiße wollige Schafe, Schlangen verschiedener Länge und Farbe krochen heran, Katzen, deren Schwänze aufgeregt durch die Luft wischten, und ein kläffender Dackel.

Das Mädchen sah, wie immer mehr der Marionetten, die eben noch an den hohen Gestellen an den Seiten des Raums gehangen hatten, sich von ihren Fäden befreiten und auf den Boden herabkletterten, und es entdeckte unter all den Tieren, die um es her zu wimmeln begannen, Frau Wutz und den Pinguin Ping, Schusch, den Waran mit seiner roten Ballonmütze, den See-Elefanten, den Löwen und Kater Mikesch, und zwischen all den Tieren Professor Habakuk Tibatong und Aladin, Zwerg Nase, Frau Holle und den Räuber Hotzenplotz, die kleine Hexe und Zoppo Trump, den Kleinen Prinzen mit dem Fuchs, Seppl und die Großmutter, den Polizisten Alois Dimpfelmoser und Jim Knopf, Frau Waas, den Scheinriesen Tur Tur, der immer kleiner wurde, je näher er kam, und Lukas mit der Lokomotive Emma, die langsam heranfuhr und sich dabei vorsichtig Platz in der Menge machte.

Alles drängte heran an den hellen Lichtkreis, in dem das Mädchen mit Prinzessin Li Si stand. Es gab ein Geschiebe und Geschubse, ein Pony stolperte auf dem glatten Boden über einen Zwerg und das Mädchen war von dem ganzen Durcheinander viel zu verwirrt, um zu bemerken, dass all die Marionetten ebenso groß waren wie es selbst und dass sie sich ganz ohne Fäden bewegten, als wären sie wirklich lebendig, und dabei auch noch sprachen und wieherten und meckerten. Vor allem aber bemerkte das Mädchen nicht, dass noch jemand aus dem Dunkel herankam. Erst, als die Gestalt direkt vor ihm stand, sah es überrascht zu ihr auf.

Eine wunderschöne Frau stand da vor dem Mädchen, rie- sengroß, in einem altmodischen Damenkostüm aus creme-weißer, glänzender Seide, das dem Mondlicht glich. Den einen Arm hatte sie in den anderen gestützt, eine schmale silberne Uhr am Handgelenk. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern und rauchte. Nagellack und Lippenstift hatten ganz dasselbe Rot wie ihre hochhackigen Schuhe.

»Rauchen ist ungesund«, sagte das Mädchen.

Die Frau nickte lächelnd und setzte sich mit einem Seufzer auf den Boden, all die Marionetten machten ihr bereitwillig Platz, ihre Beine mit den roten Schuhen lagen schließlich nebeneinander wie die eines Rehs. Und schon hatte sie einen silbernen Aschenbecher in der Hand, den sie aufklappte, um die Zigarette darin auszudrücken.

»Du hast recht, Rauchen ist ungesund. Aber zu meiner Zeit hat man es eben getan.«

»Zu Ihrer Zeit? Was meinen Sie damit?«

»Ja Herzchen, was denkst du denn? Ich bin doch schon lange tot!«

Dem Mädchen gruselte es, doch was sollte es tun?

»Hab keine Angst, Mädchen«, sagte Prinzessin Li Si wieder, die jetzt ganz so, wie chinesische Prinzessinnen das tun, neben der Frau auf dem Boden kniete.

»Wer sind Sie?« fragte das Mädchen leise.
»Ich bin Hatü.«
»Hatü?«
»Das klingt lustig, nicht wahr?« Die Frau lächelte dem Mädchen zu. »Meine Schwester hat das erfunden. Eigentlich heiße ich Hannelore, aber das konnte sie als Kind nicht aus- sprechen.«

»Hatü«, wiederholte das Mädchen. »Ich finde, das ist ein schöner Name.«

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Emphatische Lektüre (3): Gottfried Benn.

  Seminar im Sommersemester 2020 an der Technischen Universität Berlin. Online-Workshop mit Lukas Bärfuss, Durs Grünbein, Sabine Scholl und Katharina Schultens.

Der Text, um den es gehen wird, beginnt folgendermaßen: Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und unerklärlichen Weise erschöpft.

Gottfried Benn, Pfarrerssohn aus der Prignitz – östlich der Oder, wo die Ebenen weit -, ist noch keine dreißig und hat sein Medizinstudium erst vor wenigen Jahren beendet, als er diesen Text 1916 publiziert. Vier Jahre zuvor ist sein erster Gedichtband als lyrisches Flugblatt zu fünfzig Pfennig erschienen: Morgue und andere Gedichte. Neun Gedichte, die Skandal machten und heute Schullektüre sind: Kleine Aster, Schöne Jugend, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke. Es geht in diesen Gedichten um Medizin, um Körper, um Schmerz, um Gleichgültigkeit, um Armut, um Hoffnung und um Tod. Er habe sie während eines Sektionskurses am Klinikum Moabit in Berlin in einer Nacht aufgeschrieben, erklärte Benn später. Sie machten ihn berühmt wegen ihrer scheinbaren Kälte.

Welche Anstrengung diese Kälte bedeutete, zeigt ein Gedicht Benns, das sich auf den Tod seiner Mutter bezieht, die zur selben Zeit an Krebs starb. Der gläubige Vater verhinderte, dass der junge Arztsohn ihr Leid mit Morphium linderte: Ich trage dich wie eine Wunde / auf meiner Stirn, die sich nicht schließt. / Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt / das Herz sich nicht draus tot. / Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre / Blut im Munde.

1914, zu Kriegsbeginn, wurde Benn eingezogen, nahm an der Belagerung Antwerpens teil, erhielt das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und wurde Arzt in einem Krankenhaus für Prostituierte in Brüssel. Und hier nun, in jenen Kriegsjahren in der Etappe – man hörte die Kanonen während der Yser-Schlacht von fern –, die Benn immer als besonders glücklich und produktiv beschrieben hat, entstand jener Text, dessen Anfang ich vorgelesen habe.

Unter dem Titel Gehirne. Novellen erschien er 1916 mit vier anderen in Kurt Wolffs Reihe Der jüngste Tag. Die Hauptfigur von Gehirne ist ein Alter Ego Benns, das über zehn Jahre immer wieder in kurzen Texten auftaucht, die weder Essay noch Erzählung, noch autobiographisches Notat sind, und doch alles zugleich. Wie hieß er mit Vornamen? Werff, stellt Benn uns seinen Helden vor. Wie hieß er überhaupt? Werff Rönne. Was war er? Arzt in einem Hurenhaus. Was schlug die Uhr? Zwölf. Es war Mitternacht. Er wurde dreißig Jahre.

Im letzten dieser Texte findet sich seine Beschreibung: Das ist Rönne, Arzt, mittelgroß, von gesunder Konstitution, linkes Augenlid hängt leicht herunter, meistens mißvergnügt, Dyspepsie im Gehirn, Neigung zu Fettansatz und Transpiration. Indem er bei diesem Selbstporträt auf jene Fiktionalisierung verzichtet, sieht Benn seinen Leser gleichsam durch seine Figur hindurch an. Ein Nachdenken über diese Prosa ist ein Nachdenken über ihren Autor, die Bilder legen sich übereinander, der Text beginnt zu flirren.

Wen wollen wir sehen? Wie liest man diesen Text? Was ist überhaupt seine Gestalt? Die Emphatischen Lektüren an der TU Berlin beschäftigen sich seit drei Jahren mit diesen Fragen. Nach Kleists Erdbeben in Chili und Raabes Zum wilden Mann nähert sich das Seminar mit den Rönne-Texten nun einem Autor, für den die beschriebene Entblößung, die offensichtlich zugleich eine Panzerung ist, genuin zur Literatur gehört. Ja, vielleicht liegt in dieser Ambivalenz Benns erneute Modernität für eine Gegenwart, der autobiographisches Schreiben wichtiger ist denn je. Karl Ove Knausgård, einer der Helden dieser Mode, postuliert: Die Aufgabe eines Autors kann also nicht mehr heißen, Fiktion zu schreiben, er muss was anderes versuchen. Ist es nicht das, was Gottfried Benn vor hundert Jahren tat? Etwas anderes versuchen?

Ich habe, wie es zum Konzept dieser Reihe gehört, vier Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, sich mit der Rönne-Prosa auseinanderzusetzen und in Form eines Essays einen eigenen Standpunkt zu Benns flirrendem Helden zu finden. Eigentlich sollten wir im Seminar sitzen und mit den Studenten diese verschiedenenen Zugänge diskutieren und die Frage: Was heißt emphatische Lektüre im Fall dieser Texte? Statt aber an TU oder im LCB trafen wir online zu einem Gespräch. Es findet sich hier.

Eingeladen habe ich in diesem Jahr folgende Autorinnen und Autoren: Lukas Bärfuss, im schweizerischen Thun geboren, ist zuerst mit seinen Theaterstücken bekannt geworden, Meienbergs Tod etwa und Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, dann mit seinen Romanen: Hundert Tage, Koala, Hagard. Bärfuss war Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, er unterrichtet an den Kunsthochschulen Bern und Zürich und am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Er versteht sich selbst als politischer Autor und agiert entsprechend in der Öffentlichkeit.

Durs Grünbein, in Dresden geboren, wird seit seinem Debüt von 1988, Grauzone morgens, und zumal nach der drei Jahre später erschienenen Schädelbasislektion, immer wieder auf seine Nähe zu Benn befragt. Doch das Geflecht der Bezüge, in das die Gedichte dieses poeta doctus eingebunden sind, ist ungemein vielfältig. Zuletzt erschien der Lyrikband Zündkerzen und Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate.

Sabine Scholl stammt aus Österreich. Sie wurde in Wien mit einer Arbeit über Unica Zürn promoviert und unterrichtete an Universitäten in Portugal, Chicago, New York und Japan, lehrte Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Leipzig, an der UdK Berlin, an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Ihre Bücher, zuletzt die Essaysammlung Erfundene Heimaten und der in diesem Jahr erschienene Roman O, der das Thema der Odyssee vielstimmig umkreist, befassen sich ausdrücklich mit kulturellen und Geschlechterdifferenzen und dem Blick auf das Fremde.

Katharina Schultens ist in Rheinland-Pfalz aufgewachsen, hat Kulturwissenschaften u. a. in Hildesheim studiert und arbeitet als Geschäftsführerin eines Graduiertenkollegs der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Lyrikerin, zuletzt ist der Band untoter schwan erschienen. In ihren Gedichten amalgamiert sie mit federleichter Selbstverständlichkeit unser naturwissenschaftlich-technisches Sprachspiel mit ökonomischer Logik und unseren mythologischen Sehnsüchten.

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03/2020.

  Fotos Joachim Gern.

© Joachim Gern

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Das Malen macht mir viel Sorgen. Besonders Bäume.

  Dankesrede zum Joseph-Breitbach-Preis / 20.9.2019

Die Zunahme ökonomischen Ungleichheit in der globalisierten Welt und die Auflösung nationaler Institutionen haben zu einer tiefen Legitimationskrise der westlichen Demokratien geführt, unheilvoll beschleunigt durch die mediale Revolution, die die Formen und damit auch die Inhalte unseres Denkens und unserer Debatten verändert, Ängste verstärkt und den Zerfallsprozeß beschleunigt. Reaktion darauf ist die fieberhafte Suche der Menschen nach Zugehörigkeit, von der alle Gesellschaften der der Welt wie in einer Abwehrreaktion geschüttelt werden. Panisch ordnet eine identitäre Logik, wie der Soziologe Armin Nassehi das nennt, die Welt neu.

In den westlichen akademischen Milieus sind es vor allem Geschlechterfragen, Fragen der sexuellen Orientierung, der Hautfarbe, die zu Identifikation werden, auf der andren Seite haben Konflikte mit Migrations- und Fluchtfolgen (…) neurechte Ideologien stark gemacht. (…) So unterschiedlich all diese Formen sind, so sehr eint sie, wie Nassehi betont, dass sie die Welt in Gruppen einteilen und einen Raum für Kulturkämpfe um die Hegemonie jener Gruppen bieten. In diesen Kämpfen zersplittern unsere Gesellschaften, wie Francis Fukujama schreibt, in Segmente mit immer enger gefassten Identitäten, was die Möglichkeiten gesamtgesellschaftlicher Erwägungen und kollektiven Handelns zunehmend bedroht. Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, die Menschenwürde wieder umfassend zu begreifen, führe diese Entwicklung, so Fukujama, unweigerlich zum Kollaps und zum Scheitern des Staates.

Der Grund für den hohen Destruktionsgrad, der dieser Entwicklung innewohnt, ist darin zu sehen, daß es der identitären Logik, anders als den Bürgerrechtsbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa der Schwarzen in den USA und der Frauenbewegung der siebziger Jahre, nicht mehr vor allem um politische und gesellschaftliche Teilhabe zu tun ist. Sie beruht, worauf Herfried Münkler hinweist, nicht auf Selbstbewusstsein, sondern auf Bedrohtheitsempfindungen. Nicht Stolz, sondern Angst steht hinter der gegenwärtigen Konjunktur des Identitätsbegriffs. Hinter ihr steht vor allem der Wunsch nach Anerkennung und zugleich die Überzeugung, nur derjenige, der innerhalb der eigenen Kultur lebe, könne ein wirkliches Verständnis ihrer Realität haben. Wer die entsprechenden Grenzen überschreitet, wird der kulturellen Aneignung geziehen. Das universelle Versprechen der Aufklärung, wonach jeder in der Gesellschaft über seine spezifischen Erfahrungen und Verletzungen hinaus- und zur Selbstbestimmung gelangen können soll, wird als weiße, männliche, eurozentrische Ideologie zurückgewiesen.
Das ist die Gegenwart, in der wir leben und in der auch der Stellenwert der Künste sich verändert. Das ist der Hintergrund der inquisitorischen Aufwallungen, denen sie heute ausgesetzt sind. Soll man die Bilder von Balthus aus den Museen entfernen, weil sie scheinbar einem unstatthaften Begehren Raum geben? Wie steht es um unsere Bewertung von Nabokovs Lolita? Was ist mit den ewig Umstrittenen, mit Bataille, Céline, Ezra Pound? Was mit Woody Allen und Roman Polanski?
Das ist der Hintergrund, vor dem mir zwei Sätze Joseph Breitbachs nicht aus dem Kopf gehen. Zwei einfache Sätze, die er im Juni 1935 in einem Brief an seinen Freund Alexander Mohr schrieb: Das Malen macht mir viel Sorgen. Besonders Bäume.
Was mich an diesen beiden Sätzen fasziniert, ist ihre ungeschützte Schlichtheit. Das Malen macht mir viel Sorgen. Besonders Bäume. Und es ist natürlich das Echo, das sie unweigerlich erzeugen. Denn zur selben Zeit befand Brecht in seinem berühmten Gedicht An die Nachgeborenen, ein Gespräch über Bäume sei fast ein Verbrechen, (…) weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! War Joseph Breitbach also, frage ich mich, als er, in der Schweiz vor dem deutschen Faschismus sicher, damals bei Solothurn in die Natur ging, um nicht nur über Bäume zu sprechen, sondern sie zu malen, war er ein Verbrecher?

Die Frage klingt lächerlich, doch die Geschichte der Argumente, mit denen das Leid der Welt gegen die Autonomie der Kunst ausgespielt wurde, ist lang. So heißt es etwa in den Dämonen Dostojewskis: Der Enthusiasmus der modernen Jugend ist ebenso rein und leuchtend wie der unserer Zeiten. Nur eines ist vorgegangen: die Ziele haben sich geändert; eine Schönheit ist durch eine andere ersetzt worden! Der ganze Zweifel besteht nur darin: was ist schöner, Shakespeare oder ein Paar Stiefel, ein Raffaelsches Gemälde oder Petroleum? Shakespeare oder ein Paar Stiefel: Die Frage nach ihrer Nützlichkeit hat sich der Kunst über politisch linke Positionen unserer Gegenwart vererbt. Und immer ist es, rein und leuchtend, der Enthusiasmus der modernen Jugend, der sie von Neuem wieder stellt. Und es ist dies, wie die blutige Geschichte der Kulturrevolutionen zeigt, keine akademische Frage. Heute wird sie unter dem Regenbogenbanner der Identität gestellt.

Identität in den Debatten unserer Gegenwart ist Hautfarbe, ist Geschlecht, ist sexuelle Orientierung, ist Kultur, ist Herkunft, ist Familie, ist Nation, doch vor allem ist sie immer: Kränkung. Jeder, so ihre Logik, trägt die Verletzungen und Demütigungen der jeweiligen Vorfahren in sich, und kann allein durch das Aufrufen historischen Leids erneut traumatisiert werden. Das gemeinsame Schicksal knüpft ein unauflösliches Band in die Vergangenheit. Und diese Logik findet sich im Islamismus der arabischen Welt ebenso wie in unseren vorgeblich emanzipatorischen Milieus und auch im erstarkenden Rechtsradikalismus. Identität konstituiert sich in dieser Logik gegenüber potentieller Kränkung, und zwar stets, wie Georg Seeßlen schreibt, als ihr nicht berührbares, nicht beschreibbares Zentrum. Man darf etwas nicht ansehen und mit keinem Namen belegen. Seeßlen spricht von Tabuisierung, Münkler von Fetischisierung: Wer das Tabu bricht, gefährdet die Kraft des Fetischs und damit den, der sich auf ihn verlässt. (…) Die im Fetisch aufbewahrte Vergangenheit duldet keine Auseinandersetzung mit der Zukunft. Die im Fetisch gebannte Vergangenheit stellt die Gemeinschaft in den Bann des Vergangenen.

Und weil das so ist, besteht das Verbrechen, dessen die Kunst in unseren Zeiten angeklagt ist, nicht mehr im Schweigen über so viele Untaten, wie Brecht schrieb, sondern ganz im Gegenteil in ihrem Sprechen über all das, was nun nicht mehr benannt werden soll. Neben die alten religiösen Muster von Frevel und Gotteslästerung sind Safe Spaces, Sprachregelungen und Trigger-Warnungen als die aktuellen Formen der Tabuisierung getreten. Es ist ein sprachmagisches, ein mythisches Denken, das sich inmitten unserer Gesellschaft neu etabliert und das die Künste in ihrem Kern bedroht.

Diese Entwicklung weist zurück auf einen ganz bestimmten historischen Moment. Zur selben Zeit, als Joseph Breitbach das Malen von Bäumen Sorgen bereitete und Berthold Brecht über die finsteren Zeiten klagte, schrieb Thomas Mann, es sei Psychologie das Mittel, den Mythos den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ins Humane „umzufunktionieren“. Er schrieb dies in einem Brief an Karl Kerényi, den ungarischen Religionswissenschaftler, mit dem er sich während der Arbeit an Joseph und seine Brüder austauschte. Die Roman-Tetralogie – der erste Band erschien 1933 – stellt Manns Verteidigung des Humanismus im Angesicht der aufziehenden Barbarei dar. Seine Erzählung der biblischen Legenden um Joseph kreist dabei um nichts anderes als um die Frage der Identität und wie sie aus mythischem Denken entsteht. Wie der Mensch, so beschreibt es Jan Assmann, seinen persönlichen Mythos lebt und dadurch Anteil gewinnt an dem zeitlosen und in die unergründlichen Urzeiten hinabreichenden Mythenschatz.

Doch Thomas Mann ist sich sehr bewußt, worin die Problematik des mythischen Denkens liegt. Deutlich wird dies etwa in seiner Bewertung Oswald Spenglers. Bei Spengler, schrieb er, sind die Kulturen streng in sich geschlossene Lebewesen, unverbrüchlich gebunden eine jede an die ihr eigenen Stilgesetze des Denkens, Schauens, Empfindens, Erlebens, und eine versteht nicht ein Wort von dem, was die andere sagt und meint. Diese Analyse klingt wie eine Beschreibung der Gegenwart. Es sollte uns zu denken geben, daß für Thomas Mann die Linie eines solchen Denkens von Spengler direkt in den Faschismus führte.

Worin aber bestand nun sein Versuch, in Joseph und seine Brüder dieses mythische Denken literarisch den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen? Die Menschen der Vergangenheit, versichert uns sein Erzähler zu Beginn, seien Menschen wie wir gewesen. Der einzige Unterschied bestehe darin, daß ihre Identität nach hinten offen stand und Vergangenes mit aufnahm, dem sie sich gleichsetzten, in dessen Spuren sie gingen und das in ihnen wieder gegenwärtig wurde.

Eine Identität, die nach hinten offen steht: An dieser prägnanten Formulierung, die sich als Leitmotiv durch den Roman zieht, ist vor allem die Betonung der Offenheit für Thomas Manns Vorstellung von Identität wichtig. Er ist überzeugt, daß sie sich in einem Spiel der Freiheit bilden, ja man kann – mit Lacan – die Identitäten seiner Figuren als Objekte verstehen, zwischen denen sie wie im Traum sich gleitend zu bewegen in der Lage sind. Weshalb es auch keine Nebensache ist, daß er Joseph als von androgyner Schönheit schildert. Diese Schönheit, die Anleihen bei beiden Geschlechtern nimmt, macht die Figur zum Prototypen des Menschlichen. Daß wir alle zwischen animus und anima uns bewegen, die gleichsam Pole darstellen, in deren Feld wir eben nicht fixiert sind, zeigt in einer Gegenwart, die das groteske Bedürfnis hat, Dutzende von Geschlechtern zu definieren, das utopische Potential dieses offenen Konzepts von Identität.

Heute dagegen werden die nach hinten, also zu einer historisch phantasierten Wirklichkeit, eigentlich offenen Identitäten wie Masken mit den Subjekten verschraubt. Die festgelegte Identität verliert damit exakt jene Freiheit, die zu nehmen sie sich behauptet. Es steht zu vermuten, daß die Härte und die Bitternis der Debatten, die wir erleben, sich aus den Zwängen ergeben, die diese Feststellung bedeutet, und die für das Subjekt nur durch übergroße Bestätigung von außen gelindert werden können.

Psychologie als das Mittel, den Mythos ins Humane „umzufunktionieren“, bedeutet für Thomas Mann, dem Menschen einen aufgeklärten Umgang mit den Spuren aufzuzeigen, in denen wir alle gehen. Den Faschismus vor Augen, hat er dafür eine berühmte Formel gefunden, wenn er seinen Joseph vor dem Pharao sagen läßt: Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.

Das ist das Credo des europäischen Humanismus. Das Grauen des Krieges und des Holocausts sind darüber hinweggegangen und schienen es für immer diskreditiert zu haben. Und doch halte ich es für hochaktuell. Weil es der Freiheit des Menschen einen konkreten Ort zuweist und zugleich konkret benennt, worin unsere Verpflichtung besteht, wollen wir diese Freiheit erhalten. Die beiden einfachen Sätze Joseph Breitbachs fallen mir wieder ein. Ich stelle mir vor, daß Thomas Mann seinen Joseph im selben Moment vor den Pharao treten ließ, als Breitbach sie im Juni 1935 schrieb: Das Malen macht mir viel Sorgen. Besonders Bäume. Breitbach fährt fort: Ich kann oft nicht sehen, welche Farben die schattigen Partien der Krone haben. Der Schatten von grün auf grün sollte immer blau sein. Aber oft sehe ich soviel rot, warmes dunkles rot od. violett im Schatten, und dort ergibt es gemalt einen schlechten Effekt. Besonders im starken Licht erscheint diese Farbwirkung. Beruht wohl auf dem Reiz im Auge, den die Kontrastfarbe erzeugt. Aber wie soll man dies ausdrücken?

In einer Zeit, in der, wie es Harald Welzer beschreibt, jedes einzelne Werk primär nicht mehr auf seine künstlerische Qualität hin betrachtet wird, sondern auf die emotionale Verletzungs- und Irritationsmöglichkeit, die in ihm liegen könnten, ist mir Breitbachs einfache Schilderung des Mal-Aktes kostbar. Sie macht evident, wozu wir Freiheit, unsere eigene und damit auch die der Kunst, benötigen: Sie ist uns gegeben zur unvoreingenommenen Betrachtung der Welt. Und die Anstrengung um diese Unvoreingenommenheit beginnt im Bemühen Joseph Breitbachs, die Farbigkeit der Schatten der Bäume erst einmal zu sehen, um sie dann malen zu können. Nur Wahrhaftigkeit in der Wahrnehmung führt zur Qualität des Kunstwerkes. Wobei ein Werk durchaus so etwas Einfaches meinen kann wie das Blatt Havana-Papier, auf das Breitbach, wie er dem Freund in seinem Briefe berichtet, malte.

Doch auch die Idee des Kunstwerkes steht ja in Frage. Je mehr die Kunst, erläutert der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich die aktuelle Situation, von vornherein in sozialen Zusammenhängen entsteht, desto mehr gelten für sie selbstverständlich auch die oft unausgesprochenen Regeln von Höflichkeit und Rücksichtnahme. Das führt dann dazu, dass umgekehrt autonome Kunst sogar in den Verdacht geraten kann, gerade wegen ihrer Unabhängigkeit zu wenig sensibel zu sein für gesellschaftliche Verhältnisse, soziale Probleme oder für Minderheiten.

Da ist, rein und leuchtend, der Enthusiasmus der modernen Jugend wieder und ihre Frage nach dem Nutzen der Kunst: Shakespeare oder ein Paar Stiefel? Es geht heute längst nicht mehr darum, ob ein Kunstwerk gut ist und weshalb, sondern, für wen es gut sei. Museen entscheiden über ihre Hängung programmatisch nach dem Geschlecht der Künster, was die Kunskritik begrüßt, weil es gelte, den alten und überholten eurozentristischen, weißen, männlichen Kanon aufzubrechen. Tatsächlich aber bedeutet dies, wie auch immer verbrämt, nichts anderes als die Preisgabe des Kriteriums der Qualität. Doch wenn wir Qualitäturteile durch Listen ersetzen, die einem wie auch immer gewichteten Proporz folgen, geben wird das utopische Potential der Kunst verloren, das in der Erfahrung des Gelingens selbst liegt.

Und es ist diese Erfahrung, die das Freiheitsversprechen der Kunst birgt. Jener Glückserfahrung, in der sich momenthaft das Bindend-Musterhafte des Grundes, wie Thomas Mann schrieb, mit der Gottesfreiheit des Ich verbindet. Jene Erfahrung, daß nicht mehr wichtig ist, wer spricht. Daß es möglich ist, von uns selbst als Betrachter ebenso abzusehen wie von der Person, die ein Werk geschaffen hat. Identität ist in dieser Erfahrung etwas, das sich bildet, um sich dann wieder aufzulösen und, vielleicht, erneut zu bilden. In ihr sind wir suspendiert aus der Hölle der Geltungen und Ansprüche. Künstlerische Qualität ist nichts anderes als die Erfahrung der Welt, wie sie gemeint ist. Sie ist notwendig universell. In ihr geht es eben nicht um Anerkennung, sondern um Überwältigung und Erkenntnis, also um das, was es in der Welt der identitären Logik um jeden Preis zu vermeiden gilt. Wir sollten alles dafür tun, daß uns diese Erfahrung nicht genommen wird.

 

 

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Grüne Gläser.

  Auf Fontanes Spuren im Ruppiner Land, Sommer 2019.

 

Unser Weg führt uns heute nach Karwe, beginnt Fontanes Schilderung des Ausflugs, der ihn vom 18. – 23. Juli 1859, also exakt einhundertsechzig Jahren vor mir, erstmals ins Ruppiner Land bringt und den Auftakt seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg bildet. Wir haben den Park seiner Länge nach passiert und stehen jetzt vor dem Herrenhause. Es ist einer jener Flügelbauten, wie sie dem vorigen Jahrhundert eigentümlich waren, und erinnert in Form und Farbenton an das Radziwillsche Palais in Berlin. Nur ist es kleiner und ärmer an Rokokoschmuck. Auch das Eisengitter fehlt. Eine hohe Pfauenstange mit einem Pfauhahn darauf überragt vom Wirtschaftshofe her das Dach, und der vorgelegene Grasplatz steht in Blumen.

Auf eben diesem Wirtschaftshof steht in einer Nacht Anfang Mai 1945 der fünfundsiebzigjährige Erich Levin von dem Knesebeck, genannt Erwin. Er und seine Frau Irmgard sind zu diesem Zeitpunkt die letzten Bewohner von Schloß Karwe, einem Gut, zu dem mehr als eintausend Hektar Land gehören, bewirtschaftet von etwa zweihundert Landarbeitern. Noch ist alles genau so, wie Fontane es beschreibt. Nur sind längt alle vor den Russen nach Westen geflohen, die adligen Gutsbesitzer der Umgegend ebenso wie viele der Bauern. Erwin, den seine Mutter in der Erbfolge übergangen hat, der sich daher nicht als Junker versteht und von den Nazis nicht hatte korrumpieren lassen, hat beschlossen zu bleiben.

Am Morgen haben die letzten versprengten deutschen Soldaten noch auf die heranrückenden russischen Truppen geschossen. Das Paar hat sich im Keller versteckt. Irgendwann waren dann die Geräusche zersplitternder Türen, Schritte und russische Stimmen im Haus zu hören, auch Gewehrschüsse. Als Erwin von dem Knesebeck sich schließlich irgendwann nach oben wagt, trägt er seinen besten Anzug. Im Augenwinkel registriert er die von Bajonetten zerschlitzten Familienporträts, die Einschußlöcher in den Wänden. Der Offizier, der ihn entdeckt, fordert ihn auf, das Schloß, das nun die russischer Kommandatur sei, sofort zu verlassen.

Unklar, ob ihn das Porträt Carl Friedrich von dem Knesebeck an der Wand daran erinnert, in der Moskauer Militärakademie ein ähnliches Bild gesehen zu haben, oder ihn einfach Erwins Nennung seines Namens an jenen Generalfeldmarschall denken läßt, der seinerzeit im Krieg gegen Napoleon von Berlin nach Petersburg fuhr, um dem Zaren einen Plan vorzuschlagen: Ich sah die unermeßliche Fläche, berechnete die möglichen Märsche des Eroberers, und siehe da, die beiden großen Alliierten Rußlands: der Raum und die Zeit, traten mit einer Lebendigkeit vor meine Seele, die mir keine Ruhe mehr ließ. Zur Gewißheit wurd es mir: so ist er zu besiegen, und so muß er besiegt werden. Jedenfalls gestattet der russische Offizier, dessen Armee gerade auf dieselbe Weise die deutsche besiegt hat, dem alten Knesebeck, alles, was er in einer Nacht tragen könne, aus dem Schloß in die Verwalterwohnung zu bringen, die man ihm zuweisen werde.

Nun gilt es zu entscheiden: Was ist es wert, gerettet zu werden? Kein Meißen, kein Silber. Das Bild des Generalfeldmarschalls, der mit dem Zeigefinger auf die Karte Rußlands zeigt, schneidet Erwin ebenso aus dem Rahmen wie das berühmte, durch Einschüsse schwer beschädigte Bild des Schweißtuchs der Veronika, obwohl es nur eine Kopie ist. Das Original hat man vor langer Zeit einem Preussenkönig geschenkt. Auch der Brief Friedrich Wilhelm IV. wird gerettet, in den er sich selbst hineingemalt hat, nebst seinen Wünschen zu einer Taufe: VIVAT IN AETERNUM GENS KNSEBECKIANA. Und der alte Tisch aus dem Tabakskollegium des Soldatenkönigs, mit dem sich eine Familienlegende verbindet.

Die Wolken treiben vorüber, der alte Mann steht müde auf dem Hof. Fahrig hält er einen Stapel Papiere. Das alles ist wichtig: Die Pläne des Gutes, die Gedichte des Urgroßvaters, die aus der Kreuz-Zeitung vom 25. Dezember 1859 herausgerissene Seite mit Fontanes Schilderung seines Besuches auf Karwe. Und all die Briefe. Jener etwa des Dichters Kleist an die Frau des Generalfeldmarschalls, seiner Jugendfreundin Adolphine von Werdeck. Ein Windstoß erfaßt die Blätter, entreißt sie dem Alten, treibt sie über den Hof. Mit einem Ächzen läuft er ihnen nach.

Paris, den 28. (und 29.) Juli 1801
Gnädigste Frau,
Erkennen Sie an diesen Zügen wohl noch die Schrift eines Jünglings, die seit sechs Jahren nicht mehr vor Ihren Augen erschien? Können Sie aus ihrer Form wohl noch, wie sonst, den Namen des Schriftstellers erraten, und regt sich dabei in Ihrer Seele wohl noch ein wenig von dem Wohlwollen, von dem sie ihm einst so viel schenkten? Oder ist diese Hand Ihnen unbekannt geworden? Hat sie sich mit dem Herzen verändert? Ist sie alt geworden mit ihm, und muß sie sein Schicksal teilen, weniger Teilnahme zu finden, als in der Blütenzeit der Jugend? – Ach, was ist das Leben eines Menschen für ein farbenwechselndes Ding!

Das Leben ein farbenwechselndes Ding – jeder Kleist-Leser wird bei dieser Formulierung an einen anderen berühmten Brief des Dichters denken, nur vier Monate zuvor geschrieben, am 22. März 1801, an die Verlobte Wilhelmine von Zenge: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.

Es bedarf nur eines Schrittes aus Fontanes Julitag hinaus und in die reale Historie hinein, und Kleists Zweifel an unserer Wahrnehmung umgibt uns wie Nebel. Daß wir dabei gleichwohl auf der richtigen, auf Fontanes Fährte sind, zeigt das Echo auf jene grünen Gläser, das dieser in seine Beschreibung eines ganz anderen Schlosses, nämlich desjenigen von Paretz, einmontiert hat. Dort läßt er König Friedrich Wilhem III. durch ein farbiges Fenster schauen und sagen: Wer die Gegenstände draußen durch diese violettfarbene Scheibe anschaut, hält alles, was er sieht, für violett; so ein anderer alles für grün oder gelb, je nach dem das Glas, durch das er blickt.

Für den, der Fontanes Spuren folgen will, heißt das, nicht zu sehen, was er sehen will. Dabei wäre es so einfach: Hundert Meter abseits der Hauptstraßen befindet man sich auch heute noch in seiner Welt. Einem alten DDR-Hinweisschild folgend, das am Wegesrand in einer Weißdornhecke gerade noch entzifferbar ist, gerade ich auf die Sandpiste, die er so beschrieben hat: Eine halbe Meile nördlich von Trieplatz liegt Tramnitz, ebenfalls ein alt-Rohrsches Gut. Der Weg dahin hat denselben Einsamkeitscharakter wie die zu Beginn des vorigen Kapitels von mir geschilderte Landschaft. Und die alte, einsame Chaussee zeigt die Schichten der Zeit: Betonplatten, behauenes Kopfsteinpflaster, Flußkiesel, Sand folgen aufeinander, immer weiter zurück in der Geschichte geht es dabei, im Rückspiegel die Staubfahne, die der Wagen hinter sich herzieht, als wäre er Fontanes Chaise. Durch die uralten Eichen fällt der Blick auf die menschenleere Kyriz-Ruppiner Heide.

Aber man muß, wie gesagt, den eigenen grünen Gläsern mißtrauen: In wenigen Wochen ist Landtagswahl, in den Dörfern fast nur Plakate der AFD, Wir sind das Volk und Vollende die Wende, Hol Dir Dein Land zurück und Der Osten steht auf lauten die Parolen. Man muß seinen grünen Gläsern mißtrauen: Wustrau, Neuruppin, Rheinsberg oder Lindow, wo die alten Eichen- und Lindenalleen besonders prächtig sind, diese Namen mit dem schönen Fontane-Klang bezeichnen auch den Weg von 40.000 KZ-Häftlingen, die Ende April 1945 durch Brandenburg und Mecklenburg getrieben wurden, weg vom näherkommenden Geschützdonner der Roten Armee. Vielleicht hat die Konjunktur der AFD auch damit zu hat, daß die DDR in den Dörfern keine anderen Spuren hinterlassen zu haben scheint als die alten Hinweistafeln auf diesen Todesmarsch. Ihr Vermächtnis lebt in unseren Taten fort, steht darauf. Was aber hieße das, wenn es denn stimmte?

Dubslav von Stechlin, in Fontanes letzten Roman, hat entschieden was gegen grünes Glas. Die Produkte seiner eigenen Glashütte sind ihm der Inbegriff einer neuen, kapitalistischen Zeit, die er ablehnt. Fontane läßt den Alten an einem Aussichtsturm, einer Anlage von meinem Vater her, eine bezeichnende Veränderung vornehmen: Damals waren nämlich noch lauter bunte Scheiben da oben, und alles, was man sah, sah rot oder blau oder orange aus. Und alle Welt hier war unglücklich, als ich diese bunten Gläser wegnehmen ließ. Ich empfand es aber wie’ne Naturbeleidigung. Grün ist Grün und Wald ist Wald…

Wenn es nur so einfach wäre! Der Zweifel an dem was ist, beinhaltet auch den Zweifel an dem, was angeblich nicht ist. Überall Aufsteller, Hinweistafeln, Museen, die die Wirklichkeit der Erfindungen zementieren sollen. Fontane-Touristen mit Panamahut und Leinenjackett, in der Hand ihre Taschenbuchausgabe des Stechlin, stehen in Neuklobsow am Ufer des berühmten Sees und suchen nach dem Schloß des Alten, obwohl sie wissen, daß es nie existiert hat. Aber auch das, was nicht ist, gibt es. Ich nehme ein Boot und fahre hin. Hoheitsvoll liegt das Schloß da, am Ende eines schnurgeraden Kanals, der vom Nehmitzsee mit sanft abfallenden Ufern auf es zuführt, ein breitgelagerter, rechteckiger Kubus, die Front eine mit Pilastern gegliederte Glaswand, dahinter die große Halle, hinter der wiederum der weiße, schmale Schornstein in den Himmel ragt. Am niedrigen Vorwerk und Wasserschloß, Auslaß der lange schon stillgelegten Umwälzpumpen, lande ich an.

Alle, die ins Schloß eingelassen werden wollen, müssen einen Zehnmarkschein der DDR vorweisen, ich bin entsprechend präpariert und halte ihn dem Kastellan hin. Der Schein zeigt eine Frau in weißem Kittel, mit langem, zum Pferdeschwanz gebändigtem Haar, die vor Reglern und Anzeigen in einer Art Schaltzentrale sitzt. Handelt es sich vielleicht um die schöne Melusine aus dem Stechlin?

Das Gebiet zwischen Großem Stechlinsee und Nehmitzsee wurde von Herrmann Göring zum Naturschutzgebiet erklärt. Als später das Schloß errichtet werden sollte, das ich nun besuche, fügte es sich, daß sich mitten in diesem Naturschutzgebiet ein verlassenes Forsthaus befand, das Göring seinerzeit General Milch zu bauen erlaubt und dafür den Naturschutz aufgehoben hatte. So gab es uralte Rechte an diesem Ort. Drei große Tannen bezeichnen auf dem Schloßgelände noch heute die Stelle des Forsthauses. Und wie der Soldatenkönig einst den Knesebecks die Möblierung für Schloß Karwe schenkte, so sicherte bei diesem Schloßbau Nikita Chruschtschow in einem Brief vom März 1956 Walter Ulricht großzügige techische und personelle Hilfe zu. Ein Kernkraftschloß sollte entstehen, in allem nach dem zaristischen Modell des erst zwei Jahre zuvor in Obninsk bei Moskau errichteten ersten Kraftwerks der Welt. Mit einem Festakt ging es am 9. Mai 1966 in Betrieb – fast auf den Tage genau elf Jahre nach jener Nacht, in der Erwin von dem Knesebeck sein Schloß verlassen mußte. Genosse Hauptingenieur Ackermann, deklamierte der zuständige Minister, ich beauftrage Sie, die Einspeisung von Elektroenergie in das Verbundnetz der DDR aufzunehmen und dafür zu sorgen, gemeinsam mit Ihrem ganzen Kollektiv, daß dieses Werk in Frieden arbeitet und seine Aufgaben voll erfüllt.

Der Kastellan, ein drahtiger, braungebrannter Mann, zitiert die Ansprache aus dem Gedächtnis. Drei Jahre später hat er hier im VEB Kombinat Kernkraftwerk „Bruno Leuschner“ Greifswald, Betriebsteil Kernkraftwerk Rheinsberg als junger Ingenieur zu arbeiten begonnen. Nun, als Rentner, führt er mich treppauf und treppab, zeigt mir die Heiße Zelle im Druckreaktor, in der die Arbeiter mit ferngesteuerten Greifarmen hochstrahlende Materialien bearbeiteten. Ihr Blick ging dabei durch eine meterdicke Bleiglasscheibe. Deren grüner Schimmer berührt mich vertraut. Auch die sogenannte Blockwarte zeigt mir der Kastellan, das Herzstück des Kraftwerkes, mit den sowjetischen Schaltpulten voller Hebel aus Bakelit. An der Wand, hinter Glas, ein verblichenes Telegramm.

sed kl nrp
kernkraft rhsbg fs nr. 8323 v. 12.04.1961 10.50 schz
glueckwunschtelegramm
mit groszer freude und begeusterung nahmen wir den flug
des ersten kosmonauten um unsere erde zur kenntnis.-
wir beglueckwuenschen hiermit die ruhmreichen sowjetischen
voelker, die arbeiter und wissenschaftler, die konstrukteuere
und den ersten kosmonauten .- major garaxx gagarin –
zu diesem grandiosen erfolg.-
in der epoche des sieges des sozialismus im wwltmaszstab
begeistert uns diese grosztat und gibt uns neue kraft fuer
die erfuellung unserer taeglichen aufgbaben beim aufbau des
ersten groesseren deutschen atomkraftwerkes und des sozialismus
in der deutschen demokratischen republik -:
die belegschaft des
veb atomkraftwerkes roem. 1
kernkraft rhsbg
sed kl nrp

Und in den Maschinen-, nein Rittersaal führt mich schließlich der Kastellan, wo hoch oben das Wappen VEB SCHWERMASCHINENBAU-KOMBINAT ERNST THÄLMANN noch an der Katze über dem Laufkran prangt. Leider, erklärt er, sei fast nichts mehr von der alten Pracht erhalten. Und er schwärmt von den alten Zeiten und vom vergangenen Regime, als stolz die ganze Belegschaft Livreen trug aus weißem Feinripp, aufgestickt auf der Brust: KKW.

Neben einem Primär- und einem Sekundärkreislauf, mit dem die Wärme der Kernreaktion auf Wasser, auf Dampf und dann auf elektrische Energie übertragen wurde, gab es hier noch einen dritten Kreislauf, in dem, aus dem Nehmitzsee in eben jenem Kanal kommend, den ich entlanggefahren bin, Wasser die gesamte Anlage durchspülte, um, zehn Grad wärmer, in den Großen Stechlinsee abzufließen. Ein Verbindungskanal zwischen beiden Seen schloß den Kreislauf. Dreihundert Millionen Liter durchströmten täglich das Schloß und wälzten innerhalb eines Jahres den Großen Stechlinsee vollständig um. Seine märchenhaft-unterirdische Verbindung mit der Welt, vor der die schöne Melusine sich, trotz oder gerade wegen ihres Namens, so sehr fürchtet, und auf die der alte Dubslav im Stechlin so viel gibt, fand so ihr technisches Echo. Insofern gäbe es für sein Schloß tatsächlich keinen besseren Ort als diesen. Unsichtbar wirkt weiter, was wir nicht sehen und was es vielleicht gar nicht gibt.

Fontane hat das gewußt. Seine Wanderungen erzählen beinahe von nichts anderem. Trotz dieser Farbenpracht, fährt er in seiner Beschreibung von Schloß Karwe fort, macht alles einen ernsten und beinah düstern Eindruck und läßt uns auch ohne praktische Probe glauben, daß das Karwer Herrenhaus ein Spukhaus sei. Diese Behauptung steht seltsam unvermittelt in dem durchaus idyllischen Text. Und auch für den Schloßgeist, die schwarze Frau, von der er dann berichtet, findet sich kein Beleg in der Historie. Und doch hat der Schriftsteller Recht behalten. Karwe ist tatsächlich zum Spukschloß geworden, aber nicht in dem Sinn, daß es in ihm spukte: Es ist selbst zu einem Spuk geworden. Es gibt kein Schloß Karwe mehr, nicht einmal als Ruine.
Karwe gehört den Knesebecks in der vierten Generation, schreibt Fontane. Inzwischen ist es die achte. Krafft Freiherr von dem Knesebeck führt mich am See entlang, vorbei an einer Badestelle, hin zu einem kleinen Rondell aus drei Tannen, die jenen auf dem Gelände des Kraftwerks auffallend gleichen. Es seien die letzten von einundzwanzig, erklärt er. Diese einundzwanzig Tannen, heißt es bei Fontane, pflanzte der alte Feldmarschall im Sommer 1821, als die Nachricht nach Karwe kam, daß Napoleon am 5. Mai auf St. Helena gestorben sei. Was bleibt, was verschwindet? Das Wäldchen, in dem wir stehen, läßt den Park, der hier einmal war, nicht mehr erkennen. Wir schauen dorthin, wo einmal das Schloß stand, das 1983 abgerissen wurde. Es gibt ein Photo, das exakt unseren Blick auf seine Parkseite zeigt und wie es mit seinen zwei Flügeln in ihn hineinragt. Etwa dort, wo einst der pleasure ground war, befindet sich heute eine Wochenendhaussiedlung, jede Parzelle eingefaßt mit Maschendraht, darauf Bungalows der Baureihe B26c, die in der DDR mit einem Schlafraum, einem Wohnzimmer, kleiner Küche und Toilette als Fertigbausatz produziert wurden. Die Wandelemente, Fenster und Türen bereits montiert, bestanden aus Holzrahmen, außen mit Asbestzement- und innen mit Gipskartonplatten beschichtet. Die Pultdächer haben eine Neigung von zehn Prozent, das Dach besteht aus Asbestzementwelltafeln, der vordere Dachüberstand beträgt achtzig Zentimeter. Die Bungalows wurden nach dem Schloßabriß in den achtziger Jahren von der SED-Leitung Potsdam errichtet, und es wohnen dort noch immer ehemalige Lehrer der zugehörigen Bezirksparteischule. Grillstationen, Gartenzwerge, Sonnenschirme.

Wir wußten, wie es aussieht, erklärt von dem Knesebeck, wir hatten Photos. 1990 sei er mit seinem Vater Harro zum ersten Mal hier gewesen. Natürlich habe es in der Bevölkerung Angst gegeben, den Menschen solle nun wieder weggenommen werden, was sie in Besitz genommen hatten, doch darum sei es seinem Vater gar nicht gegangen. Er sei vielmehr aus Interesse an den Menschen nach Karwe gekommen, vor allem an jenen, die Anfang der vierziger Jahre vielleicht hinter dem Vorhang ihrer Fenster gestanden und gesagt hatten: Ach guck mal, da ist der junge Baron mit seiner Baronin! Damals nämlich hatte der Vater das Gut übernehmen sollen, es war schon mit dem Umbau begonnen worden im Südflügel, den er mit seiner Frau beziehen wollte. Wozu es dann nicht mehr kam.

Am eindrücklichsten sei das Zusammentreffen mit Hermann Behrend gewesen, dem Kutscher, der den Vater als einziger im Dorf noch kannte. Behrend habe darauf bestanden, die sechs Hektar Land, die ihm im Zuge der Bodenreform der DDR zugesprochen worden waren, wieder zurückzugeben. Er habe diese Übertragung immer als Unrecht empfunden. Der Moment beim Notar in Neuruppin. Als er da herauskam, habe der Vater erzählt, das sei ein Gefühl gewesen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Jetzt hast Du immerhin wieder sechs Hektar, habe er glücklich gedacht. Bald danach, 1993, sei er gestorben.

Am Giebel des Alten Gymnasiums von Neuruppin, das auch Fontane besucht hat, prangt das Motto CIVIBUS AEVI FUTURI – Den Bürgern des künftigen Zeitalters. Ich stelle mir vor, wie der alte Knesebeck damals, 1990, als gerade wieder einmal ein künftiges Zeitalter begann, mit dem ebenfalls altgewordenen Kutscher nach dem Notartermin am Bernhard-Braschplatz noch die paar Schritte zum Tempelgarten gegangen ist, den er aus seiner Kindheit kannte, und wie sie dort miteinander ein bißchen umherspazierten. Fühlten sich die beiden da, für einen kurzen Moment, vielleicht wieder im Einklang mit ihrer Welt, die es nicht mehr gab? Und wer kutschierte wen? Friedrich II. hat den kleinen ummauerten Park in seiner Jugend angelegt, der Kaufmann Johann Christian Gentz, der mit Torfabbau im Ruppiner Land reich gekommen war, ihn später erwoben, seine Söhne Wilhelm und Alexander, die beide eine große Sehnsucht nach dem Orient hatten, haben ihn entsprechend umgebaut. Die orientalischen Türmchen und Tore nehmen sich auch heute noch seltsam in der nüchternen preussischen Garnisonsstadt aus.

Vor allem Alexander Gentz hat Fontane interessiert. Man spürt, daß er in ihm, inmitten all der Geschichten vom alten Märkischen Adel, einen modernen, bürgerlichen Menschen-Typus erkennt. Ausführlich zitiert er aus seinen Lebenserinnerungen: Das kleine Ruppiner Leben war durchaus nicht nach meinem Sinn, lauter Dinge, die sich erst zum Bessern kehrten, als mich der Wandel der Zeiten in größere kaufmännische Verhältnisse führte: Kapitals-Assoziationen fanden statt, und eine der großen Gründerepoche der siebziger Jahre voraufgehende Aktienschwindelzeit brach gerade damals an. In sich verwerflich genug. Aber so verwerflich diese Zeit und ihre Manipulationen sein mochten, ja, mit so großen Verlusten sie für mich verknüpft waren – das ganze kaufmännische Leben erschien mir doch plötzlich in einem neuen Licht, und wenn mich früher das Kleinliche gelangweilt und auch angewidert hatte, so war jetzt etwas da, was mich interessierte, was Gedanken und Spekulationen in mir anregte. Mit den größeren Summen, die mir trotz und inmitten meiner Verluste doch immer reichlich wieder zu Händen kamen, ermöglichten sich Unternehmungen der mannigfachsten Art, Ankäufe kamen zustande, und große und kleine Liegenschaften, teils in Nähe, teils in mehrmeiliger Entfernung von Ruppin, wurden erworben, was schließlich dahin führte, daß wir, mein Vater und ich, eine halbe Quadratmeile Torf- und Wiesenterrain im Wustrauschen und im Rhin-Luch besaßen, ja, uns bald danach sogar in der Lage sahn, ein mit einigen fruchtbaren Ackerstreifen durchsetztes Stück Sandland von nicht unbeträchtlichem Umfang anzukaufen. Dies waren die nach Rheinsberg hin gelegenen ›Kahlenberge‹, die, nach ihrer Umgestaltung in Acker-, Forst- und Weideland, den Namen Gentzrode und ein oder zwei Jahrzehnte später sogar die Rittergutsqualifikation empfingen.

Vom Tempelgarten in Neuruppin sind es zehn Kilometer hinaus nach Gentzrode. Man folgt zunächst der Wittstocker Allee, die heute durch ein Gewerbegebiet mit Autohäusern und Diskountmärkten führt, dann der alten Landesstraße 16, die schnurgerade nach Norden in Richtung Rheinsberg durch den Wald läuft. Auf der Karte des Deutschen Reiches von 1893, die auf der Preußischen Generalstabskarte fußt und kleinste Wege und Pfade, Gehöfe und Bebauungen zeigt, liegt Schloß Gentzrode in einer Gesamtanlage aus landwirtschaftlichen Flächen und einem offenen Park, erreichbar über eine weit geschwungene Zufahrtsstraße.

1861 ließ Alexander Gentz einen Kornspeicher mit prächtigem Wohnturm errichten, aus hellen Ziegeln, mit ornamentierten Stufengiebeln und einer vergoldeten Kugel auf dem Turm. Seine Autobiographie sollte dort, wie Fontane schreibt, nach seinem Wunsch und Willen, in den großen vergoldeten Turmknopf des in vorstehendem ausführlich geschilderten Speicheranbaus deponiert werden. In diesem Turm wohnte die Familie zunächst, bis 1876 das Herrenhaus errichtet und durch Gustav Meyer, den Lenné-Schüler, der Park samt Mausoleum angelegt wurde. Die Mittel waren da, denn es war die Zeit unmittelbar nach den Gründerjahren, und Ansehn und Vermögen standen auf der Höhe, kommentiert Fontane lakonisch.

Die Zufahrtsstraße existiert noch, wenn auch so überwuchert, daß die schmalen Fahrspuren ihre Pflasterung nur erahnen lassen, dichtes Gebüsch schickt sich an, sie endgültig zu verschlucken, armdicke Birken- und Buchensprößlinge schließen sich über ihr. Nur gelegentlich tauchen am Wegesrand mächtige Eichen und Rotbuchen auf, Reste des Parks, dessen Konturen im nachwachsenden Gehölz längst verschwunden sind. Doch irgendwann öffnet sich eine kleine Lichtung. Dürres Gras, Reste von Feuerstellen, ein zweiflügliges Eisentor hängt offen in seinen Angeln, die rote Farbe von der Sonne ausgegebleicht. Dahinter das Gutshaus.

Auf Photos, die sich im Internet finden und die kaum zehn Jahre alt sind, steht es noch frei in den Resten der Park- und Hofanlage und man kann darauf die orientalisch anmutetenden Rundbogenfenster und die reichen Verzierungen des Ziegelmauerwerks betrachten. Heute sprießen die Birkenstämmchen, die schon damals begannen, sich im Gesims festzusetzen, aus allen Mauern, und der Kornspeicher mit seinem Turm ragt aus den Baumwipfeln hervor, als bemühte er sich verzweifelt, nicht im Grün zu versinken. Holzpaneele, die wohl die zerschlagenen Fenster ersetzen sollten, liegen überwuchert im Gras, in den Fensterrahmen, so es sie noch gibt, nur mehr Reste von Glas, auf der Eingangstreppe Gerümpel und Müll, im dunklen Entrée die Wände voller Graffiti, der Parkettboden herausgerissen, in den Ecken leere Flaschen und menschliche Exkremente, um die Fliegen summen. Aus den Löchern im Deckenstuck ragt das Stroh. Licht kommt aus dem ersten Stock herab, die Dächer gibt es nicht mehr. Der goldene Turmknopf ist verschwunden.

Was ich im Luch an Torfwiesen erstand, das hatte nur den Zweck des Gelderwerbes, meine Tätigkeit in Gentzrode dagegen war meine Lust und Freude. Zugleich hab ich es ins Leben gerufen, um es zur Grundlage für den Wohlstand und Zusammenhalt einer Familie zu machen, denn der Grundbesitz bleibt das sicherste und stabilste Besitztum, heißt es in Alexander Gentz’ Autobiographie. Fontane kommentiert: So schrieb er damals, ahnungslos, wie bald diese Herrlichkeit und mit ihm der stolze Plan eines andauernden Familienbesitzes zusammenbrechen würde. Die Katastrophe war nah. Denn alles hing am Torfabbau im Luch. Doch dann kam Torf außer Mode, man verbrannte jetzt lieber Steinkohlebriketts in den Berliner Wohnungen. Und so hieß es am 25. Mai 1880 an der Berliner Börse: Gentz ist bankrutt.

Das Gut wurde für einen Bruchteil seines Wertes verkauft und die lange Folge seiner Besitzerwechsel begann. Fontane nennt für 1888 einen früheren bremensischen Konsul in Argentinien, Herrn F. W. Nordenholz. Dieser gedenkt das Gut zu halten und in dem Geiste weiterzuführen, der es vor grad einem Menschenalter ins Leben rief. Es soll aufhören, ein Spekulationsobjekt zu sein, sondern umgekehrt wieder ein Gegenstand des Pflanzens, der Passion, des landwirtschaftlichen Versuchs werden. Doch dieser Wunsch, der offensichtlich auch der Fontanes ist, bleibt unerfüllt. Das Gut wird wieder und wieder verkauft, niemand hält es lange, 1934 wird es schließlich Schießplatz und Munitionslager der Wehrmacht, 1945 dann von der Roten Armee übernommen.

Bis zum Sommer 1991 ist hier die 112. Garderaketenbrigade der 2. Panzerarmee stationiert, nach deren Abzug beginnt der Verfall. Immer neue Versprechungen der wechselnden Besitzer erweisen sich als haltlos. Seit 2010 gehört Gentzrode türkischen Investoren, deren Pläne zur Rettung der historischen Bausubstanz nie umgesetzt wurden. In der offiziellen Denkmalliste des Landes Brandenburg wird es noch geführt, doch eigentlich gibt es das Schl0ß schon nicht mehr. Das Wachsende, gut oder nicht gut, beendet Fontane sein Kapitel über Gentzrode, tritt an die Stelle des Fallenden, um über kurz oder lang selber ein Fallendes zu sein. Das ist ewiges Gesetz.

Es ist diese Einsicht, gegen die er sein Projekt der Wanderungen begann, bei dem es ihm nicht so sehr darum zu tun war, die Mark, auch nicht historisch, abzuschildern, sondern durch Einbildungskraft erst hervorzubringen. Der Zweck meines Buches, schreibt er 1861 in einem Brief, sei es gewesen, die Lokalität wie die Prinzessin im Märchen zu erlösen. Abwechselnd bestand meine Aufgabe darin zu der Unbekannten, völlig im Wald versteckten vorzudringen, oder die vor aller Augen Daliegende aus ihrem Bann, ihren Zauberschlaf nach Möglichkeit zu befrein. Die Schlösser, die er schildert, waren schon zu seiner Zeit so verlassen wie heute. Fast immer geht er durch leere Räume.

Ein wenig tröstet mich das, wenn ich heute, nach dem radikalen Bruch von 1945, nurmehr auf Museen, Seniorenheime und Hotels treffe, wo einmal die Geschichte von Familien sich mit der Landschaft auf jene Weise verwob, die Fontane so kostbar war. Jede Reise auf seinen Spuren ist ebenso Rekonstruktion von etwas, das es nie gegeben hat, wie es seine Wanderungen selbst schon waren. Kleists grüne Gläser werden wir dabei niemals los. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.

Die Parzellen, auf denen die Bungalows im ehemaligen Park von Schloß Karwe stehen, gehören noch immer der Stadt Neuruppin. Krafft von dem Knesebeck hat sich, um Ärger mit den Nachbarn zu vermeiden, gar nicht erst darum bemüht, als er nach und nach das Gut seiner Vorfahren zurückkaufte. Sein Plan ist vielmehr, es so zu restaurieren, daß irgendwann schon der Anblick der Bungalows im Schloßpark unerträglich sein wird. Die Dinge gehören einem und gehören einem auch nicht. Man steht in einer Reihe.

Seltsam: Mit derselben Selbstverständlichkeit zogen wohl auch die sozialistischen Ingenieure des Kernkraftwerks in ihre neu errichteten Werkswohnungen in Rheinsberg. Wieder hatte ein künftiges Zeitalter begonnen, das den Menschen mit seinesgleichen versöhnen sollte. Der Himmel stand blau über der sommerlichen Mark. Ich blättere in einem Brigadebuch vom Anfang der achtziger Jahre und lese, in blauer, runder Füllerschrift:

Abends endlich Sonnenschein,
wie könnt es auch anders sein.
Wir gehen heut zur Gartenfete,
wenns regnet wäre es doch blöde.
Verführerisch zieh’n Bratwurstdüfte
bei Schinks durch zarte Gartenlüfte.
Als Chefkoch, da fungiert der Meister,
Erdbeerbowle beschwingt die Geister,
gemischter Chor singt frohe Lieder,
Gläser kreisen immer wieder.
So sitzt vergnügt in froher Runde,
WT vereint zu später Stunde.
Der Hausfrau noch ein Lobgesang,
wir alle sagen herzlich Dank.

WT steht laut Abkürzungsverzeichnisses des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik für Waffenträger. WT vereint zu später Stunde. Adeliges Selbstverständnis auch hier. Das MfS hatte im Kernkraftwerk ein eigenes Dienstzimmer, Raum 234. Als ich in das Zimmer trat, saßen dort drei Männer, heißt es in einer Dokumentation. Die fragten mich: „Wollen Sie mal nach Verona, Paris oder London fahren?“ Die Grand Tour im Zerrbild der Staatssicherheit.

Gentzrode war dagegen ein ganz und gar bürgerliches Projekt, getrieben von der Hoffnung, die Spekulationsgewinne der Gründerzeit auf Dauer stellen zu können, von der Sehnsucht nach einer Nobilitierung durch das Land. Diese Sehnsucht konnte sich nicht erfüllen, weil das Land nicht mehr die Basis des Erfolges war, und so gleicht Gentzrode heute folgerichtig eher einer Industriebrache als jenem Schloß, das es einmal werden sollte. Und ebenso folgerichtig verwandelt sich das Kraftwerk Rheinsberg, das 1990 vom Netz ging – im selben Jahr, in dem Harro von dem Knesebeck erstmals zurück nach Karwe kam -, langsam in eine mittelalterliche Ruine. Das künftige Zeitalter, das es hervorbrachte, ist vergangen. Das grüne Glas im ehemaligen Druckreaktor wird demnächst verschwinden. Alles, was einmal hier haftete, wird dekontaminiert. Übrig bleiben wird eine Gebäudehülle, die keinen Zweck mehr hat und keine Geschichte.

Vielleicht die größte Sehenswürdigkeit Rheinsbergs, schreibt Fontane etwas überraschend, ist der Obelisk, der sich, gegenüber dem Schlosse, am jenseitigen Seeufer auf einem zwischen dem Park und dem Boberow-Walde gelegenen Hügel erhebt. Daß Fontane dieses Denkmal so schätzt, verwundert. Errichtet vom Bruder Friedrich II., feiert es militärische Helden des siebenjährigen Krieges, die vom König um ihr gebührendes Gedenken gebracht worden waren. Es hat nichts genutzt. Mühsam versuchen die Touristen die Elogen zu entziffern, die der feingeistige Prinz einst auf Französisch verfaßte, für Tauentzien, Möllendorf, Platen und all die anderen märkischen Waffenträger. Sie umkreisen dabei den Obelisken wieder und wieder und verstehen nicht, weshalb es ihn gibt.

Lange sitze ich auf einer Bank im Schatten einer Eiche und beobachte sie. Wer ist ein Humorist? fällt mir plötzlich die Frage eines Kollegen Fontanes ein, den dieser nicht sehr schätzte, und seine Antwort: Der den winzigsten aller Nägel in die Wand oder die Hirnschale des hochlöblichen Publikums schlägt, und die ganze Garderobe der Zeit und aller vergangenen Zeit dran aufhängt. Und es kommt mir so vor, als wäre der Obelisk tatsächlich dieser winzigste aller Nägel, getrieben in die Stirn des blauen Sommerhimmels über der Mark, und alles beginnt sich um ihn zu drehen, um ihn und um mich, drei verschwundene Schlösser, drei Tannen, verschiedene Tage im Mai.

Krafft Freiherr von dem Knesebeck, ein großer, schlaksiger Mittsechziger, sitzt unter den Bildern seiner Ahnen, die eine ganze Wand im ehemaligen Pferdestall von Karwe bedecken, in dem er seit 1992 lebt. Nach und nach, erzählt er, seien einige der Dinge aus dem verschwundenen Schloß zu ihm zurückgekehrt. Ein Silberbecher etwa, den ein Lagerarbeiter beim Spielen in den Kellergewölben gefunden und jahrzehntelang aufbewahrt habe, sein größter Schatz in Kindertagen. Einmal sei ein Päckchen mit einem anonymen Brief gekommen. Nachdem sie gehört habe, ein Knesebeck sei wieder auf Karwe, schicke sie hier ein Buch, das die Mutter, mit dem russischen Kommandanten befreundet, für sie einst aus der Bibliothek mitgenommen habe, ein schön illustrierter Band über Schmetterlinge mit dem Ex Libris der Karwer Schloßbibliothek. Und eines Tages habe eine ältere Frau aus dem Dorf bei ihm geklopft und zwei Meißner Teller zurückgebracht. 1945 habe sie einen russischen Soldaten für sich und ihre Mutter um Teller gebeten und der Soldat habe daraufhin einen ganzen Stapel aus dem Schloß geholt, sie aufgefordert, zwei herunterzunehmen, und nachdem sie dies tat, lachend die Arme ausgebreitet und der ganze Stapel sei auf dem Pflaster in Scherben gefallen.

Und irgendwann hat jemand ein Medizinfläschen vorbeigebracht, erzählt Krafft von dem Knesebeck, das er als Kind im Schloß gefunden habe. Der angehängte Zettel wies die Apotheke von Fontanes Vater in Neuruppin als Herkunft und Cäcilie von dem Knesebeck als Empfängerin der Medizin aus, die ihr also als Kind vor zweihundert Jahren verabreicht worden sein muß. Er reicht mir das Fläschchen und ich betrachte es lange. Muß an meine Tage hier im Ruppiner Land denken, die nun zu Ende gehen, und gebe es ihm zurück. Im Stechlin ist die Farbe der ganz ähnlichen Arznei, die der alte Dubslav vor seinem Tod erhält und die ihm so gar nicht schmeckt: grün.

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Emphatische Lektüre (2): Wilhelm Raabe.

  Seminar im Sommersemester 2019 an der Technischen Universität Berlin. Workshop mit Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Jakob Nolte, Monika Rinck und Ingo Schulze.

Im Theater trennt die vierte, die unsichtbare Wand die Bühne vom Zuschauerraum. Alles, was dort oben geschieht, könnte auch stattfinden, ohne daß jemand zusieht. In der Literatur, deren Sätze erst in unseren Köpfen zu Bildern werden, zu je anderen, verschiedenen, kann es diese Wand eben deshalb gar nicht geben. Was es gibt, ist die Konvention, wir würden den Geschichten, die wir lesen, einfach zusehen, aber das stimmt nicht. Literatur verhandelt immer mit, was zwischen ihr und ihren Lesern tätsächlich geschieht. Das ist ihr sozusagen struktureller Realismus. Die Modernität jener Texte, die das explizit zum Thema machen, bleibt sich daher immer gleich, egal, wann sie geschrieben wurden. Laurence Sterne etwa und Jean Paul gehören in diese Genealogie. Auch Wilhelm Raabe mit seiner Novelle Zum wilden Mann ist in diesem Sinn modern.

Und so fängt diese Geschichte an: Es ist Herbst, es regnet, es wird Nacht. Ein Dorf. Ein zweistöckiges, dem Anscheine nach recht solides Haus mit einer Vortreppe liegt zur Seite der Straße vor uns, ringsum rauschende, triefende Bäume – gegenüber zur Rechten der Straße ein anderes Haus – weiter hin, durch schwächeren Lichterschein sich kennzeichnend, wieder andere Menschenwohnungen: der Anfang einer dreiviertel Stunde gegen die Berge sich hinziehenden Dorfgasse. (…) Wir suchen einfach, wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, daß das ganze Haus widerhallt: wir sind darin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom wilden Mann! – – Daß wir uns in einer Apotheke befinden, merken wir auf der Stelle auch am Geruche.

Der Leser und der Erzähler: in der Geschichte vereint. Aber was bedeutet das? Machen sie gemeinsame Sache? Was ist die Aufgabe des solcherart in die Geschichte eingeführten Lesers? Kann man diesem Erzähler vertrauen? Für Wilhelm Raabe war klar, daß sich in seinen oft handlungsarmen späten Romanen zwar  ein wirklicher Inhalt finde, von dem aber ein Drittel (…) der Leser selber herauszudenken, fühlen und empfinden habe.

Fühlen und empfinden als Aufgabe des Lesers: Besser als mit diesem Satz von Raabe läßt sich der Sinn dieser Veranstaltung mit dem Titel Emphatische Lektüre nicht zusammenfassen, die ich jetzt im zweiten Jahr an der TU Berlin und in Kooperation mit dem LCB durchführe. Unterstützt von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, lade ich vier Autoren zu einem Workshop-Tag mit den Studenten ein und bitte sie um Essays, Reflexionen, Weiter- oder Umschreibungen eines kanonischen Textes, die wir dann mit den Studenten diskutieren. 

In diesem Jahr handelt es sich dabei um die Novelle Zum wilden Mann, deren Anfang ich Ihnen gerade vorgestellt habe. Als Teil der Krähenfelder Geschichte“ ist sie 1873 entstanden, in eine Umbruchsphase in Wilhelm Raabes Werk. Er beginnt hier, mit neuen Erzählformen zu experimentieren, die ihn weit über die Selbstbeschränkungen des Realimus hinausführen, dem die Literaturgeschichte ihn gemeinhin zuschlägt. 

Die literarischen Gäste sind in diesem Jahr Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Jakob Nolte, Monika Rinck und Ingo Schulze – alle so bekannt, daß ich Sie Ihnen nur ganz kurz vorstellen möchte. 

Daniel Kehlmann, in München geborener österreichischer Schriftsteller, der in New York lebt, gehört spätestens seit die Die Vermessung der Welt von 2005 zu den internationalsten deutschsprachigen Autoren. In seinen Roman erkundet er immer wieder neu die Weise, wie Literatur tradierte Stoffe gegenwärtig aufnehmen und wie sich im Konzert der Fiktionen behaupten kann.

Sibylle Lewitscharoff, Büchner-Preisträgerin des Jahres 2013, hat hier an der FU Religionswissenschaft bei Klaus Heinrich und Jacob Taubes studiert. Transzendenz, Glaubenswirklichkeit und Wahnsinn spielen in all ihre Romanen eine große Rolle. Jakob Nolte schreibt gemeinsam mit Michel Decar Theaterstücke. In seinem letzten Roman Schreckliche Gewalten geht es, Raabes Text nicht ganz unähnlich, um den Umgang mit einem familiären Schicksal, das sich in einem mütterlichen Werwolf realisiert.

Monika Rinck ist die einzige Lyrikerin unter den Gästen. Auf atemberaubende Weise verbindet sie in artistischen Registerwechseln durch alle möglichen Sprachebenen in ihren Gedichten und Essays Abstraktion und Konkretion. Sie umkreist dabei oft gleichermaßen erkenntnistheoretische wie ethische Fragen.

Und Ingo Schulze schließlich hat sein bisheriges Werk einem einzigen historischen Moment gewidmet: dem Verschwinden der DDR und der Frage nach dem Neuen, das damals entstand oder auch nicht. Seine Bücher von 33 Augenblicke des Glücks bis zuletzt Peter Holtz warenjeweils Bestseller einer realistischen Literatur, die gesellschaftliche Prozesse deutlich machen will und dabei auf das Verhältnis von Realität und Erfindung fokussiert.

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Paulus Böhmer (* 20.9.1936 - † 5.12.2018).

  Nieder-Ofleiden, 15.12. 2018

Über Paulus‘ Dichtung ist immer wieder gesagt worden, sie sei ein Gesang, der keinen Anfang habe und kein Ende. Das ist falsch, ja es ist Kitsch. Denn sein Gesang begann einmal genau hier. Und er endet jetzt genau hier, an diesem Ort und in diesem Augenblick, in der Landschaft seiner und meiner Kindheit.

Und daß das so ist und einmal so sein würde und sein muß, ist der Grund für die Trauer, die all seine Gedichte grundieren. Aber dieses Wissen ist zugleich auch der Grund für die verzweifelte Feier der Schöpfung, die sie ausmachen. Denn das erzählen sie uns vom Menschen: daß er nichts ist als ein wimmelndes Leben unter Abermilliarden, und daß er dennoch einzigartig ist, so einzigartig wie jeder Pavianarsch und jede Supernova, und daß all seine Wünsche und Sehnsüchte berechtigt und all seine Leiden und seine Erniedrigungen Skandal sind. Daran erinnern Paulus‘ Gedichte in jeder Zeile und damit erinnern sie an das, was einzig nottut: Zärtlichkeit.

Man kann es im Furor seiner Verse leicht übersehen, aber sie ist es, die all die Häufungen und Beschreibungen und Aufzählungen, all die schmerzhaften und schönen Bilder, hält und stabilisiert: die Zärtlichkeit gegenüber allem, was ist. Und nichts anderes als dieses schutzlose, ohnmächtige, dumme Gefühl bleibt uns angesichts des dahinrollenden Verhängnisses, als das Paulus die Schöpfung immer beschrieben hat. Doch wie unendlich viel ist dieses Gefühl.

Die erste Zeile von Paulus, die ich mir gemerkt habe, vor ziemlich genau dreißig Jahren, sie steht in Darwingrad, lautet: Du bist schön wie eine million Waggons. Es ist nichts als die Zärtlichkeit, die dieses obzöne Bild rettet. Aber sie rettet es. Und das ist viel. So, wie Lydia und Paulus mit ihrer Zärtlichkeit mir in all den Jahrzehnten ein Rettungsanker gewesen sind. Das Herz ist die tollere Grube, beginnt der neunte Kaddish von Paulus Böhmer.

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Emphatische Lektüre (1): Heinrich von Kleist.

  Seminar im Sommersemester 2018 an der Technischen Universität Berlin. Workshop mit Aris Fioretos, Felicitas Hoppe, Olga Martynova und Ulrich Peltzer.

Als man den jungen Literaturwissenschaftler Walter Höllerer 1959 an die TU Berlin berief, betonte er, wie gern er gerade an einer Technischen Universität lehren möchte. Sprache im technischen Zeitalter, der auf Arnold Gehlen anspielende Name des von ihm gegründeten Instituts, drückt aus, weshalb das so war. Und noch immer beschreibt diese Formel – Sprache im technischen Zeitalter – die Aufgabe, vor der jede Beschäftigung mit Literatur unserer Gegenwart steht, und angesichts der rasanten technologischen Entwicklung mehr denn je. Dabei gilt: Die téchne des Lesens ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt, den Text und seinen Leser, indem sie zuallererst den Raum erschafft, in dem Literatur möglich ist.

In unserem technischen Zeitalter aber geht zunehmend verloren, was Lektüre neben einem Verständnis für die Geschlossenheit eines bestimmten literarischen Textes, dem Wissen um seinen Traditionsraum, den Techniken der hermeneutischen Aneignung dabei einmal vor allem ausmacht: die Überschreitung der Integrität des Lesers. Auf die Möglichkeit einer solchen Überschreitung aber ist sie fundamental angewiesen, will sie mehr sein als die Abschilderung des Tatsächlichen. Nur, wenn ein Leser bereit ist, sich lesend selbst in die Waagschale zu werfen, als ganze Person mit allen Vorurteilen, Sehnsüchten und Wünschen, realisiert sich ein literarischer Text, und wird die Lektüre mehr ergeben als ein Geschmacksurteil. Emphatische Lektüren zielt auf eine solche Lesepraxis.

Dabei ist der Ort nicht zufällig gewählt. Der Geodätenstand auf dem Dach des Hauptgebäudes der TU, fast zeitgleich mit der Berufung Höllerers fertiggestellt, ist ein Meßlabor, dessen Boden absolut schwingungsfrei gelagert ist, um hochpräzise Messungen von Entfernungen, Winkeln, Laufzeiten und Strahlungen durchführen zu können. Jeder Leser geht zunächst ganz wie ein Geodät vor, indem er Perspektiven im Text einnimmt, Horizonte der Bedeutung fixiert, und die Geschichte im Lesen ausschreitet. Eine emphatische Lektüre nun nimmt in den Blick, was eine solche objektivierende, wissenschaftliche Lektüre zwangsläufig leugnt, daß nämlich der Leser selbst das Meßinstrument ist, und daher die Erstellung eines Katasters im Sinne einer gültigen Deutung eines literarischen Textes möglich und unmöglich zugleich ist. Ihr wird, anders gesagt, das Verirren zum Ziel.

Um eine Einübung in ein solches Verirren, um eine Befreiung des Lesers von sich selbst, geht es in dieser von mir initiierten Veranstaltungsreihe, erprobt jeweils an einem kanonischen Text und befeuert durch poetische und poetologische Interventionen von Schriftstellern, die zu einem Workshop mit den Studenten eingeladen werden. Der Text ist in diesem Semester Heinrich von Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili, die Autoren sind Aris Fioretos, Felicitas Hoppe, Olga Martynova und Ulrich Peltzer.

Das Erdbeben in Chili also. Kleists berühmte, wohl in Königsberg im Frühsommer 1806 geschriebene Erzählung bezieht sich auf ein konkretes historisches Ereignis, das Erdbeben in Santiago de Chile am 13. Mai 1647, verwies aber für alle zeitgenössischen Leser auf eine andere, ungleich größere Naturkatastrophe, die zu den theologischen, philosophischen und medialen Urkatastrophen der Moderne gehört: Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755. Alles, schreibt Kant, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen.

Die Barbarei dieser Katastrophe, die zehntausenden das Leben kostete, verbreitete sich mit mit Windeseile in ganz Europa und zerstörte den Glauben, daß der Mensch in einer von Gott gut eingerichteten Welt lebe, für immer. Was bleibt nach dem Verlust dieser Gewißheit? Literatur. Am Ende seiner Schilderung schreibt Kant: Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen.

Doch ganz so einfach ist es nicht mit den geschickteren Händen. Sie haben hinsichtlich des Herzens ihre eigene Meinung, zum Beispiel zur Sentimentalität. Der Abschied hat mir das Herz zerrissen, läßt etwa Felicitas Hoppe an einer Stelle ihre Figur Felicitas Hoppe in ihrem Roman Hoppe sagen, und fügt hinzu: Aber gleich heute Morgen beim Frühstück hat mein Entführungsvater mir genau erklärt. wie schnell so ein Herz wieder zusammenwächst, ein Wunder der Anatomie. Er hat übrigens recht. Und Ulrich Peltzer stellt in seinen Frankfurter Poetikvorlesung klar: Schreiben ist kein therapeutischer Akt, Schriftsteller sind keine Kranken, die sich und ihre Nächsten selbst behandeln, sondern sie lesen die Symptome der Welt; selbst wenn sie nichts davon wissen wollen. Sie lesen sie, ohne sie zu kategorisieren, denn sowenig das Schreiben ein therapeutischer Akt ist, ist es einer von statistischer Diagnostik, von politischer Beweisführung oder Parteinahme. Die Inanspruchnahme der Literatur, und sei es für die gute Sache, erweist sich als kompliziert. Zustimmend zitiert Aris Fioretos Jean-Luc Godard, der auf die Frage What do you mean exactly? antwortete: I mean, but not exactly.

Und Kleist selbst? 1801, er hat gerade Kants Philosophie kennengelernt, die ihn in eine tiefe Krise stürzt, und vier Jahre, bevor er in das Königsberg des kurz zuvor gestorbenen Philosophen reist, um dort Das Erdbeben in Chili zu verfassen, schreibt er an seine Verlobte: Wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins u seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich u die Seele u das ganze Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht giebt — kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten u mit Andacht ißt er ihn auf.

Welche Haltung kann man, wenn man so denkt, als Schriftsteller zu einer Katastrophe einnehmen? Ich glaube, schreibt Olga Martynova in ihrem Essayband Über die Dummheit der Stunde nachdenklich, daß die Lissabonner, die seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nach und neben der Katastrophe leben, ein Geheimnis kennen: Es gibt Dinge, die nicht überwunden werden können. Wenn das zutrifft, handelt Kleists Erzählung, eher, als daß sie Mitgefühl für die Katastrophe erreichen wollte, von deren Nichtüberwindbarkeit.

Das macht es dem Leser zunächst einmal nicht leicht. Denn die Erklärung der Welt, ihre Vermessung bis in die Tiefen des Leids hinein, ist – um noch einmal zum Geodäten zurückzukommen – das, was man von der Literatur erwartet, heute ebenso wie zu Zeiten Kants. Als ich mit den Studenten über Kleists Text spreche, formulieren sie Widerstände. Der Text verweigere all das, was sie von Literatur erwarten. Was das denn sei, frage ich. Vor allem eine Identifikationsmöglichkeit mit den Protagonisten, sagen sie, etwas nachempfinden und sich selbst wiederzufinden zu können. Und ihre Neugier darauf, wie eine Geschichte weiter- und ausgeht, werde von der Willkür der Handlung enttäuscht. Auch jene auf die Person des Autors, über den sie in seiner Literatur etwas zu erfahren hoffen. Und schließlich ihr Interesse am Thema, das ein Text habe. Das Thema aber sei in Kleists Erzählung ganz unklar. All diese üblichen Erwartungen sind Teil jeder Lektüre, und doch fehlt dieser Aufzählung etwas. Und daß es fehlt, sagt gleichermaßen etwas über den Text wie über seine Lektüre aus.

In seinem Essay über den Roman, der den Titel Wasser, Gänsehaut trägt, beschreibt Aris Fioretos ein griechisches Gefäß aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert und vor allem die Bilderfolge darauf. Sie enthalte das meiste, was man sich von einem Roman wünschen kann. Es finden sich darauf Spannung, Schönheit, Verstecke, Besinnung, Präzision, jäher gewaltsamer Tod und eine überraschende Geburt. Besser läßt sich Kleists Erdbeben in Chili nicht charakterisieren, zumal Fioretos hinzufügt: nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Denn Kleists Erzählung beginnt mit der Geburt, einer Geburt, die ein unstatthaftes Liebesverhältnis ans Tageslicht bringt. Was weiter geschieht, läßt sich mit Spannung, Schönheit, Verstecke, Besinnung, Präzision, jäher gewaltsamer Tod gut beschreiben: Ein Liebespaar entkommt durch das Erdbeben glücklich Tod und Gefängnis, findet inmitten der Katastrophe in der Atempause einer Nacht einen Moment des Friedens und der Liebe, und wird am Ende vom rasenden Mob der sich neu konstituierenden Gesellschaft getötet. Ihr Kind überlebt, doch nur zu dem Preis, das ein anderes irrtümlich an seiner Stelle erschlagen wird.

Wasser, Gänsehaut: Fioretos bezieht in seinem Essay die Archaik des Vasenbildes zurück auf die archaische Grundlage aller Lektüre: Ein Roman ist kaltes Wasser, das unsere Haut berührt, der Schauer der Lektüre gleicht ihrer physiologischen Reaktion. Wo eine empathische Lektüre mit ihrem Bedürfnis nach Identifikation beim Rätselcharakter der Kleistschen Erzählung an ihre Grenze stößt, ist eine emphatische, bei der der Leser seiner Haut vertraut, den Text auf eine gänzlich andere Weise einzuholen in der Lage, denn im Rätsel findet eine solche Lektüre ihre Probe aufs Exempel. Was aber macht das Rätsel der Kleistschen Texte aus? Es sind, in seinen Dramen, die Figuren. Jede seiner Figuren, schreibt Max Kommerell, kann Rätsel sein für sich, für einen Partner, für die Umwelt, für uns. Von da an kann der dramatische Vorgang auf Verschiedenes zielen: eine Figur kann über sich, eine andere kann über sie wissend werden, Stufen des Begreifens können an den vorher nicht Begreifenden erscheinen, zwei aufeinander bezogene rätselhafte Charaktere können sich aufhellen oder verwirren oder endlich: jeder Betroffene kann sich für oder gegen das Rätsel entscheiden. Immer aber schreitet das Drama vom Vortrag des Rätsels zur Enträtselung. Zugleich aber bleibt etwas am Rätsel Rätsel; oder ein aufgelöstes verliert sich in den Abgrund eines neuen Rätsels; das geratene Rätsel eines anderen kann den, der es rät, in sich zweideutig machen; und ein eigenes Rätsel zu raten führt bisweilen in jede Unseligkeit des Lebens, in jede Seligkeit des Todes. So zeigt das Rätsel, indem es sich zu lösen scheint, seine Unlösbarkeit, und das Drama bedeutet: Verrätselung.

Was aber bedeutet das für Kleists Prosa? Max Kommerell betont, daß Kleist in seinen Erzählungen das Geheiminis veräußerlicht, das heißt, es aus der Person in das Faktum verlegt. Das Rätsel des Faktums aber ist der Zufall, von dem man nicht weiß, ob und in welcher Weise er Schicksal ist. Folgt man Komerell, zeigt sich in seinem Wirken gerade nicht die Vergeblichkeit allen Handelns der Figuren, sondern er wäre der Modus ihrer Ver- und Enträselung. Nur scheint es im Erdbeben in Chili keine einzige Figur zu geben, die von den Schicksalschlägen der Kleistschen Dramaturgie zu sich hingetrieben würde, und insbesondere das Liebespaar, das im Mittelpunkt steht, bleibt sich anrührend gleich. Nur ein einziger Satz verweist auf den Rätselcharakter des Textes, der bei aller Durchsichtigkeit der Handlung gleichwohl von Anfang an über ihm liegt wie der glänzende Firnis über einem Schlachtengemälde, und bei diesem Satz handelt es sich um den berühmten allerletzten: Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.

Don Fernando? Er, der versucht hat, die Liebenden zu retten, sich dabei als zu schwach erwies, und dessen Kind man den Kopf an einem Kirchenpfeiler zerschmettert hat, soll sich freuen? Freuen müssen? Freuen dürfen? Es macht die Tiefe dieser Erzählung aus, daß Kleist gerade diesen Don Fernando, der ganz am Rand des Schicksal zu stehen scheint, das der Text verhandelt, am Ende ganz in sein Zentrum rückt. Am Ende bleibt wir genau so wie er mit dem Rätsel einer Emphase zurück, die wir nicht zu entschlüsseln vermögen, und die uns doch gleichermaßen erfüllt. Wie die Folter aus einem Menschen die schlimme Wahrheit hervornötigt, schreibt Max Komerell, so foltert das Kleistische Schicksal eine Seele, bis sie die Wahrheit preisgibt; aber diese Wahrheit heißt: daß die Seele schöner ist, als sie sich selbst gedacht hat.

 

 

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Unsere leeren Herzen. Über Literatur.

  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.

Man hat mir das Bild einer Toten aufs iPhone geschickt, und obwohl ich es nach dem Schock des ersten unbedarften Blicks vermeide, das Bild zu betrachten, das nun im Speicher meines Telephons liegt, hat das Gerät dadurch seinen Charakter verändert. Ist zu etwas geworden, was Speicher wohl immer waren, was wir aber in unseren medialen Zeiten der bewegten, der belebten Bilder gerade dabei sind zu vergessen: ein Grab. Und wenn ich wieder einmal daran denke, was das Telephon enthält, kommt es mir tatsächlich so vor, als trüge ich einen kleinen Sarg in der Hand.

Es widerstrebt mir, dieses Bild zu beschreiben. Nicht nur, weil, was ich vorher nicht wußte, tatsächlich eine furchtbare, unbeschreibbare Differenz zwischen dem Gesicht eines lebendigen Menschen und dem eines Toten besteht, sondern weil man diese Differenz als obszön empfindet und zugleich auf eine obszöne Weise als wahr. Weil ein solches Bild einen Körper so dinghaft zeigt, wie wir lebendige Menschen niemals sehen, denkt man: Dieses Bild dürfte es nicht geben! Man möchte, wenn es einen Sinn hätte, protestieren dagegen, daß ein solches Bild in der Welt ist. Und man fragt sich: Was ist das eigentlich für eine Sache, die da anstelle des Gestorbenen da ist? Und was ist es, das nicht mehr da ist?

Dabei weiß ich, was das Bild zeigt: Es zeigt meine erste große Liebe. Sie war es für uns beide, sie dauerte zehn Jahre, und in den fünfundzwanzig Jahren seitdem sind wir uns nur noch wenige Male begegnet. Und jetzt hat man mir ein Photo ihres Gesichts geschickt, den Kopf mit geschlossenen Augen zur Seite geneigt, entspannt, möchte man meinen, tot, sagte man mir. Ein dünnes bläuliches Aderngeflecht ist an der Schläfe unter der Haut zu sehen. Das Bild, sagte man mir, wurde an einem Strand in Kambodscha aufgenommen, in der Nähe von Sihanoukville. Sie sei, sagte man mir, aus dem Wasser gekommen, habe sich gebückt, um ihre Sachen zu nehmen, sei zusammengebrochen und fast im selben Moment gestorben.

Speicher, darüber täuscht unser Lachen in die Kamera nur hinweg, sind immer schon jene Orte gewesen, an denen wir alles, was tot ist, aufbewahren für die Ewigkeit. Literatur ist einer unserer ältesten Speicher. Insofern hat Schreiben stets auch mit dem Tod zu tun. Aber wenn ich jenes Bild betrachte, das meine erste Liebe zeigt, will ich schier verzweifeln darüber, daß ich ihren Tod darauf sehe und es mir doch nicht gelingt, ihn zu sehen. Als ob eine atmosphärische Störung über dem vertrauten Gesicht läge, die selber keine faßbare Kontur hat und doch alles verdeckt.

Ein Text von John Berger kommt mir in den Sinn, in dem er beschreibt, wie er eine Zeichnung seines toten Vaters anfertigte. As I drew his mouth, his brows, his eyelids, as their specific forms emerged with lines from the whiteness of the paper, I felt the history and the experience which had made them as they were. Das ganze Leben, das der Vater mit ihm geteilt und das ihn, den Sohn, ebenso geformt hat wie die Züge des Vaters, spürte Berger in diesem Moment und zugleich, daß die einzigartige Individualität, die dieses Leben unter Schmerzen und Freuden, unter Zweifeln und voller Hoffnung, sehnsüchtig und ängstlich, müde und erschöpft ausgebildet hat, daß dieses ganze Leben, Ziel all unserer Bemühungen, einfach für immer verschwindet. Of all that I could see, schreibt Berger, only the drawing would remain. Diese Zeichnung aber, Speicher und Ort des Todes, ermöglicht das, was Berger corriger la fortune nennt, nämlich den Versuch, das Schicksal alles Lebendigen zu korrigieren. Und weil das so ist, ist das Blatt, auf das John Berger das Gesicht seines Vaters zeichnete, in Wirklichkeit niemals leer gewesen. Weil es den Tod gibt und den Schmerz über ihn, gibt es kein weißes Blatt. Zwar sind wir alle Kreaturen und jede Kreatur ist ein Geschöpf, doch die Kreation aus dem Nichts ist eine Erfindung des Alten Testaments, die vor langer Zeit einmal tröstlich gewesen sein mag, aber für uns, wenn wir ehrlich zu uns sind, nicht mehr gilt. Weshalb Kreativität heute etwas für Friseure ist. Es gibt kein weißes Blatt. Niemals. Unser Schmerz ist immer schon da.

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Komm’ an meinen leeren Schreibtisch voll von meinen Träumen.

  Rede zum Wolfgang-Koeppen-Preis, Greifswald 23.6.2016.

Verehrter Herr Bürgermeister, lieber Karl-Heinz Ott, sehr geehrte Damen und Herren!

Komm’ an meinen leeren Schreibtisch voll von meinen Träumen, schrieb der achtundachtzigjährige Wolfgang Koeppen anderthalb Jahre vor seinem Tod an Siegfried Unseld. Ein Satz, der mich auch deshalb ergriff, weil der Briefwechsel Koeppens mit seinem Verleger Erinnerungen an die eigene Zeit im Suhrkamp-Verlag wachruft, in der Koeppen weniger als Autor eine Rolle spielte, sondern als Chiffre, die in diesem traurigen Satz ihre endgültige Gestalt gefunden hat. Chiffre einer Kultur, die sich selbst wiederum auf einen Satz bringen ließ, auf jene bekannte Sentenz Unselds, sein Verlag mache Autoren und keine Bücher. Als ich ihm, im letzten Sommer der alten Bundesrepublik, in Frankfurt am Main in einem teuren italienischen Lokal zum ersten Mal gegenübersaß und er sich, flankiert von zwei schweigenden Lektoren, um mich, seinen jungen, künftigen Autor bemühte, fragte ich mich tatsächlich auch, was das wohl heißen könnte: einen Autor zu machen statt seiner Bücher.

Als Du mich, schrieb Koeppen in seinem vorletzten Brief an Unseld am 26. Juni 1995, an dem Haus am See besuchtest, sahst Du aus wie ein englischer Lord. Du kamst nicht zu mir; Du hast die Beziehung zu mir wohl schon abgebrochen. Als ich Dich sah, wußte ich, Du hast Dich von mir getrennt. Dann ist es aus mit mir; dann muß ich gehen und weiß nicht wohin. Und Koeppen setzte hinzu: Ich möchte als Leiche nach Greifswald. Und hier sind wir jetzt, in Greifswald, und Koeppens Leiche ist nicht hier. Noch ein unerfüllter Wunsch. Und wir wissen: Über Koeppen zu sprechen heißt sich zu fragen, wofür genau der englische Lord in seinem Leben stand.

Es ist das Freundschafts-, Arbeits-, Liebes-, Bewunderungs- und Abhängigkeitsverhältnis, wie es sich zwischen Verlegern und ihren Autoren seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat, eine ganz besondere Figur kreativer, oft symbiotischer Bezüglichkeit, die vielleicht nirgends so offenliegt wie im Verhältnis gerade dieses Autors zu gerade diesem Verleger. Glücklicher Mensch, erfolgreicher Verleger, das bist Du und wirst es, so hoffe ich, auch bleiben, schrieb Koeppen, und manchmal denke ich, er muß sich phantasiert haben, mit dem eigenen Unglück die Fortune seines Lords erkauft, ja darin mitgelebt zu haben. Oder war er für inn ein dunkler Lord, dieser so unnatürlich, übernatürlich virile Verleger? Ein Vampir, der ihm das Leben aussaugte? Und umgekehrt: Konnte man in Unselds Erzählungen nicht den Eindruck gewinnen, als empfände er die eigene Existenz doppelt reich auf der Folie des Scheiterns seines Autors, oder dieses Scheitern gar als notwendig zu erbringende Buße für’s eigene Glück?

Was ich weiße: Als ich ihm damals in Frankfurt gegenübersaß, hatte ich die Empfindung, in so etwas wie einen Orden aufgenommen zu werden, in dem es nicht um Bücher und nicht einmal um ökonomischen Erfolg ging, was ein surreales Gefühl der Zugehörigkeit erzeugte. Zugehörigkeit zu einem Kosmos, der neben der realen Welt zu existieren schien, und in dem Peter Handke irgendwo bei Paris in einem Wald lebte, in den Unseld reiste, um das neue Manuskript des Autors abzuholen, und Thomas Bernhard auf seinem verregneten Gehöft saß und den Verleger mit beleidigten Briefen bombardierte, und in dem es, wach-, ja lebendiggehalten von eben diesem Verleger, noch immer den unglücklichen toten Mecklenburger Johnson in Sheerness on Sea gab, und Hermann Burger in seinem Ferrari und Dürrenmatt hoch über dem Zürichsee und, als eine der ganz wenigen Frauen, denn es war dies ein Männerorden, die manische Marianne Fritsch, allein mit ihrem unendlichen Roman und ohne Unterlaß schreibend in ihrem Wiener Gehäus’.

Und Koeppen? Wolfgang Koeppen war als Verstummter zwar einerseits gar nicht, andererseits aber sehr präsent in diesem Kosmos, nämlich im Sprechen Unselds über ihn. Laßt uns nicht Bücher, laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei! fordert Gott in der Genesis sich selber auf. In gewisser Weise verkörperte der unsichtbare Koeppen, der nicht schrieb und dennoch alimentiert wurde, die totale, die vollkommene Suhrkamp-Autorenschaft. Und so ist die immergleiche Frage nach seine Scheitern auch eine danach, ob dieses Scheitern nicht eines seines Verlegers war, ja eines der Moderne selbst, als deren Agent Unseld sich vor allem anderen verstand. Sein Bekenntnis, keine Bücher, sondern Autoren machen zu wollen, verdankte sich der Erkenntnis, daß in Moderne die Künstler selbst an die Stelle dessen traten, was sie erzeugten. Darauf sollte der Suhrkamp-Verlag reagieren und im Feld der Literatur das leisten, was Galerien und Sammler für die Kunst längst erreicht hatten. Autoren statt Büchern zu machen, hat seinen guten verlegerischen Sinn in einer Zeit, in der Autoren selbst keine Bücher mehr machen wollen. Die Gesten des Schweigens, des Verstummens, des Verzichts, des Scheiterns sind fast schon selbstverständlich geworden, schrieb er 1968 seinem Autor Koeppen.

Doch seltsam: Die Sehnsucht nach dem  großen Roman, der theoretisch gar nicht mehr möglich und auch nicht mehr nötig sein sollte, blieb davon ganz unberührt, und zwar nicht nur, weil der Geschäftsmann Unseld selbstverständlich weiterhin Bücher verkaufen wollte und mußte.In diesem Widerspruch reißt die Abgründigkeit des Verhältnisses der beiden auf. Frankfurt am Main, 30. September 1969: Lieber Herr Koeppen, ich kann Ihnen nur helfen, wenn ich ein Manuskript habe. Nun zeigen Sie doch der Welt, daß Sie schreiben können. Immer wieder lese ich wirklich großartige Prosa von Ihnen. Warum nicht diese lächerlichen 60 oder 100 oder 200 Seiten? Das ist doch einfach nicht einzusehen. 

Nichts anderes als die Hoffnung auf diese lächerlichen 60 oder 100 oder 200 Seiten, bildet den Kern jedes Autor/Verleger-Verhältnisses, doch ist im Briefwechsel der beiden ergreifend zu beobachten, wie in den immer absurderen Ausflüchten Koeppens und den immer drängenderen Vorschlägen, Bitten, Plänen Unselds sich diese – zunächst sicherlich durchaus auch ökonomische – Hoffnung wandelte zu einem intimen Ballett der Sehnsucht, in dem beide dann über Jahrzehnte hinweg diese Hoffnung wider besseres Wissen am Leben erhielten. Frankfurt am Main, 15. Mai 1974: Lieber Wolfgang, in meinem Kopf steht eine Notiz, wonach Du mir bis zum 20. Mai eine Nachricht geben wolltest, ob wir mit dem Manuskript rechen können. Wie steht es damit? Die Vertreter gehen am 10. Juni auf ihre Reise. Bitte laß mich doch wissen, ob es eine Hoffnung gibt.

Es ist, möchte man Unseld vom Spielfeldrand dieses Briefwechsels zurufen, das Wesen der Hoffnung, nicht zu wissen, ob sie gerechtfertigt ist. Und gerade die Irrationalität dieser Hoffnung ist es, die Unseld und Koeppen füreinander produzierten in einem Macht- und Liebesverhältnis, in dem sich Dominanz und Unterwerfung durchaus ambivalent verteilt waren. Gewiß: Koeppen beneidete und fürchtete und brauchte den glücklichen, den starken, den reichen Unseld, der war, wie jeder Mann sein will. Doch mit dessen ehrlichen Sehnsucht nach dem großen Roman gab der Verleger seinem Autor auch den Schlüssel zu sich in die Hand, gab ihm das Zauberwort einer völligen Unterwerfung, das Koeppen noch in seinem vorletzten Brief an Unseld benutzte: Komm’ bei mir vorbei, daß ich Dir sage, was ich schreiben könnte, schreiben werde, schreiben will. 

Längst ist es da, an diesem Ende, nicht mehr der Roman, der versprochen wird, sondern nur mehr der Akt seiner Beschwörung – was ich schreiben könnte, schreiben werde, schreiben will -, denn es ist diese Beschwörung, die Autor und Verleger über Jahrzehnte geteilt haben und in der sie sich nahe waren. Den Roman dagegen hatte es nie gegeben und wahrscheinlich war Unselds Frage nach der Berechtigung seiner Hoffnung nicht falsch, beruhte sie doch einzig auf dem großen Erfolg der drei, zwischen 1951 und 1954 in rascher Folge erschienenen Bücher, wobei allein die Geschwindigkeit ihres Erscheinens den Verleger hätte mißtrauisch werden lassen müssen. Hier beherrschte offenkundig jemand, der zuvor ganz anders geschrieben hatte, plötzlich einen Stil, den er rasend schnell exekutierte. Koeppen selbst hielt laut Tagebuch Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom für Fingerübungen, in die er auswich, weil sein eigentliche Projekts nicht vorankam. Es sind oft die minderen Talente, die den Ton ihrer Zeit am reinsten reproduzieren. Es ist die Tragik dieses Autors, der sich nach dem Krieg im Stil der Zeit neu erfand,  daß es gerade der Erfolg ihm ihm unmöglich machte, die ästhetische Position eines unreflektiert übernommenen Modernismus wieder zu verlassen, auf die ihn die vom Faschismus betäubte erste Autorengeneration der nachkriegsdeutschen Literatur festlegte.

Als Nachgeborener war mir das Pathos höchst unangenehm, mit dem das daraus resultierende Schweigen Koeppens als konsequente, ja heroische Haltung gedeutet wurde. Schien mir doch die zugehörige Ästhetik überlebt. Am Mann ohne Eigenschaften interessierte mich eben nicht der fragmentarischer Charakter oder gar dessen behauptete Unausweichlichkeit, sondern ganz im Gegenteil Musils Anstrengungen der Synthese, mehr als Döblins Verfahrensprosa interessierte mich der Preis, den Thomas Mann für seinen Realismus zu zahlen bereit war, und an Beckett oder Kafka eben nicht das Scheitern, das spätestens mit Adorno zum Signum eines gelungenen Kunstwerks geworden war. Mir schien das Pathos jener Gesten des Schweigens, des Verstummens, des Verzichts, des Scheiterns, die Unseld seinem Autor nahegelegt hatte, nichts als der letzte noch verbliebene ästhetische Glutkern einer ansonsten gelöschten und erloschenen Moderne.

An der Notwendigkeit, eine Perspektive der Moderne nach der Moderne zu finden, hat sich seither nichts geändert, und Koeppens Scheitern ist in diesem Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil in seinem Zentrum zugleich Unmöglichkeit und Notwendigkeit des Werkes steht. Man muß sich bewußt machen, daß es vor allem Schriftsteller eines emphatischen Realismus waren – Doderer, Niebelschütz – die jene Nachkriegsmoderne ausgrenzte, in der Koeppen schließlich verstummte. In seinem allerletzten Brief an Unseld schrieb Koeppen im August 1995: Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht. 

Literatur entsteht nie, ohne daß sie jemanden anspräche. Wolfgang Koeppens Geschichte zeigt, wie sehr sie selbst noch in ihrem Verstummen, noch in diesem störe mich nicht, auf das Gespräch angewiesen ist, und dabei zugleich Schutz vor ihm benötigt. Doch nur das Werk ist jenes Drachenblutbad, das die Ungestörtheit gewährt, die das Werk erst ermöglicht. In dieser Aporie verstummte Koeppens. Es ist die Aporie der Moderne selbst.

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Siegfried Unseld mir in jenem italienischen Lokal gegenübersaß, die Manschetten seines weißen Hemdes hochgeschlagen, und wie wir Weißwein tranken und wie er das Weißbrot auf der ebenso weißen Tischdecke zerkrümelte. Er erzählte Anekdoten, die Entfernung zu überwinden, die ihn von dem zweiundzwanzigjährigen, verschüchternen Jungen trennte, den er nicht kannte und für den er, wie er wußte, ein lebendes Denkmal war. Vielleicht hatte er das Manuskript tatsächlich gelesen, das ihm sein Lektor, der schweigend daneben saß, gegeben hatte, und etwas darin hatte ihm gefallen. Vielleicht kannte er auch nur ein paar Seiten. Es war dies nicht mehr seine Generation. Und doch gab es irgendwann für einen Moment eine Balance zwischen ihm und diesem Jungen, eine unbegreifliche Verbundenheit, so, als teilte man trotz aller Unterschiede etwas sehr intimes. Vielleicht, wer weiß, dachte er in diesem Moment an den unglücklichen Koeppen. Wer weiß. Nach dem Essen fuhr er mich in seinem grünen Jaguar nach Hause. Der beinahe letzte Satz Wolfgang Koeppens im allerletzten Brief an seinen englischen Lord lautete: Immer wenn ich höre, daß Du über den Ozean fährst, denke ich, daß ich mit Dir fliegen möchte. 

Lieber Karl-Heinz Ott, verehrter Herr Bürgermeister: Ich bedanke mich von Herzen für den Wolfgang-Koeppen-Preis der Stadt Greifswald!

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Was entziehst du mir selber mich?

  Rede zum Solothurner Literaturpreis, Solothurn 17.5.2015.

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Jury des Solothurner Literaturpreises!

Es ist seltsam um das Verhältnis des Buches zu seinem Verfasser bestellt. In der Welt der Literatur tritt es an seine Stelle, in der realen Welt wiederum ist er der Stellvertreter seines Buches. So bin ich hier als Schriftsteller und bin doch zu keinem Zeitpunkt so wenig Schriftsteller wie jetzt hier in diesem Moment. Unzählige Male auf meiner Lesereise in den letzten Monaten war das so, und immer habe ich mich gefragt: Was bin ich hier? Sagen Sie es mir, der Sie mich herbestellt haben. Wer sind wir? Sie und ich? Eine alte Frage kommt mir in den Sinn, die einmal einer einem stellte: Was entziehst Du mir selber mich? Ist es nicht das, was Sie tun, wenn Sie hier mir jetzt hier zuhören statt meinen Texten, die es doch an meiner statt und für mich gibt?

Eine alte Frage aus einer alten Geschichte. Eine Frage, auf die jener, der sie stellte, seinerzeit ebensowenig eine Antwort bekam wie ich jetzt von Ihnen. Auch ansonsten war damals alles wie jetzt. Es gab ein Publikum wie Sie, es gab auch eine Jury. Doch es war nicht das Publikum, das schwieg – das jammerte und wehklagte vielmehr -, sondern ein Gott. Und eigentlich schwieg er auch nicht. Denn während der Frager seine Frage – Was entziehst Du mir selber mich? – herausbrüllte und schrie, war der Gott Apoll, oder vielleicht waren es auch seine Helfeshelfer, barbarische Skythen aus dem Norden, die Quellen sind sich da uneins, dabei, dem Frager die Haut vom Leib zu schälen.

Schreiend fragte der Gepeinigte nach dem Sinn der Prozedur, der er unterworfen wurde und seine Frage macht deutlich, daß ihm das Verstehen noch im Tod wichtiger war als Verschonung. Übrigens lautet die Frage, wie sie uns der vor zweitausend Jahre gestorbene Ovid in seinen Metamorphosen überliefert: Quid me mihi detrahis? Das ist entschieden gewalttätiger, denn detrahere kann vieles sein: absetzen, entreißen, herunterreißen, niederreißen, wegziehen, abziehen, entziehen, herabziehen, schmälern, wegschleppen, aber auch verleumden, schädigen, erniedrigen.

Was, fragen Sie nun zu Recht, ist denn das für eine furchtbare Geschichte? Vom Hautabziehen, von Göttern und von unbeantworteten Fragen? Und was hat sie mit Ihnen und mir zu tun? Mit uns hier? Wir werden sehen. Bitte, hören Sie zunächst Ovid:

Kläglich war, sehr kläglich, des Satyrs Marsyas Schicksal,
Der, von Apollo besiegt im Getön des tritonischen Rohres,
Jetzo die Strafe bestand. Was entziehst du mir selber mich? rief er.
Ah, mich gereut’s! ah! schrie er, soviel nicht gilt mir das Schallrohr!
Doch wie er schrie, zog jener die Haut ihm über die Glieder;
Und nichts war, als Wunde, zu schaun. Blut rieselte ringsum;
Aufgedeckt lag Muskel und Sehn‘; auch die zitternden Adern
Schlugen, der Hülle beraubt, aufzuckende Eingeweide
Konnte man zählen sogar, und der Brust durchscheinende Fibern.

Marsyas also. Was hatte er verbrochen, fragen Sie, um so gefoltert zu werden? Das heißt: Sie fragen natürlich nicht, denn Sie schweigen ja wie der Gott damals. Aber ich vertraue auf die Neugier, die jede gute Geschichte erzeugt. Marsyas also.

Marsyas, wohl ursprünglich ein Flußgott, war ein Silen oder Satyr, zottelig, bocksfüßig, und stammte wohl aus der Gegend um das phrygische Kelainai, dem heutigen Dinar im Südwesten der Türkei. Es ist dies die Region der Berggöttin Kybele, der Großen Mutter, mit der er oft in Verbindung gebracht wird und in deren orgiatischem Kult die Flöte eine Rolle spielte. Eine Flöte wie jene, die er eines Tages im Uferschilf fand und auf der er schnell so wunderbar zu spielen lernte, daß er beschloß, Apoll mit der Lyra zu einem musikalischen Wettstreit herauszufordern. Der Gott willigte ein und setzte als Preis fest, der Gewinner dürfe nach Belieben mit dem Verlierer verfahren. Ganz so wie Sie es mit jedem meiner Texte tun. Und – to cut a long story short – der Gott gewann, wenn auch weniger durch sein musikalisches Können als durch allerlei Tricks, mit denen er die Jury überzeugte, die möglicherweise aus den Musen bestand, aber so sicher ist man sich da nicht. Und Apoll häutete, oder ließ häuten, unsicher, wie gesagt, auch dies, den Silen.

Das war’s. Und das ist alles, fragen Sie? Ein Künstlerwettstreit, bei dem der Sieger – so sind die griechischen Götter nun mal – den Verlierer grausam mißhandelt? Klar, auf wessen Seite man steht. Es stimmt, so hat man das gesehen. Aber meiner Ansicht nach geht es in dieser Geschichte um mich und um Sie, die Sie mir noch immer zuhören und mich betrachten, während ich spreche. Weshalb das denn, fragen Sie? Na, wegen der Flöte doch!

Sie erinnern sich? Soviel nicht gilt mir das Schallrohr! schrie Marsyas. Klar, sagen Sie, der wollte die Wette rückgängig machen, nun, als er zu spüren bekam, welchen furchtbaren Preis Apoll forderte. Doch das greift zu kurz, denn dieser Satz ist vor allem: Zitat. Die Flöte nämlich hatte Athene erfunden und damit eine nie gehörte , ungeheuer einschmeichelnde Musik. Doch als sie sich selbst beim Flöten im Wasserspiegel eines Sees betrachtete, machte sie eine unliebsame Entdeckung. Ovid läßt die Göttin erzählen, was sie entdeckte:

Die Musik gefiel, aber ich sah die geschwollenen Backen
in meinem jungfräulichen Gesicht reflektiert im Wasser.
„So viel bedeutet mir die Kunst nicht. Leb wohl, meine Flöte!“ sagte ich
und warf sie weg und sie landete im Ufer des Flusses.

Und dort fand Marsyas sie dann. Ihm scheint gleichgültig gewesen zu sein, was Athene so sehr abgestoßen hatte: Die wunderschöne Musik war nur zu dem Preis zu haben, daß der Spieler mit geblähten Backen häßlich aussah. Worin sich etwas ausdrückt, was wir heute seltsamerweise vergessen zu haben scheinen, das nämlich ein Unterschied besteht zwischen der Kunst und demjenigen, der sie herstellt. Wir sind es gewohnt, im Urheber das Werk zu loben. Deshab stehe ich hier heute vor Ihnen. Doch mein Unbehagen an dieser Situation hat mit dieser fahrlässigen Gleichsetzung zu tun, die nicht selbstverständlich ist. Während uns der Künstler zum Ideal des Subjekts geworden ist, sah die aristokratische griechische Kultur das nicht so. Plutarch schreibt: Wir schätzen ein Werk und verachten seinen Schöpfer. Wie wir uns ja auch an Salben und Purpur erfreuen, deren Köche und Färber deswegen aber doch für uns gemeine Banausen bleiben.

Das Ideal jener Kultur war nicht der Künstler, sondern der freie Mensch, den keine Tätigkeit zu sehr beanspruchte, und im Kern war dies auch die griechische Vorstellung von der Schönheit ihrer Götter. Und deren Attraktivität affiziert uns noch heute. Die Schönheit Apolls trübt auch unser Urteil noch, wenn wir die beiden auf den unzähligen Darstellung des Mythos betrachten, den Gott und Marsyas, und fast kann man ihm nicht böse sein für seine barbarische Grausamkeit, die eben nicht barbarisch, sondern notwendig wirkt durch eben jene Schönheit. Egal, wie schön die Flöte des Marsyas klang.

Was sehen Sie mich so an? Mustern Sie meine Gestalt daraufhin, was sie zu tun haben könnte mit jenen Büchern, als deren Stellvertreter ich hier stehe? Suchen Sie meine geblähten Backen? Den Roman in meiner Gestalt? Möchten Sie mich vielleicht häuten, um ihn zu finden? Sie protestieren? Das gehe zu weit? Apoll ist ein seltsamer Gott. Und ich möchte Sie bitten, für einen Moment sich in ihm zu spiegeln. Sich vorzustellen, Sie seien er. Denn deshalb sind Sie doch hier, nicht wahr? Um ein Gott zu sein. Und deshalb bin ich hier, den Sie betrachten und dem Sie zuhören bei seinem Spiel.

Apoll ist vieles, Gott des logos, Gott der Musik, Gott auch des Wettkampfes. Sein Sieg im Wettlauf mit Hermes eröffnete die Reihen der Olympiasieger, und seine unterlegenen Gegner verloren nicht selten ihr Leben. Apollon Deiradiotes, der Fellabzieher, Halsabschneider, ist er dann, und die Idee eines dunklen, eines wölfischen Apolls begegnet uns im Briefwechsel von Thomas Mann mit Karl Kerényi. Aber er ist auch Apoll der Scheinende, Gott der Illusionen und Fiktionen, und zugleich Deuter der Träume, Gott der Prophetie. Seine Attribute Lyra und Bogen berühren und treffen aus der Ferne. Letztlich ist er das erkennende Subjekt selbst, das sich die Welt auf Abstand hält, um klar zu sehen. Erkennen Sie sich darin nicht wieder? Dort unten im Zuschauerraum, verborgen im Dunkel des Saals in gehöriger Distanz zu meiner Bühne?

Worauf ich hinauswill? Es hat der Wettstreit des Gottes mit dem Silen unzählige Deutungen erfahren, doch seltsamerweise hat gerade jener Aspekt des Mythos, der mich – hier, ausgesetzt vor Ihnen – besonders interessiert, keine Beachtung gefunden. Daß nämlich diese Geschichte vom Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Intimität erzählt. Weshalb das? fragen sie. Nun, da ist zunächst diese Flöte, deren Klang Athene nur solange wunderbar vorkam, solange sie allein war und niemand sie bei ihrem Spiel betrachtete. Dann ist da dieser Silen, in den Binsen zu Hause, im Verborgenen, der mit seinem Flötenspiel zunächst nur sich selbst und dann den Bauern und Nymphen aus der Umgebung gefiel, und den eben dieses Spiel dann in das führte, was bei den Griechen der Inbegriff von Öffentlichkeit war: einen Wettkampf. Und schließlich ist da dieser Gott, sein Gegner, Gott des Scheins und des fernwirkenden Bogens, der wie kein anderer diese Öffentlichkeit verkörpert. Es scheint mir das Schicksal jeder Kunst, die stets im allerintimsten Raum entsteht, in eben jenem einsamen Schilfgürtel, der das Leben des Künstlers ist, daß sie diesen Raum notwendig verlassen muß, sobald sie an sich selbst Geltung erlangt. Und da bin ich nun. Hier, vor Ihnen.

Marsyas, schreibt Franz Fühmann in einem Brief, ist die Problematik des Sich-Entblößens; wenn man schreibt, in der Öffentlichkeit als Schreibender steht, wird einem die Haut abgezogen, das wissen Sie so gut wie ich. Nun gibt’s exhibitionistische Naturen, denen das Lust bereiten mag; ich gehöre nicht zu ihnen, für mich ist es qualvoll, von mir zu reden, doch ich muß es tun.

Von Fühmann stammt eine Marsyas-Erzählung, die in der DDR im Umfeld der Biermann-Ausweisung entstand, nicht zufällig fast zur selben Zeit wie Der Zweikampf von Thomas Brasch. Beide Autoren lesen den Mythos auf die Künstlerproblematik hin und identifizieren dabei den Gott mit der Macht des Staates. Auffallend ist jedoch, welche ganz unterschiedlichen Konsequenzen sie daraus erzählerisch ziehen. Zwei grundsätzliche Reaktionsmöglichkeiten der Kunst auf eine repressive Öffentlichkeit. Bei Fühmann bewahrt Apoll selbst unter den Verhältnissen der Diktatur seine Ambivalenz, in der das, was er dem Silen antut, auf eine unerklärliche Weise gerechtfertigt bleibt. Sein Text ist das späte Echo auf eine Deutung, die den Mythos seit der Renaissance begleitet und die Edgar Wind in seiner epochemachenden Studie Heidnische Mysterien in der Renaissance einst rekonstruiert. Die neoplatonische Vorstellung wonach die Schindung selbst ein dionysischer Ritus war, eine tragische und qualvolle Reinigung, durch die alle Häßlichkeit des äußeren Menschen abgestreift und die Schönheit seines inneren Selbst enthüllt wurde.

Kafkas In der Strafkolonie – um den Fluchtpunkt literarischer Beschäftigung mit dem Stoff zu benennen – erzählt die Obzönität exakt dieser alten Vorstellung an ihr Ende. Mir schaudert vor ihr. Vor einer Bejahung der grundlosen Bestrafung, einer Zustimmung zur Grausamkeit des schweigenden Gottes. Wie wohl auch Thomas Brasch, der wie wenige Schriftsteller an der Öffentlichkeit litt, und dessen Marsyas sich vielleicht gerade deshalb dem Zweikampf zu verweigern sucht, immer wieder. Braschs Marsyas weiß, der Wettkampf bedeutet den Eintritt in eine Sphäre, in die er nicht gehört, im Scheinwerferlicht des Lichtgottes hat der Silen keine Chance. Und als es sich nicht länger vermeiden läßt, bemüht er sich verzeifelt, die Jury, die Musen, bei dem vermeintlichen Künstlerkollegen Apoll zu diskredieren und appelliert an dessen Wissen um den nichtagonalen Charakter aller Kunst.

Doch umsonst. Auch Brasch gelingt es nicht, den Gott zu erweichen. Denn Apoll ist kein Künstler. Man erkennt es daran, wie sein Sieg zustandekommt. Er gewinnt nicht durch seine Virtuosität auf der Lyra, sondern dadurch, daß er von Marsyas etwas verlangt, was dessen Flöte im Gegensatz zu seinem Instrument nicht leisten kann: sie umzudrehen und von der anderen Seite zu spielen und dabei zu singen. Ein Taschenspielertrick. Es ist das Schicksal jeder Kunst, die in der Öffentlichkeit erscheint, im Wettbewerb sofort überboten zu werden. Denn sie erfüllt und erschöpft sich in ihrem Erscheinen. Apoll aber tut nur, was in jener – seiner – Sphäre geboten ist. Und seien wir ehrlich: So sehr wir uns auch über seinen Trick empören, goutieren wir ihn doch zugleich als angemessene Schlauheit bei einem Wettkampf und akzeptieren so – trotz allen Mitleids für den betrogenen Marsyas – Apolls Sieg. The winner takes it all. Das ist die Ambivalenz der Öffentlichkeit, in der ich hier vor Ihnen stehen.

Und weshalb bin ich hier, fragen Sie, wenn ich das doch weiß? Erinnern Sie sich: Für mich ist es qualvoll, von mir zu reden, schreibt Fühmann, doch ich muß es tun. Weshalb? fragen Sie noch einmal, lassen nicht locker, und sie haben Recht recht damit. Um das aber zu beantworten, müssen wir uns, nachdem wir nun wissen, mit wem wir es bei Apoll zu tun haben, ernsthaft überlegen, wer Marsyas wirklich ist.

Ich glaube, Marsyas ist mehr als ein Künstler, oder besser: An Marsyas zeigt sich, daß ein Künstler mehr ist als wir heute meinen. So, wie uns die Schönheit des Gottes seine Grausamkeit übersehen läßt, verdeckt die pittoreske Gestalt des Silens, daß auch Pan, zu dem er gehört, ein bedrohlicher Gott ist. Immer, ob im nächtlichen Heerlager vor der Schlacht, dessen Schrecken nach ihm benannt ist, oder im leeren, heißen Mittag, der seine Stunde war, bedeutete sein Erscheinen eine Bedrohung der Zivilisation, von Vernunft und Selbstbeherrschung. Nietzsche spricht hinsichtlich des Dionysischen von einer abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit. Pan war fähig, die dünne Haut des Subjekts zu zerstoßen, mit dem Rausch, mit der Angst. In Pans Wut und Ekstase lauerte die Barbarei.

Das ist der Hintergrund, vor dem sich erklärt, weshalb Platon die Flöte in seinem Staat mit dem ausdrücklichen Hinweis auf den Wettstreit von Marsyas und Apoll aus der idealen Stadt verbannt und Aristoteles sie in seiner Politeia ächtet. Weil sie die Gemüter errege, statt sie zu unterrichten. Weil sie das Sprechen verunmögliche. Worauf Apolls Sieg beruhte. Was heißt: Sein Sieg ist ein Sieg des Sinns über die Sinne.

Dieser Sieg ist, wie Adorno das in seiner Dialektik der Aufklärung am Beispiel des Odysseus faßt, die Urgeschichte der Subjektivität selbst. Odysseus, der sich an den Mast fesseln läßt, um die Sirenen hören zu können, ohne von ihnen ins Verderben gelockt zu werden, ist Sinnbild der Distanzierung von jeder betörenden, überwältigenden Kunst. Jedes Urteil ist eine Genugtuung für den Urteilenden. In jedem Ich mag das triumphiert vor allem das Ich. Indem er Marsyas vorführt, düpiert, fesselt, häutet, die Eingeweide herausreißt und ihn antwortlos zurückläßt, tut Apoll mit diesem dämonische Halbgott das, was wir mit der Kunst tun, die wir zu begreifen suchen. Er werde ihn ergründen, antwortet Apoll bei Fühmann auf die Frage des Marsyas, was er mit ihm vorhabe.

Ihn, Marsyas?
Ihn.
Ihn ergründen?
Ergründen.
Großäugiges Aufstaunen: Wie das geschehe?
Durch Ergründen, erwiderte der Gott: Er werde den Ort seiner Seele suchen.

Folternd stellte Apoll sodann dieselben Fragen, die Sie schweigend mir stellen und auf die Sie Antwort erwarten: Was ist das Thema Ihrer Arbeit? Ist Ihr Schreiben autobiographisch? Wie schreiben Sie? Was bedeutet ihr Roman? Das Ziel ist heute wie damals dasselbe: Den Sinn freizusetzen, als ließe das Werk sich anstechen, damit er herausfließt wie das Blut aus Marsyas geschundenem Leib, und ein Fluß der Rezeption daraus entspringe. Wobei auch hier die Überlieferung schwankt. Bei Hygin entsteht der Fluß Marsyas aus dem Blut des Silens, bei Ovid aus den Tränen der Zuschauer:

Aber das fruchtbare Land empfing die fallenden Tränen,
Durchgenetzt, und trank sie hinab in die innersten Adern:
Wo sie, zu Wasser geseigt, aufquellen an freiere Lüfte.
Jäh zu dem stürmischen Meer, im Hang abschüssiger Ufer,
Rollt der Marsyasstrom durch Phrygia lautere Wellen.

Damit endet diese alte Geschichte. Wir aber sind noch nicht am Ende mit ihr, denn dieses Bild des Opfers und der Apotheose wird Marsyas nicht gerecht. Und wir hatten uns doch vorgenommen, auf unsere Weise zu ergründen, wer der Silen eigentlich sei.

Was fehlt noch? fragen Sie. Nun: Die Wahrheit. Der Kampf zwischen Marsyas und Apoll erzählt, wie wir sahen, von den Gefährdungen des Künstlers in der Öffentlichkeit und von der Grausamkeit der Kritik, doch er erzählt auch davon, daß ein solcher Kampf bei den Griechen stets einer um Wahrheit war. Daß der Mythos Kunst und Wahrheit zusammendenkt, und zwar gerade in der Figur des Silens, ist vielleicht heute das eigentlich Anstößige dieses Mythos’. Denn überraschenderweise ist es tatsächlich Marsyas und nicht, wie man meinen könnte, der Gott logos, der die Frage nach der Wahrheit aufwirft. Nur hatten die Griechen einen anderen Begriff von ihr. Wahrheit war ihnen etwas, das immer schon feststand, sich aber verbarg. Sie konnte nicht produziert werden, wie wir heute Erkenntnis produzieren, es galt sie zu enthüllt. Häutung scheint da eine angemessene Wahl der Mittel.

Zumal der Silen zu Reihe mythologischer Gestalten gehört, denen man ein ursprüngliches Wissen nachsagte, eine Weisheit, die sich nicht diskursiv mitteilte, sondern: als Rätsel. Als etwas also, das einer Lösung bedurfte. Und die griechische Vorstellung von der Erlangung einer solchen Lösung war wiederum der Wettkampf. Man denke an Ödipus vor der Spinx, die sich, als er ihre Frage beantwortet hatte, zu Tode stürzte. Gerade der Künstler also, der sich in unserer Lektüre des Mythos als so ungeeignet für den Wettstreit erwies, benötigt – und das ist die Pointe der Erzählung – eben dessen agonalen Auseinandersetzung, damit eine Wahrheit freigesetzt werden kann, die er anders auszusprechen nicht vermöchte.

Gewalt und Wahrheit. Zwei Begriffe, die im Zusammenhang mit Kunst zu denken wir seit langem aufgehört haben. Über einhundert Jahren währt in unseren westlichen Gesellschaften nun schon der Frieden zwischen der Kunst und der Welt, der sich jenem Waffenstillstand zu Beginn der künstlerische Moderne verdankt. Damals wurde der Wahrheitsanspruch der Kunst eingetauscht gegen ihre Autonomie. Seitdem ist die Kunst frei. Seitdem ist aber auch alles, was sie tut, immer nur partikular und subjektiv. Alle Manifeste und künsterischen Exzesse haben an dieser gesellschaftliche Befriedung nichts ändern können.

Und? fragen Sie. Und ich spüre Ihre Blicke auf mir, einige vermeide ich, suche andere, schaue weg. Mein Mund ist trocken vom Reden, ich spreche nicht gern, werde schnell heiser. Ich sehe in Ihre Gesichter und weiß nicht, was in Ihnen vorgeht, und versuche es pausenlos, während ich weiterspreche, zu erraten. Was war noch gleich Ihre Frage? Ich weiß es nicht. Meine Frage war: Was entziehst du mir selber mich? Ich bin nicht der Ansicht, daß jener historische Waffenstillstand das Verhältnis zwischen einem Text und seinem Leser verändert hat. Das glauben Sie wirklich? fragen Sie. Jede Lektüre ein Zweikampf? Wirklich? Ja, das glaube ich. Kunst ist weder autonom, noch ist ihr Anspruch auf Wahrheit dispensiert. Wie von allem Anfang an entsteht sie agonal zwischem dem Text und seinem Leser. Jeder Schriftsteller weiß das in dem Moment, indem er sich in seinem Text ausliefert. Und jeder Leser kennt die Lust an der Häutung. Und beides ist notwendigerweise aneinander gebunden, die Lebendigkeit des Textes rührt von der Macht des Lesers her, ihn zu Tode zu bringen.

Was daran Wahrheit heiße, wollen Sie wissen? Indem der Marsyas-Mythos uns das Rätsel einer sinnlosen Tortur aufgibt, erzählt er von den Notwendigkeiten des Erscheinens von Kunst. Franz Fühmann findet für das Ineinander von Macht und Ohnmacht, von Gewalt und Betörung, am Ende seiner Erzählung ein ergreifendes Bild. Ganz am Schluß, als schon alles vorüber ist und der zerstörte Leib des Silens sich schon zu verwandeln beginnt – in einen Fluß, ein Sternbild, ein Kadaver, wer weiß das schon? -, läßt er den Gott den Gehäuteten einmal berühren. Apollon, der Reinste der Reinen, rührte die Haut an, mit einem Tupfen des Fingers, mit dessen Hülle, und die Haut zerklaffte bei seiner Berührung, aber auch diese Stelle schloß sich. Der Herr des Delphischen Orakels spricht nicht und schweigt nicht, er bedeutet.

Bedeutung und Berührung werden hier eins. Das ist das Telos der Haut. Novalis sagt: Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung. Nicht in der Tiefe wird man fündig. Wenn es tatsächlich die Seele war, die Apoll suchte mit seinem Messer, hatte er sie in jenem Moment längst schon gefunden. Die Deutung, die Häutung, produziert die Schuld des Folterers, und diese Schuld zieht ihn in das Leid hinein, das er erzeugt. Die Schuld des Lesers ist die Wahrheit des Textes. Deshalb entziehen Sie mich mir selbst. Und deshalb stehe ich hier, sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Jury, und danke Ihnen von Herzen für den wunderbaren Solothurner Literaturpreis.

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So schönes Wetter, und – ich noch dabei!

  Rede zum Wilhelm-Raabe-Preis, Braunschweig 2.11.2014.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Im Sommer 1792 verlangte das revolutionäre Paris die Auflösung der königlichen Menagerie in Versailles im Namen der Menschen und der Tiere. Wohl eher in dem der Menschen, denn viele der exotischen Tiere landeten bei den Pariser Metzgern. Jene fünf aber, die überlebten, bildeten den Grundstock des Jardin des Plantes, des ersten wissenschaftlichen Zoos der Welt. Eine Anekdote, für die sich in der Pfaueninsel leider keine passende Stelle fand, die aber ein zentrales Thema meines Romans illustriert: Die Ambivalenz von Veränderungen.

Auch wir leben inmitten einer Revolution, deren Tragweite uns einzuschätzen nur deshalb so schwerfällt, weil wir anthropologisch auf die Wahrnehmung katastrophaler Umstürze eingerichtet sind, nicht auf langsame Veränderungen. Stellen wir uns also einfach vor, der Umbruch unserer Gegenwart ereignete sich in einer uns gemäßen Taktung: Massen stürmten durch die Straßen, Explosionen wären zu hören, Brände brächen aus, Fenster zersplitterten, Türen würden aus den Angeln gehoben. Keine Zeit, die Zerstörung zu betrauern. Alles hinge davon ab, schnell zu sehen, welche neuen Sichtachsen und Perspektiven sich dadurch ergeben, daß die Paläste unserer Vergangenheit abgeräumt werden. Benommen steige ich die trümmerübersäten Stufen zum Literaturmuseum hinauf, an dem ich mich – wo sonst? – gerade befinde.

Katastrophe ist immer Gegenwart. Was ihr als erstes zum Opfer fällt, ist Historie und Wissenschaft, es zerklirren die Sammlungsschränke der Archive und die Exponate rollen über den Boden, es wird wieder freigesetzt, was für alle Zeiten geordnet schien, und erneut muß sich erweisen, was wozu taugt. Manches kann man essen, manches verheizen. Manches kann man lesen, als wäre es gerade eben erst geschrieben. Ich gehe die zerbrochenen Vitrinen entlang und trete dabei vorsichtig auf die knirschenden Glasscherben unter meinen Füßen, während man draußen nach dem Fleisch der Giraffen schreit. Schließlich bleibe ich stehen, greife durch das zersplitterte Glas und ziehe probeweise Wilhelm Raabe hervor. Muß ihn erst losnesteln von den Nadeln, mit denen die Literaturgeschichte ihn angeheftet hat neben den Erläuterungstafeln zum poetischen Realismus, dicht bei den Häuten von Keller, Fontane und Freytag. Ich schüttle den staubigen Balg, schüttle ihn auf wie ein Kissen, und im Nu gewinnt er Volumen. Ich stelle ihn auf seine Füße und siehe da: Er lebt.

Und? Kann er uns von Nutzen sein in unserer Zeitlupenkatastrophe? Raabe, der geboren wurde, als Goethe noch lebte, und im selben Jahr starb, als Rilkes Malte Laurids Brigge erschien?

Seine Epoche ähnelt in vielem der unseren, 1848 gleicht 1968, die große politische Utopie war ausgeträumt, das Bürgertum als Träger der Revolution hatte sich einlullen lassen von Sicherheit und Prosperität. Doch all die Fortschrittsleistungen, die man erkämpft hatte, wurden dann im Kaiserreich zur Ausgangsbasis eines ökonomischen und gesellschaftliche Umbaus, den man so nicht gewollt hatte. Und der schnell auch das Feld der Literatur erreichte. Die Alphabetisierung, für die man seit dem 17. Jahrhundert gearbeitet hatte, trug Früchte: Verlage, Zeitschriften – Westermanns Monatshefte, Die Gartenlaube -, Feuilletons, Lesevereine, Büchereien, günstige Volksausgaben der Klassiker in der Reclam‘schen Groschenbibliothek, wie Raabe spottete, alles boomte. Das Ergebnis aber war keineswegs eine größere Bildung, sondern die Ausbildung eines Massengeschmacks, der nach immer neuem Lesefutter verlangte. So entstand die erste Generation von Autoren, die eine ökonomische Existenz als freie Schriftsteller leben konnten, dafür aber mit ihrer Abhängigkeit vom Markt und seinen Gesetzen bezahlten. Unterhalt gegen Unterhaltung nannte Wilhelm Raabe das, denn er war mitten darin.

Früh erfolgreich, kam er zeitweise aus der Mode, setzte sich dann jedoch durch, auch ökonomisch, war im Alter hochgeehrt und starb. Daß er heute weitgehend vergessen ist, hat mit einer einschneidenden Neubewertung der Literatur seiner Zeit ab der Jahrhundertwende zu tun. Man lese Georg Lukács´ Aufsatz über Theodor Storm von 1909: Wie er sich darüber mokiert, daß Mörike Pfarrer war, Storm Richter und Keller sich Staatsschreiber nannte, in ihrem Leben also all das geordnet zu sein schien, woraus – Zitat – für andere die unlösbare Tragik des Verhältnisses von Kunst und Leben entstand. Dieses vermeintliche Philistertum schien in den sozialen Erschütterungen des neuen Jahrhunderts démodé, lieber schwärmte man für den Furor Flauberts, die Christusgestalt Dostojewski, den heilige Trinker Poe – man lese Auerbachs Mimesis – , entdeckte Hölderlin, Büchner und Kleist wieder, das Brennen der Kerze an beiden Enden, den Wahnsinn.

Und dabei ist es geblieben. Die Genieästhetik der Goethezeit im jeweils neuen Gewand ist noch immer das Paradigma, innerhalb dessen wir Literatur lesen und bewerten.

Heute scheint dies zweifelhafter denn je. Zum einen gibt es die bürgerliche Welt, gegen die sich die verschiedenen Avantgarden richteten, nicht mehr. Durch ihre geschleiften Bastionen bricht zur Zeit die Technik und räumt ab, was noch übrig war. Die Schreie nach dem Fleisch der Gazellen dringt durch die Ruinen. Zum andern haftete jener Vorliebe für die Tragik des Künstlers immer schon etwas Vampirhaftes an, als ob sein Leid vorrangig dazu diene, die eigene Fühllosigkeit zu sublimieren. Das aber verstärkt sich im digitalen Raum, den die aktuelle Revolution errichtet. Wieder soll Schriftsteller kein bürgerlicher Beruf mehr sein, sondern wieder: Berufung. Wieder und noch immer: live hard, die young. Wobei die jeweiligen Leiden der Künstler, über die ihre Werke einzig diskutieert werden, wie Moden wechseln. Zur Zeit importiert man das Leid gern und besieht sich Folterspuren an Leib und Seele, die in anderen Kulturkreisen zugefügt werden. Voyeurismus, notdürftig gerechtfertigt durch das Pathos des aufklärerischen, kritischen Diskurses seit nunmehr über hundert Jahren.

Das Dispositiv dieses Diskurses, der unser Denken bestimmt, ist ein großes Nicht mehr. Doch glauben wir sie tatsächlich noch, diese ewige Auflösungsgeschichte, so lange erzählt, und immer, als wäre es ein böses Märchen, zu einem nie eingetretenen guten Ende hin? Auflösung der Tradition, Auflösung der künstlerischen Formen, Auflösung der bürgerlichen Öffentlichkeit – und all das bejaht im Zeichen der Aufklärung? Hilft uns das in eine Zeit, in der es längst nicht mehr darum gehen kann, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, die in den revolutionären Erschüttungen der Gegenwart gerade dabei sind einzustürzen? Könnte nicht vielleicht jenes große Nicht mehr genauso gut wieder ein Noch nicht sein? Zumindest in der Literatur? Haben wir uns nicht zu sehr angewöhnt, ihre Geschichte immer nur als Verfallsgeschichte zu ehen und im Abbruch, was doch niemals war und deshalb mit Fug und Recht auch ein Werdendes genannt werden könnte? Raabes Schreiben, hieße das, verstanden als utopisches Projekt.

Noch immer steht er vor mir in den knirschenden Scherben des Sammlungsschrankees, in denen er eingesperrt hing, befreit durch die Katastrophe unserer Gegenwart, die lärmend draußen tobt. Zögernd betrachte ich ihn und überlege, ob wohl stimmen könnte, was ich von seinem Schreiben, von meinem Schreiben begreife. Die Frage ist: Weshalb gerade Raabe?

Zunächst, weil er den Dichterhabitus konsequent verschmähte. Er schien ihm im neuen massenmedialen System der Literaturproduktion überlebt, heftig polemisierte er gegen die Literatur-Unsterblichkeitsansprüche der Kollegen und setzte sein Selbstverständnis als Handwerker dagegen, inklusive Dienstjubiläen und Eintritt in den Ruhestand. Man hat das als Philistertum denunziert. Tatsächlich aber ist Raabes Weigerung, über sich selbst Auskunft zu geben, atemberaubend aktuell. Er verzichtete auf ein Schicksal, das ihn im Zusammenklang mit seinen Werken interessant gemacht hätte, weil er, wie er die Aufgabe des Schriftstellers begriff, keines mehr haben konnte. Sein Lebensradius, von der Arbeit bestimmt, war klein, seine Tagebücher sind unergiebig, es gibt keine Leitartikel und Bekenntnistexte von ihm.Was er über sich zu sagen hat, sagt er in seiner Literatur.

In einer lakonischen Notiz von 1871 heißt es, er hoffe, daß nach abgeschlossenem Frieden eine sehr günstige Zeit für die „Romanschreiber“ beginne. Diese Hoffnung bringt eine ästhetische Haltung zum Ausdruck, die nicht das Leid der Menschen bejaht, weil es bessere Kunst hervorbringe. Weder das eigene noch das der anderen. Raabe nimmt die Literatur so ernst, daß er den Menschen den Frieden wünscht und also die Freiheit von äußerlichen Nöten, die es braucht, um sie um ihrer selbst willen lesen zu können. Darauf richtete sich sein permanentes Nachdenken über die Wirkung seiner Texte. Raabe nahm den ganz unterschiedlichen Bildungshintergrund seiner großen Leserschaft stets ernster als jene, die – wie etwa Storm – ihr Heil in der Kanonisierung suchten. Raabes Weg war ein anderer. Seine Romane sollten, vor allem die späteren, ebenso eine naive wie eine komplexe Lektüre ermöglichen, darauf richtete sich sein ganzer Ehrgeiz. Daß nur wenige es merken werden, nämlich die Komplexität der Struktur, rühmte er stolz an seinem Stopfkuchen.

Die Spannung, die sich aus all dem ästhetisch ergibt, ist für mich die Antwort auf die Frage: Weshalb Raabe? Sein ganz konkretes Erzählen, das thematisch provinziell, biedermeierlich anmutet, löst sich bei genauerem Hinsehen stets auf, indem Raabe seine Geschichten durch vielfältige Perspektivwechsel und durch ein Zitatgewebe, aus dem die Romanräume geschichtet zu sein scheinen, immer wieder brach. Wobei gerade die überschaubaren Räume ihm seine charakteristische Beweglichkeit in der Zeit ermöglichten, sein Springen vor und zurück im Erzählen, als wäre die Geschichte der Faden, der die verschiedenen Bedeutungsebenen wie Stoffe miteinander vernäht, Schicht um Schicht, dabei eine Unzahl von Anspielungen, Bezügen, Zitaten aller Gattungen und Textformen einarbeitend, von literarischen Texten über Märchen und Zeitungsmeldungen bis zu zeitgenössisch trivialen Kriminal- und Kolonialgeschichten.

Die Raabeforschung liest derlei gemeinhin als Zerstücklung, Fragment oder Bruch und schlägt den Autor wahlweise mit Jean Paul der Romantik oder mit Bachtin einer subversiven Literatur des Grotesken zu. Ich halte dies für zutiefst ideologisch: Einzig in der Perspektive des Nicht mehr wird Modernität zuerkannt. Für mich ist offensichtlich, wie sehr dieser Schriftsteller sich, statt um die Gestaltung eines Zerbrechenden, um ein sich Fügendes bemüht hatm nicht um Auflösung, sondern Vermittlung. Raabes große Kunst liegt gerade darin, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es keine Hierarchisierung all dieser Binnengeschichten und Zitate, sondern alles wäre immer schon da, Teil eines allgemeinen Erzählraum, dem der Leser wie der Roman, den er gerade liest, gleichermaßen und gleichberechtigt angehören. Ganz so, als wertete er auf diese Weise den Ort seiner Romane, die als Fortsetzungstexte auf den Seiten der Zeitschriften inmitten anderer Texte aller Coleur erschienen, um in den fruchtbaren ästhetischen Boden seines Schreibens.

Er schuf so eine schwebende Balance der Erzählung, die mir das Entscheidende an seinen Romanen ist. Jede Ordnung – im Stopfkuchen etwa oder den Akten des Vogelsangs – wird im Fallen geschildert, jedoch darin gehalten, destabilisiert und stabilisiert zugleich. Die Idyllen, deren Gestaltung man Raabe vorwarf, erweisen sich in diesem Zusammenhang eben nicht als Fluchtorte, an denen Wirklichkeit ausgeblendet würde, sondern sind die mit größtmöglicher Sehnsucht aufgeladenen Stellen dieser Balance, deren Fragilität er dadurch sinnfällig werden ließ, daß all seine Techniken des Zitats und der Parodie, des Zeit- und Perspektivwechsels, der Ironie und des Grotesken, all diese Werkzeuge der Destruktion einer falschen Sinnhaftigkeit, ihm letztlich dazu dienten, ihre Möglichkeit zu erweisen. Das, scheint mir, ist das utopische Projekt Raabes.

Um dessen Aktualität zu begreifen, genügt es, einmal David Foster Wallace neben Wilhelm Raabe zu legen. Raabes Realismus, der von Sterne herkommt, findet in Wallace seine wie selbstverständliche Fortschreibung unter den aktuellen medialen Bedingungen. Und das ist kein Zufall. Denn es ist Realismus weder ein Epochenbegriff noch ein Verfahren, das sich überlebt haben könnte, sondern eine literarische Haltung zur Welt, die darin besteht, all das gegenüber dem Menschen in sein Recht zu setzen, was ohne ihn da ist. Gewiß, es stimmt schon: Wir konstruieren uns unsere Welt in Sprache und aus Sprache. Daß es aber diese Welt gleichwohl auch ohne uns gibt, ja, daß es auch uns selbst ohne uns geben kann, sinnvergessen, gequält, dumpf, objekthaft, ist das Ethos des Realismus. Er weiß: Die Welt ohne uns ist das Versprechen der Möglichkeit eines Lebens innerhalb der Welt, das ein gelingendes wäre.

So schönes Wetter, und – ich noch dabei, flüstert sich der alte Erzähler in Raabes letztem Roman Altershausen selbst zu, und es liegt eine Existentialität in diesem So schönes Wetter, und – ich noch dabei, die uns ergreift und anrührt, aber nicht, weil sie sentimental wäre, sondern weil sie uns unseren utopischen Ort in dieser Welt weist.

Realismus, wie ich ihn verstehe, hat nichts mit einer Abschilderung des Realen zu tun, sondern sucht jenen utopischen Ort in der Welt, wie sie in uns sich spiegelt – Mimesis nannte Thomas von Aquin das -, nämlich in Geschichten. Geschichten setzen unsere Gedanken in Bewegung, bewegen uns, im Wortsinn, in ihrem Fortgang. Alles, was der Leser beim Lesen denkt, gestaltet die Welt der Geschichte mit, jedes Mitleiden mit den Figuren bestimmt unsere Gedanken beim Lesen und die Schlüsse, die wir ziehen, un so heften sich an jeden Gedanken Gefühle, und jede Tat der Figuren, von denen wir lesen, erscheint nicht unvermittelt wie ein Kinobild, sondern eingebunden in Überlegungen, die wir anstellen. Reflexion und Erzählung sind eins. Was dabei in uns entsteht, könnte man Erkenntnis nennen, eine nicht begrifflich fixierbare, aber ganzheitlichere als die der Diskurse. Raabe selbst hat es Trost genannt und wurdest viel dafür geschmäht. In Pfaueninsel heißt es einmal, es komme darauf an, das Herz zu berühren. Immer geht es um eine Literatur, die uns weniger belügt, als wir selbst es tun.

Draußen auf den Straßen tobt noch immer die Revolution. Doch durch meine Träume schreiten die Giraffen aus Versailles und der Löwe von der Pfaueninsel, Marie, meine Zwergin, und Ludchen Bock, jenes alte Kind aus Altershausen, das das Spiel im Namen trägt. Die Katastrophe zerbricht die Käfige. Wilhelm Raabe winkt mir zu und geht über die knirschenden Glasscherben davon. Sein Traum von einem Roman, der im Leser sich realisiert als ernstes Spiel der Freiheit, ist noch lange nicht ausgeträumt.

Ich danke der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandfunk für diese wundervolle Auszeichnung, die unter dem Namen Wilhelm Raabe vergeben wird, und hoffe, Ihnen vielleicht ein wenig verständlich gemacht zu haben, weshalb mich das ganz besonders freut. Vielen Dank.

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Literatur und Freiheit.

  WDR 30.7.2014.

Romane waren einmal die Ego-Shooter der Medienwelt. Und ihr Siegeszug im 18. Jahrhundert führte zu ganz denselben Ängsten, mit denen wir heute den neuen digitalen Medienangeboten begegnen. So schrieb 1795 der Buchhändler Johann Georg Heinzmann, es hätten die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich thut. Heinzmanns Besorgnis galt dabei wie die vieler anderer weniger den Inhalten als den Gefühlen, die Literatur erzeugte. Denn mit der allgemeinen Alphabetisierung wurden erstmals breite Bevölkerungsschichten perfekter in Fiktionen hineingezogen, als man es jemals gekannt hatte. Der Roman war die erste virtuelle Realität des vereinzelten, modernen Menschen.

Wenn wir heute angesichts des Medienbombasts, der uns umgibt, über die Zukunft der Bücher nachdenken, übersehen wir schnell, daß für die meisten Leser der Grund, eines aufzuschlagen, derselbe geblieben ist: Unsichtbar für andere Trauer, Freude und Sehnsucht mit Figuren und in Geschichten zu empfinden, die es nicht gibt. Es waren stets weniger die Geschichten, die Bücher erzählten, die ihre Anziehungskraft ausmachten, als die Möglichkeit, sich selbst in ihnen mit den Empfindungen anderer als ein Anderer zu spüren. Was Facebook jüngst mit seinen Usern anstellte, läßt diese uralte Funktion der Bücher in einem neuen Licht erscheinen.

Bekanntlich experimentierte das soziale Netzwerk mit seinen Nutzern, indem es 300.000 von ihnen entweder vor allem positive oder überwiegend negative Einträge ihrer Freunde zustellte. Wer mehr positive Nachrichten las, postete daraufhin auch selbst eher Positives, und umgekehrt. War der Newsfeed insgesamt weniger emotional, ließ die Aktivität der unwissenden Probanten generell nach. Obwohl sich Facebook nach einem Proteststurm im Netz für diese Manipulation entschuldigte, wird Mark Zuckerberg das Ergebnis aufmerksam zur Kenntnis genommen haben, denn so vorhersehbar es auf den ersten Blick scheint, so epochal ist es in Wirklichkeit, bedeutet es doch, daß die Firma Facebook in der Lage ist, die emotionale Befindlichkeit von 1,2 Milliarden Menschen auf dieser Welt synchron und zentral zu beeinflussen.

Entscheidend daran ist: Facebook ging es nicht um die Manipulation von Inhalten, sondern um die Modulation von Gefühlen. Es liegt ganz in der Logik des social web, dessen Hausherren ihrem Selbstverständnis nach nur die Gefäße für beliebige Inhalte bereitstellen, den Fluß von Gefühlen stimulieren zu wollen. Denn, wie das Experiment zeigt, produzieren Emotionen traffic und traffic produziert Emotionen.

Was uns durch die Enteignung unserer digitalen Daten droht, ist also nicht, wie man meinen könnte, vor allem die Zensur dessen, was wir denken, sondern die Beeinflussung unserer Gefühle. Nicht Orwells 1984 dräut uns, sondern der Dystopie-Klassiker Brave New Word, in dem Aldous Huxley die gesellschaftliche Ersetzung von Kunst durch Drogen beschreibt. Um größere Gefühlsschwankungen zu vermeiden, die zu negativen Verstimmungen führen können, heißt es dort, nehmen die Menschen regelmäßig Soma ein, eine Droge, die stimmungsaufhellend und anregend wirkt. Diese Regelungsmöglichkeit hat Facebook nun erstmals im Feldversuch erprobt und damit gezeigt, daß in der digitalen Welt alle Informationen zunächst und vor allem physiologische Reize sind, Stimulanzien der Hirnchemie: Droge.

Vor diesem Hintergrund wird schlagartig deutlich, was ein Buch, das wir aufschlagen, um einzutauchen in eine erfundene Welt, und das wir wieder schließen, wenn wir es wünschen, immer war: Ein Medium der Freiheit.

Bald schon werden wir die Manipulation jedes Textes, den wir elektronisch lesen, erleben. Wie alle digitalen Inhalte wird auch die digitalisierte Literatur, die Geschichten und Romane, die wir kennen, nach der Maßgabe von Stimulanz und Dämpfung korrigiert werden, unmerklich und stetig. Doch solange es Bücher als physische Objekte noch gibt, bieten sie jenen autonomen und unveränderlichen Raum des Utopischen, in dem unsere Träume uns gehören. Bei jeder Lektüre verlangen sie von uns, unsere Freiheit bewußt zu nutzen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit hin und her zu wechseln. Und erst das macht uns zu Subjekten der Erkennbarkeit der Welt.

 

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Literatur und Unendlichkeit.

  WDR 18.6.2014.

Fast schon können wir es uns nicht mehr vorstellen, was es die allermeiste Zeit, seit es Bücher gibt, hieß, eines aufzuschlagen. Die Welt war – und wir sind dabei, das zu vergessen – die längste Zeit Natur und Natur ist sprachlos. Heute, da wir uns, von Wörtern, von Bildern, von Musik immer umgeben, gerade anschicken, mit all unseren Daten selbst Teil der digitalen Welt zu werden, wie wir bisher nur Teil der Natur waren, ist höchst fraglich, was dabei mit der Literatur geschehen wird. Denn deren Magie bestand seit Jahrtausenden darin, Sprache in der Stille zu sein.

Eine Antwort auf diese Frage geben ihrem Selbstverständnis nach – zukunftsgläubig, technikaffin – die unzähligen literarischen Blogs, Mitschreibprojekte und Selbstpublishingplattformen im Internetz, die bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit auszeichnet: Ihre Utopie von Literatur ist immer die eines unendlichen Textes. Unendlich viele Geschichten sollen ineinandergreifen, Schreiben und Überschreiben, Text und Kommentar, Autor und Leser sollen durch die Möglichkeiten der Technik eins werden.

Wir befinden uns mitten in einer mediale Transformation unserer Lebenswelt, die diese Vorstellung von Literatur vehement ins Recht zu setzen, ja sie zur einzig adäquaten zu machen scheint, weshalb zumeist übersehen wird, daß das, was sich hinter dieser Ästhetik verbirgt, viel älter ist als die medialen Umbrüche, in denen wir stehen. Ihr Anspruch ist, kurz gesagt, ein enzyklopädischer. Seite für Seite ins Unendliche wachsend, sehnt die Enzyklopädie sich seit jeher danach, die ganze Welt abzubilden.

Das Problem aber dieser Sehnsucht ist ebenso alt wie das Lexikon selbst: Wäre es so unendlich wie die Welt, wäre es nicht mehr benutzbar. Borges hat diese Aporie immer wieder klaustrophobisch ausgemalt: Die Karte, die so groß ist wie das Land, legt sich wie ein Leichentuch über die Schöpfung und erstickt all das Leben, das sie doch abbilden will.

Kein Wunder, daß sich die Leser in all den Jahrhunderten, die es diesen Traum von der Enzyklopädie schon gibt, stets lieber ihrem Gegenentwurf zuwandten, der zudem älter ist: dem heiligen Buch. Es zeichnet alle heiligen Texte aller Kulturen aus, daß sie glauben, die Unendlichkeit der Schöpfung eben nicht in einem unendlichen, sondern in einem strikt begrenzten Korpus von Sätzen abbilden zu können. Ihr Zauber liegt gerade nicht in der Addition, also der Rechnerleistung, der Cloud-Vernetzung, der riesigen Zahl der Beiträger, sondern in der Gewißheit, daß in einem einzigen Satz die ganze Welt beschlossen sein kann.

Folgerichtig gelten für diese Texte Regeln, die denen des Netzes diametral widersprechen: Ihnen ist die Autorenschaft so heilig, daß sie sie einem Gott oder seinem Propheten zuschreiben, ihr Wortlaut darf auf gar keinen Fall auch nur ein Jota verändert werden, Text und Leser sind durch eine unüberwindliche Grenze getrennt. Nichts könnte weiter entfernt sein von dem, was der Zeitgeist sich unter Literatur vorstellt.

Dabei hat die Literatur sich stets bei beiden Text-Modellen bedient, hat im Homerschen Schiffskatalog in der Odysee auf der einen und im Orakelspruch aus Delphi auf der anderen Seite gleichermaßen ihre Wurzeln. Und so war Literatur immer auch enzyklopädische Sammlung – doch nie hat sie dabei ihre Utopie an deren Mechanik delegiert: In ihrem Zentrum stand immer das Wunder, daß Wörter lebendig werden können. Daß eine Geschichte auf einer Handvoll Blätter uns zu einer ganzen Welt werden kann. Und meist hat die Literatur gar nicht versucht, den religiösen Ursprung ihres Wunders der Erfindung zu kaschieren.

Heute aber, in der Begeisterung für die schlechte Unendlichkeit des Netzes, droht die Erfahrung dieses Wunders in Vergessenheit zu geraten. Was mehr als schade wäre. Denn während die Technologie, wie so oft in der Geschichte der Medien, vor allem alles daran setzt, uns den Tod vergessen zu machen, indem sie uns Bild für Bild auf die Netzhaut spiegelt, ermöglicht Literatur mit ihrem notwendigen Sprung vom einzelnen Wort in die Imagination uns eine Erfahrung von Lebendigkeit, die keine tote Enzyklopädie kennt.

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Literatur und Moral.

  WDR 14.5.2014.

Ein Zug rast auf fünf Menschen zu, und du hast die Möglichkeit, das Unglück zu verhindern, indem du einen dicken Mann auf die Gleise stößt. Ein Leben opfern, fünf retten: Wie entscheidest du dich? Eine Frage, hinter der sich ein sehr altes moralisches Dilemma verbirgt, das so ähnlich zuletzt von Philippa Foot zur Verdeutlichung zweier ethischer Grundhaltungen beschrieben wurde. Entweder man sagt, fünf Leben sind mehr wert als eines, das wäre die Position einer utilitaristischen Ethik, die bei moralischen Problemen nach dem größtmöglichen Nutzen für alle fragt. Schade für den dicken Mann.

Oder man sagt: Ich darf nicht töten, und das gilt unabhängig von den Folgen. Kant hat in diesem Sinne einer englische Nutzen-Ethik widersprochen, wie sie seinerzeit im Schwange war, und zwar nicht etwa wegen des staatlichen oder göttlichen Tötungsverbotes, sondern mit dem Argument, es sei der Nutzen, der eine Überschreitung des Verbotes rechtfertigen würde, selten so klar abzusehen ist wie in unserem Beispiel. Man denke etwa an das Problem der Folter. Schade also für die fünf?

Wie also entscheiden wir uns nun? Der Pychologe Albert Costa von der Universiät Barcelona hat jüngst untersucht, ob es einen Unterschied macht, Menschen das beschriebene moralische Dilemma in ihrer Muttersprache oder in einer Fremdsprache vorzulegen, und kam dabei zu einem höchst interessanten Ergebnis: Sollten seine spanischen Probanten urteilen, ob es richtig wäre, einen hombre grande zu opfern, waren sie dazu weniger bereits, als wenn es sich um einen large man handelte. Es sieht ganz danach aus, als hinge unsere Entscheidung wesentlich davon ab, ob wir über sie in unserer eigenen Sprache nachdenken oder nicht. Albert Costa macht dafür eine größere emotionale Beteiligung in der Muttersprache verantwortlich. Da aber seiner Ansicht nach bei Fragen der Moral solche Emotionalitätkeine Rolle spielen dürfe, rät der Wissenschaftler, bei derlei Fragen doch besser in eine Fremdsprache zu wechseln, um rationalere Entscheidungen treffen zu können. Solche, wie er schreibt, die auf den Dingen beruhen, die wirklich zählen.

Aber was sind die Dinge, die wirklich zählen? War es nicht einmal die Literatur, die von den Dingen erzählte, die zählen? Waren es nicht ihre Geschichten, die uns lehren sollten, die richtigen Entscheidungen zu treffen? Und standen nicht moralische Dilemmata wie das genannte, auch ohne Zug und Bahnsteig, einst an ihrem Anfang: Soll Orest den Mord am Vater rächen oder soll er die Mutter ehren?

Aber heute? Längst vorbei scheinen die Zeiten, in denen Fabeln und Lehrstücke für uns das Entscheidende an der Literatur waren. Was aber ist es dann? Das Experiment von Albert Costa könnte einen auf die Idee bringen, daß Literatur sich keineswegs, wie man allgemein annimmt, heute um Moral nicht mehr schert. Der Psychologe bleibt sehr vage bei der Erklärung, weshalb die Muttersprache uns zu anderen moralischen Entscheidungen bringt als eine Fremdsprache. Es gilt aber zu begreifen, was die emotionale Beteiligung bedeutet, von der er spricht. Mir scheint, sie ist nichts, was man, wie er es möchte, minimieren sollte. Ich glaube, hinter ihr verbirgt sich das ethische Herz unserer Sprache.

Es ist die Muttersprache jene Sprache, mit der wir mehr verbinden, als sie zu beherrschen. Wir lernen sie nicht wie Latein oder Englisch, es sind ihre Wörter für uns mehr als Vokabeln, denn immer führen sie all die Geschichten mit sich, in denen wir zu den Menschen wurden, die wir sind. Geschichten, die uns die Literatur erzählt hat, und die dabei, wie Costas Experiment zeigt, wohl noch viel mehr tut, als nur unsere Phantasie zu bevölkern. Mir scheint, die Muttersprache verknüpft uns unauflöslich mit den emotionalen Räumen ihrer Erzählungen, wir laden unsere Wörter an den Schönheiten ihrer Beschreibungen auf, an den mannigfaltigen Schicksalen ihrer Helden, an ihren Hoffnungen und Abgründen.

All das führen die Wörter unserer Muttersprache stets mit sich im Aroma der Literatur, das an ihnen haftet, und wir führen es mit uns und denken darin, selbst im erbarmungslosen Licht jener moralischen Frage. Selbst dann will es uns, wenn wir in unserer Sprache von einem dicken Mann hören an einem Gleis, nicht gelingen, ihn nur auf seinen Nutzen hin uns vorzustellen. Immer wird er uns noch etwas anderes sein. Und immer wird uns das zögern lassen. Und das – nicht mehr, aber auch nicht weniger, und es ist nicht wenig – ist die ethische Dimension der Literatur.

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Pfaueninsel.

  Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

Erstes Kapitel

Das Wort der toten Königin

 

Die junge Königin stand einen Moment lang einfach da und wartete, daß ihre Augen sich an das Halbdunkel des Waldes gewöhnten. Gerade eben noch hatte sie auf der sonnigen Wiese Ball gespielt, jenes englische Spiel mit den hölzernen Hämmerchen, das dem König so sehr gefiel. Auch die Tapeten für ihr Schloß in Paretz stammten von einem Engländer, er hatte seine Manufaktur im Scheunenviertel, und das Billard in Paretz war direkt aus London geliefert worden. Und sie glaubte auch zu wissen, weshalb der König alles adorierte, was von der englischen Insel kam: weil er sich nicht eingestehen konnte, wie sehr er diese Insel hier liebte. Diese Insel, die auf Karten einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal, aus welchen Gründen auch immer an gerade dieser Stelle der hier besonders träge mäandernden, sich weitenden und wieder verengenden Havel gestrandet, an der man wohl vergißt, daß jeder Fluß eine Quelle hat und eine Mündung. Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise, denn zwar verbindet die Havel die Auen des Spreewalds mit denen der Elbe, gerade hier aber scheint ihr Wasser stillzustehen in einer Kette dunkler Seen und sich unter den schattig verhangenen Blätterdächern von Traubeneichen, Flatterulmen und Rotbuchen zu verlieren, in Auenwäldern, feuchten Erlenbrüchen, unter Grauweiden.

Im Frühjahr blühen hier Scharbockskraut und Sumpfdotterblume, später im Jahr Sumpfcalla, Wasserschwertlilie und Blutweiderich. An den flachen Ufern breite, undurchdringliche Röhrichtgürtel, in denen unzählige Vögel brüten. Eiszeitliche Bildungen all das, Endmoränen, Urstromtal. Nichts auf der Pfaueninsel steht sicher in seiner Zeit. Jede Geschichte beginnt lange, bevor sie anfängt. Die Königin atmete tief durch. Wo war der Ball?

Die kleine Hofgesellschaft, die heute zum ersten Mal nach dem Exil wieder hergekommen war, umfaßte außer den Kindern mit ihren Gouvernanten nur zwei Hofdamen, die Gräfinnen Tauentzien und Truchseß-Waldenburg, den Prinzenerzieher Ancillon und Wrangel, den Flügeladjutanten seiner Majestät. Von Hardenberg, dem es noch immer verboten war, sich bei Hofe aufzuhalten, wurde morgen zu einem geheimen Treffen erwartet, um Napoleons Forderung nach einer Abtretung Schlesiens zu besprechen, die er jüngst erhoben hatte, weil Preußen die Reparationszahlungen von fast einhundert Millionen Francs nicht aufbringen konnte. Heute aber genoß man den Frühling, flanierte, unterhielt sich und war wegen der für einen Maitag ungewöhnlichen Hitze damit beschäftigt, die Silberbecher mit geeister Citronenlimonade nachzufüllen. Niemand hatte bemerkt, wie die Lederkugel, von der kaum siebenjährigen Prinzessin Alexandrine mit einem Jauchzer weggeschlagen, im Unterholz verschwand. Und so schlüpfte die Königin selbst, bevor noch jemand sich anerboten hatte, den Ball zu suchen, lachend vom hellen Rasenplatz unter die schattigen Bäume.

Als wäre sie durch einen Vorhang in eine andere Welt getreten, war es plötzlich still um sie her bis auf das leise Summen müder Insekten. Überrascht spürte sie, wie sehr ihre Haut von der Anstrengung des Spiels und der Sonne brannte. Gleichwohl zog die Königin den Shawl über der Brust zusammen, der aus derselben dünnen, fast durchsichtigen Gaze wie ihr Kleid war, ganz weiß war das Kleid, kurzärmelig, mit weitem Dekolleté und nur mit einem blauen Seidenband unter dem Busen gegürtet.

Eine Königin? Was ist das? Eine Märchengestalt, denken wir, und doch: dieser hier pulste das Leben am Hals und flackerte über die Wangen, hier, in der schwülen Enge der Bäume, eng um die junge Frau herumgelegt wie jenes Wort sie zu bezeichnen. Spricht man es aus, ist es, als zerginge die Person in ihm ebenso wie ihre Gestalt in den dunklen Schatten dieses Hains. Dabei sind wir es, die sie mit allem, was uns jenes Wort durch den Kopf jagt, anhauchen, während wir sie betrachten, und das Wort dabei tonlos vor uns hin murmeln. Eine Königin, eine Königin. Gar nicht verschämt glotzen wir, und ebenso indiskret betastet unsere Phantasie ihre Gestalt. Eine Königin, was ist das? Wohin bringt uns dieses Wort? Wir glauben es ganz genau zu wissen, und wenn wir nur einen Moment nachdenken, wissen wir gar nichts. Wußte man damals mehr? War denn tatsächlich damals jenes Wort eines wie Soldat oder Arzt? Wir können es nicht wissen. Alles ist Märchen oder nichts. Wenn wir Heutigen auch noch nicht einmal zu sagen vermöchten, was denn ein Märchen, ernsthaft gesprochen, überhaupt sei. Alles ist Märchen oder nichts. Eine Königin, ein Schloß, eine Insel. Ein Ball. Und noch ein Wort wird gleich nötig sein, ebenso märchenhaft wie dieses, dabei aber abstoßend und ekelhaft und doch ebenso unumgänglich wie jenes für die junge Frau dort. Die Frage wird sein, wohin es uns führt.

Sie hat es an diesem schwülen Frühsommertag ins Dämmerlicht geführt, und der süße Geruch warmer, fleischiger Blätter, die im Unterholz vermoderten, stach ihr in die Nase. Sie begann sich nach dem Ball umzusehen, entdeckte ihn auch gleich, weiß leuchtend am Stamm einer alten Eiche, halb im knorrigen Wurzelwerk gefangen, halb von einem Farn verborgen. Doch als sie sich bückte und schon nach ihm greifen wollte, kam aus dem Schatten des Stammes plötzlich die Gestalt eines kleinen Jungen hervor, der, ganz dicht vor ihr, sie anstarrte, und an dem irgend etwas, wie sie sofort wußte, nicht stimmte.

Erschrocken rief die Königin den Kleinen an, wer er sei und was er hier wolle, wie immer, wenn sie aufgeregt war, im weichen Singsang ihrer südhessischen Heimat, der nie wirklich scharf klang, und es gab das Kind, das sie auf vielleicht vier oder fünf Jahre schätzte, ihr auch ganz unbefangen Auskunft. Doch kaum hatte es den Mund aufgetan, stieß die Königin, von dem, was sie da hörte, nun in wirklichem Abscheu erfaßt, einen nur mühsam unterdrückten Schrei aus und wich zurück. Kam doch aus dem Körper des Kindes, unpassend wie bei einem Bauchredner, eine ganz erwachsene, sehr tiefe Stimme, die so höflich wie schauerlich einen Namen nannte, den die Königin indes überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Denn nun bemerkte sie auch, was an der Gestalt sie vom ersten Anblick an irritiert hatte. Diese breite, irgendwie eingesunkene, tierhafte Nase. Die mächtig gewölbte Stirn, die nur auf den ersten Blick an ein Kleinkind denken ließ. Dazu kurze, irgendwie maulwurfshafte Hände, die neben dem gedrungenen Leib pendelten. Darüber erschauderte die Königin so sehr, daß sie, um dieses Geisterwesen zum Verstummen zu bringen, ihm ein Wort entgegenschleuderte, bei dem sie sich selbst entsetzte und die Hand vor den Mund schlug.

Als der Junge merkte, wie sehr die Antwort, die er freundlich und gutwillig seiner Königin zu geben versucht hatte, diese erschreckte, und wie angeekelt ihre Blicke über ihn hintasteten, stieß er ein furchtbares Geheul aus, drehte sich um und verschwand im Unterholz. Keine Minute später, die Königin starrte dem Jungen mit pochendem Herzen noch nach, brach die Schar ihrer Kinder lachend durch die Büsche. Der vierzehnjährige Fritz in Uniform vorweg, dicht gefolgt von Wilhelm und Charlotte, dahinter Prinz Carl, der wiederum Alexandrine an der Hand hatte, jene Prinzessin, die den unglücklichen Schlag getan. Aber es war der kleine Ferdinand, der, während die Großen von der Mutter wissen wollten, wo sie denn bleibe und ob etwas geschehen sei, den ledernen Ball als erster entdeckte. Jubelnd drängelte er sich zwischen den Beinen seiner Geschwister hindurch, hob ihn lachend auf und lief, ihn triumphierend über dem Kopf schwenkend, zurück auf die Wiese zum Vater.

Was denn mit ihr sei, fragte Charlotte leise, der es vorkam, als sähe ihre Mutter plötzlich krank aus, ganz bleich und kraftlos. Es rufen Orte in uns ganz dieselben Gefühle hervor wie Menschen, man vertraut einer Landschaft wie einem Freund, ein Gesicht, das man zum ersten Mal sieht, behagt einem, oder eben auch nicht. An bestimmten Orten empfinden wir Mißtrauen und Furcht als schwer erträgliche körperliche Nähe, ohne daß diese Nähe Augen hätte und ein Gesicht. Diese Insel war der Königin von ganzem Herzen zuwider. Und obwohl ihre Kinder sie umstanden und unsicher musterten, konnte sie den Blick nicht von dem schattigen Dunkel losmachen, in dem das Wesen verschwunden war, auf das sie, wie einen Pfeil, jenes eine Wort abgeschossen und das getroffen hatte und noch immer dabei war zu treffen. Mit einer müden, resignierten Handbewegung trieb sie ihre Kinder hinaus in das helle warme Sonnenlicht der Pfaueninsel, auf der sie an diesem Tag zum letzten Mal in ihrem Leben war. Kaum acht Wochen später, am 19. Juli 1810, war die Königin Luise tot.

Der Zwerg aber rannte. Ja, ein Zwerg. Es muß auch dieses Wort jetzt ausgesprochen werden, auf die Gefahr hin, daß es sich beruhigend wie alle Wörter vor unseren Blick schiebt, was aber ganz falsch wäre. Denn vor nichts anderem als einem Wort rannte der Zwerg davon, und das eigene Geheul folgte ihm und darin ebenjenes Wort der Königin, dem zu entkommen ihm nicht gelang. Dabei kannte er die Insel besser als irgend jemand sonst, besser als der Hofgärtner Fintelmann und besser selbst als Kriepe, der Jäger, der ihn mit seinem Hund hin und wieder im Dickicht aufscheuchte. Im Südwesten das Schloß, darumher die Schloßwiese mit der Kegelbahn und den Schaukeln. An der Anlegestelle das Haus des Kastellans. In der Inselmitte ein lichter Wald aus uralten Eichen und Hainbuchen, in dessen Wildnis man sich verlieren konnte. Ein Gutshaus darin und im Nordosten eine als gotische Ruine gebaute Meierei. Wiesen für die Kühe, ein Karpfenteich, Felder mit Roggen, Kartoffeln, Hafer und Klee. Unzählige Wege führten durch das Unterholz, und Christian Friedrich Strakon, wie der Zwerg hieß, paßte mit seinem kleinen Körper überall hindurch.

Er rannte am Ufer entlang bis zum Parschenkessel, der großen Bucht am äußersten Ende der Insel, und irgendwann hörte das Geheul dabei auf, aus seinem Mund herauszulaufen wie aus einer Wunde. Doch das Wort blieb in ihm drin. In jener Bucht gab es eine kleine Kuhle im sandigen Boden und darüber ein Dach aus Grassoden, das er im letzten Jahr als Versteck für sich und Marie gebaut hatte, seine kleine Schwester, die jetzt dort darauf wartete, daß er ihr von der Königin berichte. Maria Dorothea Strakon, die alle Marie nannten und die, seit sie vor vier Jahren auf die Insel gekommen waren, den Titel eines Schloßfräuleins trug und sich für diesen Tag nichts sehnlicher gewünscht hatte, als der Königin endlich aufwarten zu dürfen.

Während der Hof im Exil gewesen war, hatte es dazu keine Gelegenheit gegeben, und um so größer war ihre Enttäuschung, heute nicht ins Schloß bestellt worden zu sein. Christian blieb stehen und schöpfte Luft. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam. Das Schilf, noch grau vom Winter, stand wispernd ins Wasser hinaus, die Kolben schwarz und vertrocknet, ein paar Enten dazwischen. Er sah einem Schwan zu, der gleichmütig heranschwamm und begann, sein Gefieder mit sorgfältigen wischenden Bewegungen des Schnabels zu pflegen. Dann bückte sich der Zwerg und schlüpfte unter das Grassodendach.

»Und? Ist sie so schön, wie alle sagen? Und der König? Christian, erzähl’ schon! Was machen sie? Erzähl’ mir, wie ihr Kleid aussieht!«

Marie, geboren mit dem Jahrhundert, sah den Bruder mit großen Augen an. Sie trug ihr schönstes Kleid, das sie vor Tagen schon für diesen Anlaß ausgebürstet und geplättet hatte. Nun, inmitten der Blätter und Wurzeln hier am Seeufer, sah sie darin, wie sie wohl wußte, ebenso traurig wie unpassend aus. Christian kauerte sich zu ihr und strich ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht, das sie am Morgen so lange gekämmt hatte wie noch nie.

Gewiß, er sah dasselbe wie alle anderen auch, wenn sie seine kleine Schwester betrachteten, die Makel des Zwergwuchses, der ihren Kinderkopf im Laufe der Jahre immer weiter verformte, so daß ihre Stirn sich hoch aufwölbte unter dem Haaransatz, und darunter die breite, wie zerdrückte Sattelnase mit der aufgestülpten Spitze, die so gar nichts von einem Kindernäschen hatte. Er wußte, wie sie watschelte beim Laufen, weil ihre Beine sich schon zu verkrümmen begannen. Kannte ihre ganze Gestalt so gut wie seine eigene. Doch er sah in Maries Augen unter den schwer lastenden Brauenbögen auch, wie neugierig und zärtlich sie alles betrachtete, was ihr begegnete. Er kannte ihren Mund, der so gern lachte. Wie vorsichtig und liebevoll ihre Stummelfinger alles betasteten. Wie klug sie für ihr Alter war. Für ihn war sie schön. Geduldig beschrieb er ihr die Kleider der Damen und vor allem dasjenige der Königin und die Uniform des Königs und jenes seltsame Spiel, das die Hofgesellschaft auf der Wiese beim Schloß gespielt hatte. Und erzählte ihr schließlich auch von seiner Begegnung, und weil er es nicht übers Herz brachte, sie zu belügen, wiederholte er auch, was die Königin gesagt hatte. Und so traf schließlich ihr Wort auch Marie noch, der fernwirkende Pfeil, der es war und der so lange nachwirken sollte, lange über den Tod der Königin hinaus und das ganze Leben des kleinen Mädchens hindurch.

Monster. Mit einem jämmerlichen Wimmern wie ein geschlagenes Tier befreite Marie sich aus der Umarmung des Bruders. Das Wort tat ihr weh wie nichts, was jemals jemand zu ihr gesagt hatte. Hilflos sah sie zu, wie die Sonne am anderen Ufer der Havel in ihrem langsamen Fall den Horizont über Sacrow entzündete. Christian küßte und streichelte sie, und sie ließ es geschehen. Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster. Deshalb also hatte man sie nicht rufen lassen.

Daß man sie Schloßfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugwelt der Pfaueninsel, wie alles andere hier auch, wie der Gutshof, bei dem es ganz gleichgültig war, wieviel Milch die Kühe gaben, wieviel Wolle die Schafe, alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster. Und sie hatte es ja immer gewußt. Die Jahre auf der Insel hatten dieses Wissen nur beruhigt, hatten es einschlafen lassen und ihr das Gefühl gegeben, es könnte doch gut sein, wie sie nun einmal war.

Nie hatte auf der Insel jemand gewollt, daß sie und ihr Bruder wuchsen, und niemand hatte sie je gemessen. Früher, als sie noch in Rixdorf zu Hause gewesen waren, hatte zuerst der Vater und dann, als der Vater nicht mehr heimgekommen war, die Großmutter sie beide beinahe jeden Tag gemessen. Sie sah die Kerben im Türstock noch vor sich, zu denen irgendwann keine neuen mehr hinzukamen. Weil sie klein blieben. Und weil der Vater tot war. Manchmal hatte Christian morgens im Bett ihre Beine an den Knöcheln genommen und daran gezogen, zum Scherz nur, gewiß, doch Marie hatte immer gespürt, daß sie beide hätten anders sein sollen, und sie erinnerte sich nicht, damals nicht traurig gewesen zu sein.

All das hatte sich mit einem Morgen geändert, der in einem strahlend hellen Raum in Potsdam und mit einer großen Aufregung begann, mit Kniehosen und den weißen Seidenstrümpfen der Hoftracht. Die Großmutter, beide Hände auf ihren Schultern, hatte sie nach vorn geschoben. Der Vater Soldat. Gefallen? Marie hatte gespürt, wie die Großmutter nickte. Die Mutter? Von einer Mutter wisse man nichts. Die Großmutter hatte ihr einen kleinen Schubs gegeben und der König ihr über den Kopf gestrichen. Ob sie auch wirklich so klein bleibe? Aber gewiß, der Bruder sei ja ebenso. Marie erinnerte sich noch an den Kragen einer Uniform, der hoch und fest wie ein Zylinder auf den Schultern stand. Ein Kopf hatte darauf gelegen, der redete, als man sie an der Hand nahm und wegzog. An der anderen hielt sie ihren Bruder. Sie verlor die Großmutter aus dem Blick und sah sie nie wieder.

Schnell ging es durch Flure und Zimmer, dann durch einen feuchten Gang, man griff sie um die Taille und hob sie in ein schwankendes Boot, und der Mittag brach mit so viel Licht über sie beide herein. Die Ruderer hatten sich schweigend ins Zeug gelegt, Aalfischer, die in ihren Booten standen, sich nach ihnen umgesehen. Christian hatte ihr einen Kormoran gezeigt. Der Himmel über dem Jungfernsee flirrte an den Ufern, und die hohen Bäume, deren Grün so satt war, daß es von ihnen abzutropfen schien, neigten sich tief über den Grund und kamen immer näher, als die Havel sich verengte. Und dann hatte sie die Insel gesehen, zum allerersten Mal. Hochgeschmückt mit ihren Bäumen kam sie selbst wie ein masthohes Schiff heran, weiß der Ausguck der beiden Türme des Schlosses. Ihr Herz schlug wie wild, so glücklich war sie in jenem Moment, denn sie war sich sofort völlig sicher, daß sie, so, wie sie war, nur hierhergehören konnte. Und hatte im selben Moment, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Schrei eines Pfaus gehört.

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Gewißheit gilt es zu vermeiden.

  Gespräch mit Fabian Goppelröder und Martin Beck über literarisches Zeigen. 18.1.2014.

Fabian Goppelsröder/Martin Beck: Ludwig Wittgenstein hat davon gesprochen, dass die Sprache gewissermaßen in zwei Modi funktioniert: dem sagenden Modus und dem zeigenden. Der sagende ist durch Eindeutigkeit gekennzeichnet. Der zeigende letztlich durch ein Moment der Unverfügbarkeit, das Wittgenstein auch noch weiter differenziert und ihn schließlich vom ›sich zeigenden‹ Mystischen sprechen lässt. Beide Modi sind nicht ineinander zu übersetzen und doch nicht voneinander zu trennen. Es ist auch gerade nicht die Trennung von Visualität und Sprache. Beide Modi sind sprachliche Modi. Im Sagen ist das Zeigen mit gegeben. Von Literatur erwartet man, dass sie über die reine Information hinausgeht. Sie ist nicht dazu da, etwas einfach zu sagen; sie soll Sprachkunstwerk sein, den Leser durch ein Ästhetisch-Ungreifbares fesseln. Literatur soll sagen und zeigen. Wie aber hat man sich das genau vorzustellen? Wörter und Sätze können nicht auf dieselbe Weise zeigen, wie ich mit dem Finger auf etwas zeigen kann oder auch wie eine Fotografie etwas zeigt. Wie geht man als Schriftsteller mit der Herausforderung um, nicht einfach nur durch, sondern mit Sprache zu arbeiten? Hältst Du den Begriff des Zeigens zur Beschreibung Deiner schriftstellerischen Arbeit überhaupt für hilfreich?

Thomas Hettche: Ich halte den Begriff des Zeigens sogar für sehr produktiv. Gerade, weil das Zeigen immer auf etwas verweist, was man nicht hat, was einem nicht zur Verfügung steht. Zeigen thematisiert immer auch eine Distanz zwischen mir und dem, was ich meine. Und das ist ein Verhältnis zur Welt, das in der Literatur – wie in jeder Kunst – produktiv wird, denn auch Literatur kann das, was sie sagen will, nie direkt sagen. Sie spricht es nicht aus, sondern sie spricht darauf hin. Wenn sie glaubt, benennen zu können, verfehlt sie ihren Gegenstand. Es gibt ja eine ganze Metaphernwelt zur Beschreibung dieses Haschens nach dem Sich-Entziehenden. Für das Schreiben aber ist das ganz praktische Arbeitsanforderung. Jede Gewissheit gilt es zu vermeiden. Man muss das Eigentliche immer woanders sein lassen, in der Hoffnung, dass es sich im Leser im Wortsinn reproduziert.

FG/MB: Zugleich wäre aber doch das Zeigen, von dem du bisher gesprochen hast, das Auf-etwas-Zeigen, ein anderes als z.B. das Zeigen der Fotografie, die eher ausstellt. Um das Problem der literarischen Weise des Zeigens konkreter zu fassen: Geht man zunächst wie wir davon aus, dass es ein Zeigen in der Sprache gibt, sich diese also nicht einfach im Sagen erschöpft, dann lässt sich immer noch eine ganze Bandbreite möglicher Formen dieses Zeigens benennen, die von klassischen rhetorischen Figuren bis zu Verfahren der literarischen Avantgarde reicht. Beispiele wären die Ekphrasis, wo durch dichte Beschreibung ein sinnlich starkes Vorstellungsbild evoziert wird; tropologisches, also nicht-wortwörtliches, nicht-propositionales Sagen; Formen ostentativer Auslassung, die einen indirekten Hinweis auf das gerade Nicht-Ausgesprochene enthalten; oder Texte, die sich in ihrer Medialität selbst ausstellen, wie etwa in den Experimenten der konkreten Poesie. Wie setzt du solche Verfahren in Deinem Schreiben ein, und welche sind Dir wichtig?

TH: Ich glaube, es gibt keinen gelungenen literarischen Text, der nicht auch in der dichtesten Beschreibung noch einbekennt, dass er eben kein Abbild, sondern Übersetzung ist. Literarische Verfahren stellen dies nur noch aus. Die eigentlichen Textstrategien, mit diesem Mangel umzugehen, sind doch unendlich feiner und komplexer als die Verfahren, die die Avantgarden entwickelt haben. Schon die Metapher ist aus diesem Mangel geboren. Literatur bedeutet, ihn nicht beheben zu können, aber sich gleichwohl an seiner Aufhebung abzuarbeiten. Was sich verändert, sind natürlich die Strategien, weshalb sich, mit Benjamin, die Moderne etwa vom Barock unterscheidet, wo in der Emblematik das Sinnliche im Symbolischen aufzugehen scheint.

FG/MB: Du würdest also sagen, dass literarisches Zeigen ganz grundlegend indirekt ist, also nie zum symbolischen Zeigen verflachen kann. Das impliziert doch, dass die Auffassung der Rhetorik als einer Technik, die in einer Art Baukasten für den schönen Text ein Set an Tropen, Floskeln, Redewendungen bereitstellt, gerade nicht mehr literarisch sein kann. Denn dann könnten mit ihr nur noch Erwartungen erfüllt und befriedigt, also gerade nicht die Sensibilisierung für das, was man nicht hat und nicht haben kann, erreicht werden.

TH: Die Spannung von Regelerfüllung und Regelverstoß bestimmen ja den Umgang der Literatur mit derlei Techniken schon seit der Antike. Und nicht umsonst war selbst den literarischen Avantgarden, die ihre eigenen Rhetoriken entwickelt haben, die Überbietung dieser Techniken immer eingeschrieben. Das Begehren dessen, was man nicht haben kann, wandert in allen Rhetoriken gewissermaßen in das Verfahren selbst hinein und zeigt die Notlage des Autors, die das Verfahren doch vergessen machen will, eben dort: Schaut her, ich muss dieses avancierte Verfahren benutzen, weil ich nicht haben kann, was ich haben will. Doch die daraus zwangsläufig folgende Überbietungslogik des Materialstands, wie Adorno sagte, erschöpft sich regelmäßig, ob bei Beckett oder bei David Foster Wallace.

FG/MB: Um hier vorzugreifend kurz inne zu halten: Was in avantgardistischen Verfahren häufig besonders in den Vordergrund tritt und unmittelbar präsent wird, ist ja auch das Material im buchstäblichen Sinne. Gibt es für dich eine besondere Rolle beispielsweise der Typographie des Buches, der Covergestaltung, des Einbands, der Seitendicke etc.?

TH: So schön und wichtig derlei ist, scheint es mir im Verhältnis zur wirklich entscheidenden materiellen Dimension des Buchs doch nur Akzidenz. Für mich ist seine Endlichkeit die zentrale, alle poetische Verfahren bestimmende materielle Grundlegung des Fiktionalen: Dass wir, wenn wir einen literarischen Text lesen, wissen, dass er aufhören wird, dass er seinen Gegenstand niemals in toto wird abbilden können. Der böse Borges’sche Traum von einem Text, der sich wie eine Karte im Maßstab 1:1 über die reale Welt legt, ist die luziferische Verlockung. Dagegen steht der Grundgestus einer Literatur, die um ihre Beschränktheit weiß, ihre Armut. Literatur ist ja die Arte Povera unter den Künsten, wenn man an die Überwältigungsmöglichkeiten etwa der Musik und der Malerei denkt, oder gar an die illusionistischen Verfahren aller multimedialen Künste, angefangen bei der Oper. Dagegen: Ein paar schwarze Buchstaben auf Papier, diesem billigen Material. Dazu ein extrem beschränktes, endliches Format. Und zudem ist sie das Produkt eines einzelnen Hirns, das in der Regel nicht vernetzt ist. Und dennoch, im Eingedenken all dessen, der aberwitzige Anspruch, alles sagen zu können! Diese Hybris finde ich interessant.

FG/MB: Du bezeichnest die Literatur als Arte Povera der Kunstgattung, deren Materialität auf die Druckerschwärze und die endliche Zahl der Seiten eines Buches reduziert ist. Aber gerade wenn man sich Deinen 2012 erschienenen Essayband Totenberg anschaut, die Erscheinungsform des Buches vom Material des Einbandes bis zum Titelsatz und Satz des Bandes überhaupt ins Auge nimmt, dann sieht man doch, dass es über das simple Schwarz auf Weiß hinaus durchaus Möglichkeiten der Gestaltung gibt, die Teil des literarischen Werks sind bzw. sein können, wie es in der konkreten Poesie oder sogenannten Künstlerbüchern ausgelotet wurde und wird. Das Buch ist ja nicht einfach ein Word-Dokument.

TH: Sicher. Wobei mich solche Erweiterung des Literarischen ins Visuelle nie besonders interessiert haben. Die hohe Kunst der Typographie bestand ja immer darin, beim Lesen möglichst wenig Widerstand zu leisten, unsichtbar, sozusagen durchsichtig zu werden. Dass die Schrift sich für den Leser in den Inhalt des Textes auflösen sollte. Hier gilt dasselbe wie bei den literarischen Techniken, über die wir vorhin sprachen. Mich interessieren die so unendlich feinen Wirkmechanismen, die in der langen Geschichte der Literatur sich herausgebildet haben, nicht das Ausstellen der Verfahren.

FG/MB: Ohne Dich auf etwas festnageln zu wollen – es ist doch interessant, dass bei Totenberg mindestens die Gestaltung des Covers und der Satz des Titels dieser Leichtigkeit des Konsums entgegenstehen. Hier gibt es eine gewisse Widerständigkeit, die von Dir, wenn nicht bewusst lanciert, dann doch zumindest in Kauf genommen wurde. Oder willst du sagen, dass das allein die Entscheidung des Verlags war?

TH: Nein, keineswegs, das ist bewusst in enger Absprache mit mir gestaltet worden, und zwar, weil die Kunst des Buchsatzes leider immer mehr verloren geht. Nicht zuletzt in den Verlagen selbst. Die heutigen Computersatzprogramme erkennen nicht einmal mehr »Hurenkinder« und »Schusterjungen«, deshalb freue ich mich sehr, dass mein Verlag es mir ermöglicht, seit drei Büchern mit dem Schweizer Typographen Stephan Müller zusammenzuarbeiten und wir legen sehr viel Sorgfalt in Satz und Aussehen der Bücher. Vor allem, um wenigstens etwas von dem Gefühl des schönen Lesens zu bewahren, das früher selbstverständlich war, und das, da es eben nicht mehr selbstverständlich ist, heute als Widerständigkeit wahrgenommen wird, die etwa dem Einbandmaterial Leinen jetzt zukommt. Meine Erfahrung ist, dass die Leser begeistert sind davon, wie sich etwa Totenberg ›anfasst‹ und auf welch besondere Weise es ›schön‹ ist. Aber noch das wertvollste Buch besteht aus den armen Materialien der Arte Povera: Leinen, Leder, Holz. Die natürlich auch immer auf Endlichkeit rekurrieren, diejenige der Geschichte, die erzählt wird, wie des Dinges, das das Buch ist. Totholz, wie die Apologeten des E-Books gern sagen. Hier findet die inhaltliche Hybris ihre Entsprechung: Dass dieses Ding, das so begrenzt ist und auch als Untersetzer dienen kann, etwas Unendliches enthält, ist für mich das Spannende an der Literatur.

FG/MB: Die Leute, mit denen wir über Totenberg gesprochen haben, waren tatsächlich begeistert von dem Ding, das als Gegenstand, in seiner Erscheinung, seiner Haptik schon so besonders ist und wurden nicht zuletzt dadurch noch einmal mehr zum Lesen animiert.

TH: Wobei eine solche Gestaltung vor fünfzig Jahren Standard war.

FG/MB: Aber genau das ist doch der Punkt. Standard und Abweichung. Auch bei den Avantgardisten. Materialität gibt es ja nicht einfach so. Sie manifestiert, sie zeigt sich in der Abweichung vom Erwarteten. Man könnte also durchaus sagen, dass bei Dir das Zeigen der Literatur schon beim Objekt ›Buch‹ anfängt…

TH: Ja, unbedingt. Wobei ich allerdings Einwände gegen diese Logik der Mode habe, die sich Gelingen nur als Abfolge von Standard und Abweichung vorstellen kann.

FG/MB: Lass uns noch einmal genauer auf Deine poetische Praxis zu sprechen kommen. Dein 2006 veröffentlichter Roman, Woraus wir gemacht sind, wurde in den Feuilletons sehr gefeiert und heftigst kritisiert. Was aber auffällt ist, dass die schwer greifbare Identität des Buches zwischen Thriller, Suspensegeschichte und Protokoll einer Post-9/11-Befindlichkeit immer wieder an das Ringen um und mit Bildern gebunden wird. Von einem phantasmagorischen Bilderreigen ist die Rede, von einer suggestiven, auf Atmosphären zielenden Sprache. Man könnte vielleicht sagen, dass es ein Roman über das Mystische ist. Er ist, schon vom Titel ausgehend, getragen von der Frage: Woraus sind wir gemacht? Etwas spitzfindig könnte man sagen: Diese Frage wird aber nie in klaren Sätzen beantwortet. Stattdessen endet der Roman mit der Antwort auf eine Frage, die wörtlich nie gestellt wurde: »Liebe ist kein Gefühl«. Es gibt hier also eine Art Lücke. Was ist es, was diese Lücke füllt?

TH: Naja, der Roman steht eben in dieser Lücke…

FG/MB: Um es konkreter zu machen: Der texanische Ort ›Marfa‹, der vor allem wegen Donald Judd bekannt ist, übt auf den Protagonisten Deines Romans eine unerklärliche Kraft und Faszination aus. Du schilderst Marfa als einen Ort, der sich von der deutschen Heimat des Protagonisten dadurch unterscheidet, dass die Dinge in einem gewissen reflexions- und differenzlosen Zustand existieren, sie gewissermaßen mit sich selbst identisch sind. In Deinem Essayband Fahrtenbuch von 2007 findet sich im Kapitel ›Perfekte Tage‹ der Eintrag ›Marfa, TX‹. Gibt es für Dich eine Qualität im Erleben dieses Ortes, die sich vielleicht nur schwer in klare, beschreibende Sätze gießen lässt, für deren wirkliche Verarbeitung es die Möglichkeiten eines Romans braucht?

TH: Eigentlich versuche ich den Leser immer mitzunehmen auf eine Reise. Literatur tut dies immer, noch jeder Kriminalroman ist ja in diesem Sinn eine Quest. Nur, dass die Kriminalgeschichte von Woraus wir gemacht sind mitten im Buch, in dem texanischen Wüstenort Marfa, quasi aussetzt. Und zwar unter den schlechtestmöglichen Bedingungen für einen Helden. Seine schwangere Frau, um die es ihm gehen müsste, wenn er ein richtiger Held wäre, ist entführt worden, wird sehr schlecht behandelt, und er – tut nichts. Der Kernimpuls des Schreibens dieses Romans war es wirklich, den Leser an diese Erfahrung heranzuführen, an den Grund, weshalb er nichts tut. Der Leser sollte mit meinem Helden an diesen Ort, in diese Landschaft reisen und in das Gefühl, dass er hier in einer mit sich identischeren Welt angekommen ist als die, aus der er gekommen ist. Und diese Empfindung hat mit Donald Judds Kunst zu tun, die mich bei meinem ersten Besuch in Marfa tatsächlich überwältigt hat. Ich habe erst dort verstanden, dass es Kunst gibt, die an einen Ort gebunden ist und gehört, dass sie nur da möglich ist und da gesehen werden muss. Dass also der Weg, um zu ihr zu gelangen, notwendig ist. Dass man sich aufmachen muss auf diesen Prozessionsweg zum Kunstwerk, um zu begreifen, was es wirklich bedeutet und was jede Abbildung verfehlt. An dieses Gefühl wollte ich den Leser heranführen. Und das hat natürlich viel zu tun mit der Frage, woraus wir gemacht sind, und auch mit dem Satz, dass die Liebe kein Gefühl sei, denn was der Held letztlich erfährt, ist eine moralische Verantwortung, die von dem Ort bestimmt wird, an den wir gestellt sind.

FG/MB: Was uns dabei aber noch interessieren würde: Wir haben die kontroversen Kritiken nach dem Erscheinen des Buches erwähnt. Abgesehen davon, dass die Reaktionen der Feuilletons meistens recht heterogen sind, fällt hier aber doch auf, dass, wie schon angedeutet, die Ungreifbarkeit des Romans als Genre immer wieder im Verweis auf die besondere Bildermacht der Sprache des Autors, den zitierten phantasmagorischen Bilderreigen und die dadurch ins Werk gesetzte ungreifbare, den Leser beinahe aufsaugende Atmosphäre bezogen wird. Könnte man sagen, dass es tatsächlich Bilder sind, an denen du als literarischer Autor arbeitest? Nicht fotografisch exakte Bilder, keine, die darauf aus sind, ihren Gegenstand zu fixieren und handhabbar zu machen, sondern dynamische, vielleicht im Benjaminschen Sinne dialektische Bilder, die sich als Repräsentation immer wieder entziehen bzw. zerfallen? Die aber gerade so in der Lage sind, die Atmosphäre oder Stimmung zu bauen, zu evozieren, welche die Lücke, die das Nicht-sagen-Können reißt, füllt? Und die das durch den Titel geweckte Verlangen nach einer Antwort darauf, woraus wir gemacht sind, nicht unbefriedigt lässt?

TH: Ja. Der Roman – und das ist natürlich das Schöne an diesem Genre – evoziert ja nicht nur Bilder und Muster im Kopf der Leser, sondern er arbeitet und spielt mit den Erwartungen, die mit diesen Bildern und Mustern verknüpft sind. Es ist unser Amerika und unser Amerikabild, in dem mein Held sich bewegt. Er reist natürlich in meinen Reiseerinnerungen und Erfahrungen, aber er reist zugleich mitten in unsere gemeinsame Phantasie vom Western und der USA. Die Spannung, die der Roman anlegt, und ich denke, er tut dies immer, ist die zwischen dem Persönlichsten des Autors und den Kollektivbildern unserer Zeit. Daraus zieht der Roman als Form seine Kraft. Ich bringe den Leser also an einen Ort, über den ich persönlich zu verfügen glaube, und nehme ihn zugleich mit zu seinen eigenen Kinder- und Medienträumen. Er erkennt etwas, erwartet etwas, die Erwartung wird enttäuscht, verschiedene Ebenen von Wahrnehmung und Trivialmythen überlagern sich, die Kriminalgeschichte wird zum Western, der wiederum mit der Nazi-Geschichte sich verkeilt und mit einer trivialmythischen und esoterischen Science-Fiction-Story kollidiert. Zum einen dient das, ein bisschen tarantinohaft vielleicht, der Spannungserzeugung, aber dieser Genre-Clash zielt auch auf den Kern des Romans, der so, ohne es benennen zu müssen, verhandeln kann, wie wir unsere Welt aufschließen und inwieweit dabei quasimythische Bilder in Anschlag gebracht werden. Insofern geht es um Identitätserfahrung. Sehe ich denn, was ich weiß oder weiß ich, was ich sehe? Das ist, glaube ich, das entscheidende Moment an der Marfa-Episode.

FG/MB: Würdest du sagen, dass diese exponierten Orte, die man immer wieder in Deinen Texten findet, eine Art Kristallisationskern von Atmosphären bilden? Wenn man z.B. an Die Liebe der Väter denkt, dann findet man auch hier mit Sylt eine Art geographisch-imaginäres Gravitationszentrum für all die Anekdoten, Geschichten und Episoden, die das Buch ausmachen.

TH: Ja, Orte sind in meinem Schreiben die entscheidenden Transformatorstationen der poetischen Energie. Es ist mir sehr wichtig, meine erfundenen Geschichten an einen ganz konkreten Ort zu binden. Die Ideen für bestimmte Romane entstehen an bestimmten Orten und sind an diese gebunden. In Marfa war ich dreimal. Einmal auf der Durchreise, da schwor ich mir, wiederzukommen, dann vier Wochen lang, um die Atmosphäre auszukosten und den Roman ganz konkret zu situieren, und schließlich ein drittes Mal, um den fertigen Text am Ort wiederum zu überprüfen. Das Poetische muss sich abarbeiten an der Konkretion. Das ist sozusagen mein Arbeitsmodell. War es immer schon.

FG/MB: Tatsächlich hat man allerdings den Eindruck, dass nicht einfach etwas da ist, in das hinein dann die Erfindung platziert wird. Sondern dass aus der Überlagerung von Mythen, Phantasien und konkreten Orten mit konkreter Geschichte, aus der Reibung zwischen Faktischem und Imaginärem das entsteht, was dann letztlich die Geschichte, der Roman ist. Der Fall Arbogast ist ein Justizkrimi. Und doch scheint sich die besondere Intensität des Buches nicht einfach auf die Spannung des Plots zu reduzieren. Auch hier ist das Setting – der deutsche Südwesten in den 1950er und 1960er Jahren – wichtiger, man kann wahrscheinlich sagen konstitutiver Faktor Deiner Erzählung. Auch baust Du eine völlig überzeugende Atmosphäre dieser Zeit, ohne dabei klischeehaft abzubilden. Auch hier ist nichts naiv, nichts fotographisch exakt. Es geht einmal mehr um das Spiel mit Erwartungen, Patterns im Kopf des Lesers, die aufgerufen, aber nie bestätigt werden. Auch hier ist es wieder die Abweichung von der Gewohnheit, die fasziniert und mitreißt. Der Fall Arbogast baut auf einer realen Begebenheit auf – wie hast du hier Deine Recherche angelegt? Bist du wieder in die Archive, an die Originalorte? Reicht das überhaupt, um ein derartiges Zeitbild zu bauen?

TH: Recherche klingt, als ließe sich das Material sozusagen ernten, aber das trifft es nicht. Andererseits ist aber auch Zufall das falsche Wort für die Koinzidenzen, die schließlich ungeplant produktiv werden. Beispielsweise habe ich für Der Fall Arbogast das Gefängnis besucht, in dem mein Protagonist einsaß. Der Direktor führte mich herum und alles sah wirklich noch so aus, wie es vierzig Jahre zuvor auch ausgesehen haben muss, und ich glich sozusagen mein Vorwissen an der Realität ab. Aber dann sperrte der Gefängnisdirektor unvermittelt eine der schweren Türen auf, sagte nur »Ich zeig Ihnen mal eine Zelle«, und schon war ich drin und stand einem Gefangen gegenüber, in Jogginghose, verlegen, wie ein aufgeschrecktes Wild, offenbar ebenso überrascht wie ich selbst. Und sofort war mir völlig unmissverständlich klar, dass diese vier Wände, in denen ich da stand, viel eher zum Innenleben jenes Mannes gehörten, als dass sie ihn umgeben hätten. Ein intimer Raum, in dem ich schockhaft begriff, was Gefangenschaft bedeutet. Aus diesem eigenen Schock heraus habe ich dann die ganze Figur entwickelt. Recherche ist, wenn sie sinnvoll sein soll, in diesem Sinn eher ein Sich-Aussetzen. Wobei das nicht immer schockhaft sein muss. Als ich spürte, wie schwer es mir fiel, mir die Menschen der 1950er Jahre vorzustellen, geriet ich an eine alte Dame, die ihr Leben lang Kleider gesammelt hatte. Bei der saß ich eines Tages auf dem Sofa und fragte sie ganz konkret, was diese und jene Figur wohl angehabt haben mochte, beispielsweise eine junge Frau im Sommer 1953, und die alte Dame lief jeweils los, in den Keller, auf den Dachboden, und ich saß dann inmitten all dieser Kleider, Schuhe, Anzüge, Unterwäsche, inmitten der kompletten Garderobe meiner Figuren, und konnte sie anfassen, zusammenknüllen, daran riechen… Wie sich ein originales Perlonkleid anfühlt, ein alter Strapsgürtel, wie schwer damals ein Herrenschuh war – ohne den eigenen Impetus der Dinge, ohne dieses Changieren zwischen Deskription und Ungreifbarkeit des Gegenstandes, wäre mir das Schreiben dieses Romans nicht möglich gewesen. Die Gefahr ist immer das Klischee, das unhinterfragte Bild, das wir haben, ob bei Dingen oder Orten.

FG/MB: Von Klischees könnte man sagen, dass es sich um Gemeinplätze handelt, die nicht zuletzt auch eindeutige Zusammenhänge suggerieren. Im Umkehrschluss stellt sich damit die Frage, wie sich Zusammenhänge, sagend oder zeigend, nicht klischeehaft herstellen lassen. In Deinem Roman Nox gibt es den einen Erzählstrang, wo es um Körper und Verletzung, vor allem im Zusammenhang von Sex und Masochismus geht, und gleichzeitig gibt es das politische Geschehen mit dem Mauerfall. Man hat beim Lesen das Gefühl, dass Du hier auf der Motivebene Thematiken nebeneinander laufen lässt und einen Zusammenhang evozierst (zeigst), und dann erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, in einer Art nachträglicher Reflexion diese Verbindung explizit machst (sagst): »Die Mauer war der Schnitt, mit dem sich die Stadt vom Osten trennte.«

TH: Als die Heldin das erste Mal zur Berliner Mauer kommt, in der Nacht des 9.11.1989, an der schon die Mauerspechte nagen, führt das eben auch die beiden Stränge zusammen.

FG/MB: Klar, trotzdem: Wird in dieser Anlage der Erzählstränge nicht ein gewisser Suspense aufgebaut, der sich aus dem Unterschied von Evozieren und Sagen ergibt? Ganz ähnlich wie beim Protagonisten aus Woraus wir gemacht sind. In der Zeit, die er in Marfa gewissermaßen tatenlos verbringt, schwingt der Verrat, seiner entführten Frau nicht zu helfen, immer mit. Dies wird aber erst relativ spät vom Protagonisten und damit auch vom Roman als explizite Einsicht bewusst gemacht. Die Frage wäre im Grunde die: Wie verhält sich das implizite Heranführen des Lesers an bestimmte Thematiken und Fragen Deiner Texte zu deren oft verzögerter, expliziter Reflexion?

TH: Verzögerung scheint mir der falsche Begriff, wenn damit als Mangel beschrieben werden soll, dass in einem Text niemals zweierlei am selben Ort sein kann. Auch Literatur ist, wie Musik, Kunst in der Zeit. Damit gilt es umzugehen. Proust etwa ist darin meisterhaft, wenn er beispielsweise ein Motiv einführt und mit dem Vergessen des Lesers arbeitet. Wenn es 350 Seiten später wieder auftaucht, scheint Proust genau zu wissen, welche vagen Erinnerungen der Leser noch hat, und die nutzt er gerade in ihrer Unschärfe, um den Leser für die Funktionsweise unseres Wahrnehmens zu sensibilisieren, indem die Dinge mal im Fokus, mal am Rand auftauchen, und sich so im Laufe der Lektürezeit verschieben, verändern. Das – und nicht etwa banal die schiere Textmenge – ergibt die unglaubliche Tiefendimension der »Recherche«. Ein Roman ist ja nicht statisch, er ist in der Zeit. Diskursivität im Roman, sofern sie nicht Figurenrede ist, aber selbst dort, wirkt auf dieses hauchdünne Zeitgewebe der Wahrnehmung leicht zerstörerisch, wie ein Steinchen in einem Spinnennetz. Es findet quasi eine poetische Verpuffung statt, sobald der literarische Text diskursiv wird. Mich hat die Frage, inwieweit Literatur das eben doch sein kann, immer sehr interessiert. In Ludwig muß sterben war das eigentlich die Hauptschwierigkeit, wie man Erzählung und Reflexion verbinden kann, denn Romane, bei denen man merkt, der Autor ist klüger als sein Text, er bleibt, aus welchem Kalkül auch immer, unter seinem reflektorischen Niveau, empfinde ich als lügenhaft. Mir scheint, die großen realistischen Romane von Flaubert bis Doderer und Hanns Henny Jahn kreisen geradezu um dieses Problem der Reflexivität. Musil ist unter ihnen der vielleicht skrupulöseste und formbewussteste, und doch hat auch sein Vorgehen, bestimmte Positionen Figuren zuzuordnen, etwas Handpuppenartiges. Für mich müsste die Reflexion in die Beschreibung hinein. Das ist eine Sache, die ich immer schwierig fand und problematisch, aber eben auch interessant. Der plane Realismus der heute populären Romane hat für derlei leider jeden Sinn verloren.

FG/MB: Interessant, dass du diese Frage angesprochen hast. Tatsächlich ist Dein erster Roman, Ludwig muß sterben, viel experimenteller als die folgenden. Ganz abgesehen davon, dass in einem Teilkorpus Deines Werkes, den Essays, sowieso ein ganz anderes Mischungsverhältnis von Reflexion und literarischer Performanz vorherrscht – Du scheinst in Deinen Romanen durchaus eine eigene Möglichkeit gefunden zu haben, intellektuelle Durchdringung und literarische Verarbeitung Deines Themas miteinander zu verbinden, ohne es handpuppenartig werden zu lassen. Gab es einen Punkt, an dem Du gemerkt hast, dass dieses experimentelle Schreiben des ersten Romans vielleicht gar nicht unbedingt notwendig ist? Dass man literarisch, also zeigend schreiben kann, ohne damit jegliche reflexive Dimension auszuschließen?

TH: Der Endpunkt meines Spiels mit der antirealistischen Auflösung des Erzählens war Inkubation, eine Art Erzählungsband als Partitur, auch typographisch in fünf Stimmen gesetzt, bei dem die Geschichten ineinandergreifen, sich gegenseitig durchdringen… Danach ging es für mich in dieser Manier nicht mehr weiter. Ich merkte: Es fehlt mir dabei die Gravitationskraft der Fiktion. Der Roman, diese hybride, unreine Form erlaubt es ja, eine Vielzahl an Stimmlagen zu orchestrieren, Mimesis und Abstraktion in jeder denkbaren Weise zu verbinden, solange es einen glaubwürdigen Fiktionsraum gibt, in den diese Vielfalt hineingestellt wird. Diese Vielstimmigkeit fehlt mir aber in einem Schreiben, das ausschließlich auf die Kraft einer Sprechhaltung baut, und sei der Sound noch so suggestiv. Bernhard etwa langweilt mich. Mich fasziniert der Anspruch des Romans, die ganze Welt erzählen zu können, und nicht etwa nur die ganze Innenwelt einer Figur. Insofern war Nox, der zweite Roman, der sehr schwere Versuch eines Neuanfangs.

FG/MB: Also geht es bei der Frage nach dem literarischen Zeigen immer wieder darum, dass durch Widerständigkeit, Brüche, Reibung etwas evoziert wird, was einem nicht voll verfügbar ist. Insofern ist das Didaktische, das du vorhin ein wenig abschätzig erwähnt hast, gar kein wirkliches Problem, weil das Auf-etwas-Zeigen, von dem wir ausgegangen sind, durchaus etwas Didaktisches hat, was deswegen ja nicht gleich oberlehrerhaft daherkommen muss. Um aber doch noch einmal konkret auch auf Deine literarischen Essays zu sprechen zu kommen: Hier gibt es noch eine ganz andere Verschränkung von Reflexion und literarischer Sprache als in den Romanen. Totenberg wurde als literarische Autobiographie bezeichnet. Es geht um Begegnungen, unter anderem mit Deiner Doktormutter, Erinnerungen an Momente der Kindheit, die erste Annäherung an die Literatur. Würdest Du sagen, dass es auch in diesen thematisch stärker gebundenen Texten wieder um die Evokation von Atmosphären geht, um etwas, was Du im Text präsent sein lassen willst, ohne es vollständig verfügbar zu haben?

TH: Ja, gewiss, wobei sich aber die Art und Weise der Verschränkung von Reflexion und Erzählen über die Jahre verändert hat. Animationen, mein Venedig-Buch, mit dem ich Ende der 1990er Jahre bei Christa Bürger promoviert wurde, ist, akademisch gesprochen, eine medienhistorische Arbeit über die spezifische moderne Verbindung von Blick und Körper in Venedig um 1600, es geht um Körperabbildungen in der Anatomie und der Pornographie der Zeit, um Vesal und Aretino. Zugleich aber habe ich in diesem Text versucht, die theoretischen Reflexionen sozusagen erzählerisch zu situieren. Totenberg hat einen völlig anderen Ansatz. Es ist ein Buch verschiedener Annäherungen an das Phänomen der Person, indem die Reflexion sozusagen ganz in die Form gerutscht ist, die sich in diesem Fall aus dem konkreten Auftrag ergab, für den Politikteil der F.A.S. über das Thema Heimat anhand der Orte zu schreiben, mit denen bestimmte Menschen verbunden sind. Diese Besuche in fremden Lebensräumen, für wenige Stunden, manchmal zwei Tage, elektrisierten mich. Es war eine Art Blindflug, bei dem man sich ganz auf seine Sinne verlassen musste, was dazu führte, dass mich beim anschließenden Schreiben der Geschichten weniger das Faktische interessierte, als davon zu erzählen, wie die jeweilige Person sich bildet. Während man ihr gegenüber sitzt. Und wie man sich selbst bildet. Aus dem Augenwinkel heraus ›Ich‹ zu sagen. Und das hatte ich zuvor noch nie getan: Ich sagen. Wie kann man das heute tun, ohne sich auszustellen und ohne die geläufigen Prothesen der Persona zu bemühen? Das ist ein völlig anderes Thema als dasjenige der Animationen. Ein anderer Zugang zum Problem der Reflexivität. Das ›Ich‹ in Totenberg ist einerseits authentisch, aber zugleich ist es nicht selbst-setzend, es ist gehalten durch das Netz der Bezüge, in dem es steht. Es bildet sich im Blick des anderen wie der andere in meinem.

FG/MB: Es ging also darum, Personen in ihren Orten darzustellen, nicht physiognomisch beschreibend, sondern in der sie haltenden lokalen Atmosphäre, durch das Netz der Bezüge, das eine Person allererst Person sein lässt. Bleiben wir noch einmal bei ›Der Bunker‹. Auch hier finden wir eine Nachträglichkeit, ähnlich der vorher erwähnten, oder vielleicht noch etwas radikaler: eine Auslassung. Es gibt eine wiederkehrende Frage, »Warum versinkt das Haus?«, die, wie oft sie auch gestellt wird, nicht beantwortet wird. Erst gegen Ende des Essays kommt heraus, dass es der durch eine Tür mit dem Keller des Hauses verbundene Bunker ist, der es hinabzieht. Das ist in Bezug auf unser Thema in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt sich hier einmal mehr das Verfahren der Auslassung und des Aufschubs. Zum anderen ist es das Bild des das Haus herabziehenden Bunkers, mit dem die Auslassung schließlich gefüllt wird, und das durch diese Einbettung eine starke Nachdrücklichkeit erhält. Der Bunker wird gewissermaßen zum Bild für die Situation der Generation der Nachkriegsintellektuellen – von der Paranoia des kalten Krieges bis hin zu dem langsamen Verschwinden dieser Generation. Die Auslassung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers, das Nichtsagen wird zum Hinzeigen und der Bunker zum Kondensationspunkt einer ganzen Reihe nicht aufgelisteter Assoziationen.

TH: Ich weiß schon, dass ich vorhin auf die Frage nach der Auslassung die Antwort ausgelassen habe. Vielleicht, weil ich vor der These scheue, die sich mir dahinter anzukündigen scheint. Mir widerstrebt eine Hermeneutik, die von der Leere im Zentrum von Texten raunt. Und zwar, weil ich nicht daran glaube, dass Romane tatsächlich mechanisch sich organisieren, und selbst Begriffe wie »Leere« oder »Abwesenheit« sind als Begriffe Werkzeuge, die das, auf das sie in Anschlag gebracht werden, zur Mechanik machen. Mir scheint das Moment des Gestischen, von dem wir zu Beginn im Zusammenhang mit dem Unverfügbaren sprachen, adäquater zu sein, um zu beschreiben, was im literarischen Kunstwerk geschieht. Ich glaube, die Unverfügbarkeit des Gezeigten bringt immer neue, andere, auch im selben Werk wechselnde Strategien des Zeigens hervor, korrespondierende, einander widersprechende, bei denen es wenig sinnvoll ist, sie zu hierarchisieren und damit still zu stellen. Manchmal denke ich, das Verstehen des Textes müsste ebenso in der Zeit stattfinden wie der Roman selbst. Ich habe jedenfalls alles versucht, damit der Bunker in jenem Text über Christa Bürger eben nicht zum Symbol wird, obwohl er zugleich nur als solches von Wert ist. Die Vielfalt der Bedeutungen ist nicht zu reduzieren.

FG/MB: Aber du brauchst, um die Vielfalt in ihrer Intensität zu erhalten, eine Art Gravitationszentrum. Und das ist in diesem Fall doch dieser Bunker…

TH: Ja, denn das entspricht unserer Weltwahrnehmung. Wir haben stets die Hoffnung, es müsste möglich sein, das, was wir erleben, auf den Punkt zu bringen. Ohne diese Sehnsucht würden wir wohl auch verzweifeln. Literatur bestätigt diese Sehnsucht, verstärkt sie sogar, und vielleicht tut sie gar nichts anderes. Sie gibt uns eine Ahnung davon und hält die Sehnsucht danach offen, wie es wäre, wenn alles Relevanz hätte, und lässt uns zugleich erleben, wie sehr es schmerzt, dass wir diesen Sinn niemals haben werden. Und manchmal versöhnt sie uns sogar mit diesem Schmerz, weil er es ist, der uns als Menschen auszeichnet.

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Edition Spycher 5.

  Dörlemann Verlag, Zürich 2013.

Sprachspielerische Verfahren, erklärte Barbara Köhler einmal in einem Interview, zielen auf das Ausbremsen von Intentionalität – also der Sehnsüchte und Absichten des Autors, und jener des Lesers auch. Vielleicht sollte man den Bezug, den Barbara Köhler mit dem Titel 36 Ansichten des Berges Gorwetsch zu Hokusais berühmter Serie von Holzschnitten herstellt, in diesem Sinn verstehen. Wie dort der Fuji als mal ferner, mal naher Sehnsuchtspunkt dem Betrachter immer unerreichbarer wird, je mehr in der Wiederholung des Motivs die graphischen Mittel in den Vordergrund drängen, so rückt Barbara Köhlers Gorwetsch durch die strenge Form der jeweils neunzeiligen Annäherungen in eine meditative, ja nachgerade laszive Distanz.

Seit Barbara Köhler 2007 mit dem Spycher: Literaturpreis Leuk ausgezeichnet wurde und zum ersten Mal ins Wallis kam, hat sie schreibend, gehend, photographierend den Hausberg Leuks immer wieder von neuem und immer wieder anders in den Blick genommen. Und das ist auch nötig, denn Berge sind als andere als platonische Körper, deren polygone Seitenflächen von allen Blickwinkeln gleich aussähen, ja kaum erkennt man, bei wechselnder Perspektive, daß man denselben Berg vor sich hat. Aber auch die Sprache ihrer Annäherungen kommt nicht aus dem platonischen Himmel – wer wüßte das besser als die Lyrikerin Barbara Köhler? -,  besonders nicht im zweisprachigen Wallis, wo Deutsch und Französisch ineinander zu greifen scheinen; so als berührten, / kreuzten die Schatten der Wörter einander, kämen sie überein darin, / auf eine nicht greifbare, aber doch sichtbare Weise. 

In ihrem Nachwort schreibt die Autorin von den sich verändernden Zugängen zu ihrem Berg, die erst die Zeit ihr gewährte. Kostbar an diesem Buch ist aber auch, daß die Autorin diese Zeit sich nahm, denn vom Wissen um Dauer und Bedauern bezieht es seine grosse Ernsthaftigkeit und Schönheit. Bei Licht besehn bleibt ja nichts, ist keines / Bleibens, kein Bleibendes; selbst Berge, das sieht man am /  Gorwetsch, vergehn.

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Was ich gerade lese…

  27.10.2012.

Indem ich Johann Holtrop von Rainald Goetz aufschlage, bin ich schon Teil seiner Geschichte, Teil des Rumors, der sich um diesen Roman lange vor Erscheinen gebildet hat, und der etwas besonderes ist, weil die Erwartung der literarischen Öffentlichkeit ausnahmsweise einmal nicht dem Erwartbaren galt, dem Bestsellerfortsetzungsgeschäft, sondern etwas Unbekanntem. Daran ist einerseits interessant, daß es das überhaupt noch gibt, die Sehnsucht nach dem einen Roman, der uns unsere Gegenwart aufschließt, und andererseits, daß man gerade Rainald Goetz zutraut, diesen Roman zu schreiben. Einem Autor, der nach Irre, seinem Debut vor nun auch schon fast dreißig Jahren, mit der Romanform gehadert, sie vermieden, umkreist, verweigert hat. Allerdings konnte man über die Jahre immer wieder Ausschnitte, Versuche, Annäherungen davon lesen, wie Goetz sich wohl einen Roman der Gegenwart vorstellst, der dem eigenen Anspruch, to pimp up Balzac mit Luhmann, gerecht würde. Und nun also: Die Probe aufs Exempel. Sie geht schief. Der Roman zerfällt wie das Experiment eines all zu ehrgeizigen Alchemisten. Aber das macht nichts, denn was mich weiterlesen läßt, ist nicht die Geschichte von Aufstieg und Fall dieses Johann Holtrop – der Held dieses Romans ist sein Autor. Ich fiebere und bange mit ihm: Es möge doch bitte gelingen, was er da versucht. Es gelingt nicht. Aber sein Anspruch erinnert schmerzlich daran, wie sehr wir uns längst daran gewöhnt haben, beim Lesen der allermeisten Romane wenig an Hoffnung zu investieren. Hoffnung auf Welt und auf Wahrhaftigkeit. Und daß das falsch ist.

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Reden wir über das Schreiben.

  Ein Werkstattgespräch über Literatur und Kritik, über Einsamkeit und das Internet zwischen den Kritikern Iris Radisch und Ijoma Mangold und den Autoren Juli Zeh, Thomas Hettche und Clemens Setz. 4.10.2012.

Mangold: „In den späten neunziger Jahren gab es einen großen Trend in der deutschen Literatur: Die neue Lust am Erzählen, wie es damals hieß. Spannende Plots, lebensnahe Stoffe sollten die als verkopft empfundene deutsche Gegenwartsliteratur wiederbeleben. Dieses Programm ist zwar nie ausdrücklich verabschiedet worden, trotzdem haben wir das Gefühl: Diese Zeit ist vorbei. Niemand muss heute mehr wie Raimund Carver schreiben“.

Hettche: „Da muss ich grinsen. Mir scheint, hinter dieser Forderung verbarg sich vor allem eine Sehnsucht der Literaturkritik selbst – nach mehr Glamour! Man wollte endlich eine Literatur besprechen aus der großen Welt schnellen Autos und Swimmingpool. Meine Beobachtung ist auch, dass das gerade wieder dreht. Es gibt nun eine andere Sehnsucht der Kritik, diesmal nach dem Experiment, nach der Avantgarde. Mein Verdacht ist, dass es eine Sehnsucht nach Reinheit ist. Wenn man erlebt, wie das so alle 20 Jahre hin und her pendelt, wird man gelassen. Im Grunde sind doch solche Positionen für die meisten Schriftsteller ganz unwichtig. Aber ich bin schon gespannt, welches Experimentalgenie nun bald ausgerufen werden wird.“

Setz: „Haben Sie Experimentalgenie gesagt?“

Hettche: „Ja. Experimentalgenie.“

Setz: „Ich war ja nie zu Hause in diesen Kommentierwelten. Aber ich bin zu Hause in Graz, und das hat eine eigene Erzählung über sich selbst. Wenn man zu schreiben beginnt in dieser Stadt, sind die ersten Leser immer Grazer. Und da heißt es dann gerne: Das ist aber nicht mehr so experimentell wie damals. Und damals meint: Peter Handke, Wolfgang Bauer, Werner Schwab und so weiter. Man vermisst das Formzertrümmernde, das Betrunkene, das Wildtorkelnde dieser Zeit. Wenn wir das nicht einhalten, sind wir antitraditionell. Wenn man hingegen heute formzertrümmernd schreibt, dann macht man exakt dasselbe, was vorher gemacht wurde.“

Radisch: „Ich habe die letzten beiden Jahrzehnte oft als einen literarischen Generationenkampf wahrgenommen. Das Noch-nicht-erwachsen-sein hat die jüngeren Autoren ungemein okkupiert. Die alten Autoren  bestimmten die Agenda und die jungen waren mit dem Jungsein beschäftigt.  Hatten Sie es so schwer, sich durchzusetzen?“

Zeh: „Als ich anfing zu veröffentlichen, hatte ich den Eindruck, ich gehörte zu den ersten jungen Autoren, die wirklich ernst genommen wurden.“

Hettche: „Ja, bei Ihrem Erscheinen auf der literarischen Bühne hatte ich auch den Eindruck, das ist eine Generation, die ist viel professioneller, als wir es zu Beginn waren. Meine Generation, also Thomas Kling, Marcel Beyer, Durs Grünbein und so weiter, hat sich wohl tatsächlich noch in einem grundsätzlich kritischen, man könnte auch sagen pubertären Verhältnis zum öffentlichen Raum empfunden. Juli Zeh nehme ich wahr als eine im Umgang mit ihrer Öffentlichkeit ungemein professionelle Autorin.“

Radisch: „Und zwischen Ihnen liegen zehn Jahre Altersunterschied.“

Zeh: „In diesen zehn Jahren hat sich enorm viel verändert. Von uns wurde diese Professionalität einfach erwartet.“

Mangold: „Und vielleicht mehr als das. Die deutsche Literatur wurde plötzlich zu einer ökonomischen Größe, Verlage konnten von ihr leben und zahlten hohe Vorschüsse.“

Zeh: „Plötzlich wurde Schriftsteller ein richtiger Beruf. Als ich studiert habe, war Schriftsteller noch kein Beruf. Wenige konnten davon leben. Schriftsteller kam als wählbarer Beruf in meinem Weltbild gar nicht vor. Dann gab es plötzlich Autoren, die sich als Vollblutschriftsteller definierten.“

Hettche: „Während mir andererseits junge Autoren heute oft sagen: Ihr hattet es damals gut, Ihr wurdet noch als Schriftsteller im alten Sinn angesehen, bei euch geht es noch um ein literarisches Werk, wir werden nur noch wahrgenommen in unseren medialen Effekten.“

Setz: „Darf ich Sie mal etwas fragen? Als Sie anfingen zu schreiben, haben Sie da jemals gedacht, dass Ihre Tätigkeit als Schriftsteller nur eine vorübergehende Sache ist, dass das bald nicht mehr möglich sein wird?“

Hettche: „Nein. Ich dachte, die literarische Welt, in die ich da hineinschreibe, ist ewig. Und eigentlich denke ich das natürlich immer noch.“

Setz: „Ich denke das nicht. Ich denke, dass das schon in ein paar Jahren kein Mensch mehr braucht, was ich schreibe. Es gibt so wahnsinnig viel, was man lesen, womit man seine Zeit verbringen kann. Da ist das, was ich mache, befristet. Ich meine das gar nicht kokett.“

Mangold: „Es gibt ja die alte Vorstellung, die Literatur sei ihre Zeit in Begriffe gebracht. Das ist für Herrn Hettche immer noch selbstverständlich gegeben.“

Hettche: „Ja. Literatur ist eines der zentralen Erkenntnismittel dieser Welt.“

Zeh: „Und wenn man daran nicht glauben würde, könnte man es auch nicht machen.“

Mangold: „Aber viele Leute sagen, unsere komplexe Wirklichkeit werde durch andere Medien, etwa amerikanische Fernsehserien, viel besser dargestellt.“

Zeh: „Und wenn schon. Es ist ja kein Erkenntniswettkampf. Ich glaube nicht, dass wir bedroht sind von anderen narrativen Formen, ganz im Gegenteil. Dass so etwas Schwieriges wie die amerikanische Serie The Wire einen solchen Erfolg hat, zeigt doch nur, dass unsere Sehnsucht nach großen und gesellschaftlich relevanten Erzählungen nach wie vor da ist. Und ob die durch einen Roman oder eine Fernsehserie erfüllt wird, ist eigentlich egal.“

Radisch: „Gibt es trotz der Uferlosigkeit all dieser großen Herausforderungen, die unsere Gegenwart bereit hält, das Gefühl, es gibt etwas, das wirklich nur Sie jetzt machen können, etwas, das Ihnen niemand abnehmen kann?“

Hettche: „Für mich ist es tatsächlich dieses Ding: das Buch. Sein Wunder ist, dass der Leser mit ihm in ein exklusives, nichtvernetztes Gespräch treten kann. Meine Arbeit findet statt zwischen meinem Kopf und dem Kopf des Lesers. Da hängt nicht Google dran, da hängen nicht Musik und Bilder und Kommentarfunktionen dran. Diese Einsamkeit auf beiden Seiten, der des Autors und des Lesers, die Konzentration auf einen Text, der endlich und abgeschlossenist, das ist das, was wir haben und was bleiben wird.“

Zeh: „Das kann ich unterschreiben.“

Setz: „Ein Kopf macht ein Buch und dieses Buch wird dann vor einen anderen Kopf gehalten. Das ist eine zauberhafte, magische Situation. Ich glaube, es gibt noch immer eine Rolle, die ein Schriftsteller erfüllen kann. Er ist derjenige, der sich mit seinen Obsessionen umgeben kann. Jemand, der sich ohne Auftrag mit seinen Dingen befasst, nach denen er süchtig wird, in die er hineinfällt und in denen er dann eine Tiefe erreicht, in die sich sonst niemand verlaufen würde. Das ist eine Figur, die man braucht. Viele Menschen möchten wissen, dass es so jemanden gibt.“

Zeh: „Diese Figur, die Sie beschreiben, könnte bald sogar noch relevanter werden als Sehnsuchtsfigur. Je mehr die Leute das Gefühl haben, von dieser stark vernetzten Öffentlichkeit aufgesogen zu werden, desto mehr wächst die Sehnsucht nach dieser Vertiefung.“

Hettche: „Das ist die Hoffnung. Wobei ich allerdings den Eindruck habe, dass die Leser sich den Autor mehr und mehr als Dienstleister wünschen. Man hat als Autor einen Service zu leisten.“

Mangold: Was für einen Service?“

Hettche: „Den Service der Erzählung beispielsweise. Früher war der Autor eine Figur aus einer anderen Welt, ob der nun gerochen oder gestottert hat, war erst einmal egal. Heute gibt es eine Umkehr der Beweispflicht. Der Autor muss beweisen, dass er kompatibel ist.“

Zeh: „Das klingt sehr böse. Ich sympathisiere nicht mit dem Autor, der sich einfach nur hinsetzt und schon eine Sensation darstellen will.Aber inwieweit begreifen Sie sich als Literaturkritiker eigentlich auch als Trendsetter? Macht man nur von Buch zu Buch? Oder macht Ihr auch Literaturpolitik?“

Mangold: „Es gibt keine strategisch abgesprochenen Aktionen. Aber es ist immer so mit allen Zeittendenzen, dass sie im Rücken der Subjekte entstehen. Jede einzelne Rezension versucht sich doch so hochzujazzen, dass sie nicht nur über den Einzelfall eines Buches spricht, sondern über Wohl und Wehe der ganzen Literatur.“

Radisch: „Außerdem ist es ja nicht unser Bestreben, den Markt nur schön proportional abzubilden. Unsere Auswahl ist eine Wertung. Sie ist natürlich Literaturpolitik.“

Setz: „Die Popliteratur war vielleicht der erste Versuch, sich dieser Politik zu entziehen. Die Popautoren haben sich untereinander kommentiert und getroffen.“

Mangold: „Der soziale Erfolg der Popliteratur war eine Entmachtung der kritischen Klasse.“

Hettche: „Was dann zu pophysterischen Auswüchsen der Kritik führte, die plötzlich Sehnsucht hatte, selbst beim Rave dabei zu sein und am Glamour zu partizipieren.“

Radisch: „Die Barrieren zwischen Literatur und Kritik liegen seither sehr viel niedriger, wenn sie nicht schon ganz gefallen sind.“

Hettche: „Vor allem muss sich der Kritiker in der prekären Lage der Medien heute viel stärker als früher selber als Marke verstehen. Ich finde, man merkt der Literaturkritik schon die Lebensangst der Kritiker an. Die eigene Karriereförderung durch ständige Aufmerksamkeitsgenerierung für sich selber, das macht die Kritik erst seit ungefähr fünfzehn Jahren auf eine traurige Art und Weise.“

Radisch: „Einerseits sagen Sie, dass Literatur und Kritik mehr und mehr zu bloßen Dienstleistern werden, andererseits bescheinigen Sie den Literaturkritikern eine üble Neigung zu Profilierungsneurosen. Was erwarten Sie eigentlich von uns?“

Setz: „Wir erwarten von der Kritik kommentierende Literatur. Wenn sie brillant geschrieben ist, darf sie sogar vernichtend sein. Das darf man eigentlich nicht laut sagen. Aber bei mir ist es so. Literaturkritik sollte die Welt heller, rätselhafter, lebendiger, merkwürdiger machen.“

Mangold: „Interessant ist doch: Hier sitzen fünf Menschen, die von der Literatur und möglicherweise für die Literatur leben. Und immer betonen wir die Eigensinnigkeit der Literatur. Dabei hat dann aber vieles, wovon wir sprechen, mit der Beschreibung von Rollenhaftigkeit zu tun.“

Zeh: „Man muss sehr stark trennen zwischen der Schreibsituation und allem, was geschieht, sobald das Buch erschienen ist.“

Hettche: „Und das sehen Kritiker oft nicht. Sie sehen nur die jeweilige Rolle des Autors in der Öffentlichkeit und versuchen, sie mit den Texten in Deckung zu bringen. Das sind aber zwei Seinszustände.“

Zeh: „Niemand wacht morgens auf und denkt: Ich bin eine politisch engagierte Autorin. Oder: Ich bin ein ästhetikverliebter Elfenbeinturmbewohner. Genau wie andere Menschen tun Schriftsteller einfach das,  was ihrer Persönlichkeit entspricht.“

Hettche: „Seit 25 Jahren nimmt mich die Kritik als eher theoretischen Autor wahr. Dabei kreist mein Schreiben seit dem ersten Buch im Innersten um die Frage, wie man einen Leser mit einer Erzählung so gefangen nehmen, dass er bezaubert ist.“

Radisch: „Aber ist nicht selbst das Innerste eines Autors auch Teil einer Inszenierung?“

Zeh: „Keineswegs. ich trete nicht schreibend vor das Publikum. Sondern erst danach.“

Hettche: „Ein Beispiel: Ich tue mich sehr schwer damit, journalistisch zu schreiben. Irgendwann riet mir ein sehr erfolgreicher Journalist: Hettche, Sie brauchen eine Rolle dafür, Sie müssen sich eine Sprechposition ausdenken, dann geht es schneller. Und das stimmt. Nur ist genau das für mich beim literarischen Schreiben völlig uninteressant. Im Gegenteil: Es geht darum, beim Schreiben ganz nackt und bloß zu sein.“

Radisch: „Wie kommen Sie eigentlich an Ihren Stoff?“

Setz: „Bei mir ist es sehr einfach, ich kann mich jahrelang nur mit etwas befassen, das von selbst immer wieder in mir auftaucht. Ich kann zum Beispiel abends im Dunkeln eine halbe Stunde still dasitzen und mich in eine Sache hineinbohren. Manchmal sind das Dinge, zu denen man eine große Distanz hat, die mir aber einmal wahnsinnig nah waren. Ein gutes Beispiel ist mein Tinitus, ein Dauerklingeln, das ich habe, seit ich dreizehn bin. In den ersten Jahren ist man da nah am Selbstmord, so schrecklich ist das. Irgendwann, nach sieben acht Jahren, entscheidet sich das Gehirn, dass das nicht mehr interessant ist. Ich leide jetzt nicht mehr darunter, kann aber darüber schreiben, wie es ist, daran zu leiden.“

Radisch: „Aber bei Ihnen Frau Zeh und Herr Hettche kommen die Stoffe nicht so sehr aus den eigenen Innenwelten?“

Zeh: „Woher  sonst?  Man  sucht  Stoffe  nicht.  Einen  Stoff  suchen  ist  Schreibkrise.“

Hettche: „Es hat schon zu tun mit der Zeit, in der man lebt. Zugleich aber muss jeder Versuch, in diesem zeitgenössischen Sinn strategisch sein zu wollen, literarisch scheitern.“

Radisch: „Im Augenblick ist wieder sehr stark ein Drang zu den großen gesellschaftlichen Stoffen zu beobachten. Das aktuellste Beispiel ist der Bertelsmann-Roman von Rainald Goetz.“

Hettche: „Ja, und dieser Roman ist für mich ein hochinteressantes Beispiel für den Anspruch, einen Stoff literarisch zu vermitteln, und ist auch in seinem Scheitern noch tausendmal aufregender als die vielen gehäkelten Romane, die diesen Anspruch gar nicht erst haben: Welt und Erzählung in aller Komplexität in Deckung zu bringen. Es ist eben kein Roman über Middelhoff, obwohl er erkennbar auftaucht. Literatur verwandelt, im besten Fall, zur Kenntlichkeit.“

Mangold: „Man erwartet von der Literatur ein gewisses Gegenwartsgefühl. Wir wollen unsere eigene Zeit im Roman begreifen. Was ist Ihr Gegenwartsgefühl?“

Zeh: „Abstrakt ist das schwer zu benennen. Aber im literarischen Schreiben realisiert sich der Zeitgeist ganz automatisch.“

Hettche: „Ja. Literatur ist ein Mechanismus, der die Zeit in einer Weise versammelt, die freier ist als andere Weisen, im besten Fall freier von ideologischer Verstellung. Und das geschieht jenseits unserer eigenen Fähigkeiten, selbst zu verstehen, was wir tun, und zugleich nur, wenn wir mit aller Energie zu verstehen versuchen. Das ist wie eine Kippfigur von Schwäche und Allmacht.“

Zeh: „Und es waltet das Moment des Zufalls, also anders als in der Geschichtsschreibung, die die Deutung immer schon in die Beobachtung integriert. Wir versuchen nicht schreibend eine große Frage zu beantworten. Deswegen können wir ideologiefrei sein. Der Zufall ist das subversive Element, das Ideologie zerstört.“

Radisch: „Das klingt sehr entspannt. Könnte diese Entspannung auch damit zu tun haben, dass es keine Kämpfe mehr gibt um literarische Positionierung, um literarische Schulen?“

Hettche: „Ich glaube, das Gravitationszentrum habt sich verschoben. Wir gucken alle auf das Ökonomische unseres Betriebes. Während die ästhetischen Positionen früher auf einem kulturellen Markt um Aufmerksamkeit konkurriert haben, konkurrieren heute die Bücher  um die  Auflagenzahlen.“

Radisch: „Aber es wäre doch immer noch denkbar, um die Legitimität bestimmter ästhetischer Auffassungen zu streiten?“

Hettche: „Ich denke, wir haben die Erfahrung gemacht, dass jede Meinung, die sich durchsetzt auf dem Markt, Auflage und Geld bedeutet. Das korrumpiert von vornherein all die ästhetischen Debatten, die Sie im Feuilleton so gerne anzetteln möchten.“

Zeh: „Niemand stellt sich mehr auf die Kanzel und sagt: So ist es.“

Mangold: „Selbst die Politik hat sich längst auf die Redeform geeinigt, es sei alles zu komplex, um wirklich zu wissen, was wahr und richtig ist.“

Radisch: „Daraus entsteht eine ungeheuere Unverbindlichkeit des subjektiven Meinens.“

Zeh: „Stimmt schon, ich vermisse ein bisschen das große Theater, den Grabenkampf.“

Mangold: „Diese Art der Bandenbildung hat den Literaturbetrieb früher so lustig und abenteuerlich gemacht.“

Hettche: „Aber dafür sind Sie doch mitverantwortlich, weil Sie sich mit den Autoren ihrer Generation nicht mehr grundsätzlich solidarisch erklären. Stattdessen sagen Sie: Mal gucken, heute bist du gut, morgen vielleicht nicht mehr. Früher gab es eine Art von Pakt, der darin gründete, dass man in einer Generation eine gemeinsame Perspektive auf die Welt und ihre literarische Gestaltung teilte. Doch dieser Pakt ist aufgekündigt worden, und zwar von Ihnen.“

Radisch: „Herr Hettche schreibt in seinem neuen Essayband: „Erst jetzt ist die Kultur dabei zu verschwinden, die Thomas Mann schon an ihrem Ende sah“. Wir sind gerade dabei, sehr viel an der Garderobe abzugeben auf dem Weg in ein neues Zeitalter.“

Hettche: „Herr Setz hat es gesagt. Er weiß nicht, ob er für das, was er macht, morgen noch einen Raum findet.“

Zeh: „Aber es ist sehr langweilig, wenn sich der Kulturbetrieb immerzu selber als aussterbende Art definiert. Darin liegt auch eine Eitelkeit, die die persönliche Biographie mit der Weltgeschichte verwechselt.“

Setz: „Es gibt so viele Schwellen. Ich weiß nicht, ob sich Menschen jemals nicht vor einer Schwelle oder hinter einer Schwelle empfunden haben. Was ich als sehr einschneidend empfinde ist, dass ich heute alles, was ich sehen möchte, auch sehen kann. Jede erotische Phantasie ist garantiert schon irgendwo im Internet. Deswegen mache ich mir die Mühe, mir etwas auszudenken, was garantiert niemand ins Internet stellt.“

Radisch: „Aber wo nun wirklich ganz sicher kein Stein auf dem anderen bleiben wird, ist in der Verlagsbranche. Es wird möglicherweise bald keine Buchläden und Verlage mehr geben.“

Zeh: „Warum sollte es keine Verlage mehr geben? Der Verlag ist ja nicht die Druckerei. Das, was wir in Deutschland haben, die Möglichkeit, dass so viele Autoren von der Literatur leben können, ist übrigens etwas höchst Ungewöhnliches. Es wäre gewiss nicht wünschenswert, dass sich das ändert. Aber die Literatur wird so oder so davon nicht untergehen.“

Hettche: „Dieses Argument finde ich perfide. Perfide, weil sich hinter dieser alten romantischen Vorstellung, dass der kreative Impuls sich schon seinen Ausdruck sucht, doch die Vorstellung verbirgt, Künstler sollten am besten hungern. Die ganze Urheberdebatte ist auch eine Neiddebatte. Aber ich möchte daran erinnern: Der moderne Roman entwickelte sich zu seinem ganzen Reichtum und seiner Grossartigkeit erst, als es seinen Autoren möglich wurde, von ihren Büchern zu leben.“

Radisch: „Und das materielle Buch? Wie wichtig ist Ihnen das?“

Zeh: „Mir persönlich ist es wichtig, aber es gibt Leute, die sagen, das brauchen sie nicht – und das kann ich akzeptieren. Der Text funktioniert ohnehin im Kopf.“

Radisch: „Wird das nicht doch die Sache selbst verändern, wenn Bücher nur noch im Netz stehen?“

Hettche: „Es ist doch auffallend, dass erzählerisch im Netz nichts Neues geschieht. Das Web ist vor allem das Lagerfeuer, um das man sich versammelt. Ich befürchte, das ständige Gequatsche an diesem Lagerfeuer ist kein besonders guter Rahmen für Literatur.“

Radisch: „Ich habe das Gefühl, dass sich auch die gedruckte Literatur durch das Internet verändert. Es gibt einen Mut zur Hässlichkeit. Im letzten Houellebecq gab es nicht mehr einen schönen Satz.“

Mangold: „So schön wie in Karte und Gebiet hat er doch noch nie geschrieben!“

Radisch: „Aber die romantische Idee von der Literatur als letzter Zelle des Authentischen ist dahin.“

Setz: „Dann ist sie jetzt einfach die letzte Zelle, mehr nicht.“

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Echo.

  1.9.2012.

Da ist die kleine Seejungfrau wieder und da Hetaera Esmeralda, der Glasflügler, hier Kaisersaschern und der Bordellbesuch mitsamt geheimnisvoll-schicksalhafter syphillitischer Ansteckung, die funkensprühende Münchner Straßenbahn und die Abtsstube auf dem Hof der Schweigestills, der Privatdozent Eberward Schleppfuß und dann auch Mr. Capercailzie in seiner kugelförmigen Tauchergondel auf Höllenfahrt in die Tiefsee hinab. Immer weiter blättere ich in der Neuausgabe des Doktor Faustus, bei der alles Hand und Auge schmeichelt, der hochglänzend bezogene Schuber und das weiche Naturpapier des Schutzumschlages, die Glätte der Seiten und der perfekte Satzspiegel, und überlege dabei, wie alt ich war, als ich den Roman zum ersten Mal las, vierzehn oder fünfzehn wohl. Den Überdruß jener, die damals in Thomas Mann ihre eigene bildungsbürgerliche Erziehung ablehnten, konnte ich schon deshalb nicht teilen, weil ich diese Erziehung nicht genossen hatte. Auf dem schmalen Bücherregal meines Elternhauses, im Eßzimmer neben dem Gummibaum und den beiden hölzernen Kranichreliefs, standen lediglich die Bände, die der Bertelsmann Buchclub so lange vierteljährlich schickte, bis mein Vater das Abonnement irgendwann kündigte. Ich erinnere mich an eine Ratgeberreihe, die aus einem Wörterbuch, einem Kochbuch, einem Atlas und einem Buch mit dem Titel Die gute Ehe bestand. Außerdem gab es Romane von Pearl S. Buck und Hermann Löns, die Autobiographie von Hildegard Knef kam später hinzu. Das einzige Buch, das mich außer dem Eheratgeber interessierte, der die Strichzeichnung einer Frau und ihres Sexualapparats enthielt, war ein Roman über Stalingrad mit seinen gespenstischen Ruinen und erfrierenden Soldaten.

So habe ich den Doktor Faustus von der falschen Seite gelesen, nämlich von außen, und nicht als Angehöriger jener deutschen Kultur, deren Zusammenbruch der Exilant von Pacific Palisades aus mitschrieb. Ich erkannte nichts wieder. Mir ließ die Schilderung von Beethovens Opus 111 nicht als Reminiszenz den Atem stocken, denn ich hatte die Klaviersonate noch nie gehört, sondern weil ich in den Erläuterungen, die Wendell Kretzschmar dem jungen Leverkühn gibt, überhaupt zum ersten Mal etwas von Musik begriff. Und während ich mich daran erinnere, lese ich mich fest, und lese noch einmal die traurige Geschichte von Nepomuk Schneidewein, oder ‚Echo‘, wie er, schon seit er zu lallen begonnen hatte, in wunderlicher Verfehlung der Mitlaute sich selber nannte.

Bald schon wird der Teufel die Seele Adrian Leverkühns holen, die dieser ihm auf vierundzwanzig Jahre als Preis für seine genialische Kreativität verschrieben hat, doch mit der Ankunft des fünfjährigen Nepomuk bei seinem Onkel wird der Leser wieder daran erinnert, welche Forderung mit dem Pakt verknüpft ist. Mein Bedingnis war klar und rechtschaffen, bestimmt vom legitimen Eifer der Hölle, hatte der Teufel seinerzeit dem Künstler bei ihrem nächtlichen Treffen erläutert: Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein. Leverkühn hat das zwar nicht vergessen, aber er hofft doch, die Liebe eines Kindes falle nicht unter das Verbot.

Gelt, da freust du dich, daß ich gekommen bin, begrüßt ihn Nepomuk Schneidewein bei seiner Ankunft, und Adrian Leverkühn freut sich tatsächlich. Kaum zwanzig Seiten später ist der kleine Gesandte aus Kinder- und Elfenland tot, gestorben auf erbärmlichste Weise an Hirnhautentzündung. Erbrechen, Fieber, unerträgliche Kopfschmerzen sind die Symptome, und der Roman läßt nichts aus von den zweiundzwanzig Stunden schreiender, sich bäumender Folter eines Kindes, und dieses Kindes, das die bebenden Händchen faltet und stammelt: ‚Echo will herzig sein, Echo will herzig sein!‘ Dr. phil. Serenus Zeitblom, Freund Leverkühns und Erzähler des Romans, setzt hinzu, daß für die, die Nepomuk sahen, ein Nervensymptom vielleicht das Schrecklichste war. Es war das zunehmende schielende Verschießen seiner Himmelsaugen, zu erklären aus einer mit der Nackenstarre einhergehenden Augenmuskellähmung. Es verfremdete jedoch das süße Gesicht aufs gräßlichste und erweckte besonders im Verein mit dem Zähneknirschen, in das der Heimgesuchte bald verfiel, einen Eindruck von Besessenheit.

Thomas Mann spielt die Krankheitsfolter des Kindes auf der ganzen Klaviatur seines medizinischen Wissens, wobei gerade durch die Sachlichkeit seiner Schilderung jedes diagnostische Detail und jede ärztliche Maßnahme ihre – im Wortsinn – teuflische Perfidie entfaltet. Im umfangreichen, der Neuausgabe beigesellten Kommentarband, kann man den Fragebrief an Dr. Rosenthal nachlesen, von dem sich der Autor dafür hat munitionieren lassen: Was ich brauche, sind einige charakteristische Einzelheiten über den (letalen) Verlauf der Meningitis bei einem 5 oder 6jährigen Kinde. Wie lang pflegt die Krankheitsdauer zu sein? Ist Fieber dabei? Muß das Kind sehr leiden? Tritt bald Bewußtlosigkeit ein? Recherchealltag eines Pastiche-Profis. Nepomuk Schneidewein, Echo, das Kind, Adrian Leverkühns letzte Liebe, entschlief schon zwölf Stunden später. Die Eltern nahmen den kleinen Sarg mit sich in die Heimat. So endet die Geschichte Echos im Roman.

Ich erinnere mich noch genau an den Nachmittag, als ich zum ersten Mal in der Bibliothek der Deutschlehrerin saß, die mir diesen Roman später einmal geben sollte. Sie lud manchmal Schüler zum Tee, um über Bücher zu sprechen. Damals, Mitte der siebziger Jahre, war ich in der achten Klasse. Jetzt ist sie gestorben, fast neunzigjährig, doch ihr altes, schon ganz wurzelstill verknotetes Gesicht hört nicht auf mich anzusehen, mit dem ironischen Lächeln derer, die sich nicht so wichtig nehmen. Damals, an meinem ersten Nachmittag inmitten der alten Bücherschränke mit den Glastüren, ahnte ich nicht, wie sehr sie mir einmal fehlen würde, denn ich ahnte nicht im Mindesten, daß ich die nächsten Jahre damit zubringen würde, viele der Bücher in diesen Schränken zu lesen. Und wußte zunächst selbst eigentlich kaum, warum ich es tat, vor allem mit dieser bedingungslosen Energie und obwohl die Bücher, die sie mir gab, es mir bald schon nicht mehr erlaubten, mich beim Lesen in ihnen so zu vergessen, wie ich es von Karl May oder Jules Verne kannte.

Der erste Roman, den ich mit nach Hause nahm, war Wilkie Collins‘ Frau in Weiß, und im Nachhinein erscheint mir das wie eine Tür, die sie mir probeweise öffnete. Ich ging hindurch und dann einfach immer weiter. Bei jedem Besuch tauchte im Gespräch über das, was ich gelesen hatte, mindestens ein halbes Dutzend neuer Titel auf. Sie trug das, was ich mitnahm, in ein kleines Heft ein, und ich packte die Bücher in eine Tasche, die ich im Bus, der mich in mein Dorf zurückbrachte, gleich wieder zu öffnete, um zu überlegen, womit ich beginne wollte. An die besonders schöne alte Ausgabe des Zarathustra erinnere ich mich. Was noch? E.T.A. Hoffmann, Bergengruen, Wassermann, Hesse, Camus. Bei Jean Paul mühte ich mich sehr, bis ich die Fraktur ihrer Ausgabe flüssig lesen konnte. Irgendwann schrieb ich erste Gedichte, die ich ihr zeigte. Trakl, Hofmannsthal, Bachmann, Eich, Benn, Rilkes Duineser Elegien. Dann Gide, Dostojewski, Tolstoi, Broch und immer so weiter.

Meine alte Lehrerin war keine intellektuelle Leserin, sie wollte von einem Text ergriffen werden, wobei es allerdings ihrer Meinung nach zunächst einmal am Leser liegt, sich ergreifen zu lassen. Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klinge hohl, müsse das nicht unbedingt am Buch liegen, zitierte sie im Unterricht gern Lichtenberg. Für mich ist dieser Satz maßgebend geblieben, gerade heute, da man Bücher immer mehr wie Dienstleistungen nutzt, die ihren Inhalt widerstandslos preiszugeben haben. Ich bin es, der sich um einen Text bemühen muß, nicht der Text um mich. Nur schlechte Literatur will vergessen machen, daß es bei jeder Lektüre zunächst gilt, demütig zu sein. Nur dann kann es geschehen, daß ein Roman mich aufnimmt, in seine Geschichte und in seine eigene Zeit, die meine Lebenszeit ist. Nie werde ich die Verzweiflung vergessen, als mitten in der Nacht endlich Madame Chauchat auftrat, aber Französisch sprach, und ich kein Wort verstand.

Anfang 1947 notiert Thomas Mann in seinem Tagebuch: Champagner-Abendessen zur Feier der Beendigung des Faustus und Verlesung des Echo-Kapitels. Eine seltsame Wahl. Warum liest er im Familienkreis gerade diese heikle Geschichte aus dem neuen Roman, den er selbst als Höhepunkt seines Werkes und als Vermächtnis versteht? Warum nicht seine Schilderungen vom Untergang des barbarischen Deutschlands, gegen das er als Praeceptor Germaniae Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me – gekämpft hat? Warum nicht eines seiner literarischen Zauberkunststücke erfundener Musik, zu denen etwas beizusteuern Adorno sich glücklich geschätzt hatte? Warum nicht die Zentralstellen der Goethenachfolge, in die sich der Nobelpreisträger mit dem Doktor Faustus endgültig hineingeschrieben zu haben meinte? Gewiß: Er kann sich des Effekts der Echo-Episode sicher sein. Sichtliche Ergriffenheit vermerkt er mit Genugtuung. Andererseits aber muß er damit rechnen, daß die Gäste an diesem Abend um die besondere Obszönität einer Erzählung wissen, in der Thomas Mann nichts anderes schildert als den Tod seines kaum camouflierten Lieblinsenkels Fridolin, weshalb er nach einer anderen Lesung dieses Kapitels beschließt, daß man es der Mutter des wirklichen Kindes so lange wie möglich vorenthalten müsse.

Der Vater des wirklichen Kindes, sein Sohn Michael, hat sich 1977 umgebracht. Angeblich nach Lektüre der gerade veröffentlichten Tagebücher, in denen er zum ersten Mal schwarz auf weiß lesen konnte, wie wenig erwünscht er als Kind war. Im Kommentarband zur Neuausgabe des Faustus findet sich ein langer Brief, in dem er, der Geiger war, dem Vater als musikalischer Wasserträger des Romans zuarbeitet – geschrieben zur selben Zeit, als der liebe Zauberer sich den symbolischen Tod seines Enkelkindes ausdachte.

Warum also riskiert Thomas Mann es, die ganze Kälte und Brutalität seiner Arbeitsweise gerade jenen vorzuführen, die den Preis dafür zahlten? Warum, anders gefragt, verhält er sich nicht wie jener staatstragende Bildungsbürger, den man in ihm zu sehen sich angewöhnt hat? Vielleicht, weil das Bewußtsein der eigenen Verstrickung, der ganz persönlichen Schuld als movens seines Schreibens ihm in der Echo-Episode selbst auf eine so exemplarische Weise greifbar geworden ist, daß er nicht anders kann, als darauf hinzuweisen, ja sich in dieser Sache zu offenbaren. Ich schilderte den zarten Kömmling im Elfenreiz, steigerte eine Zärtlichkeit meines eigenen Herzens ins nicht mehr ganz Rationale, heißt es in der Entstehung des Doktor Faustus zur eigenen Arbeitsweise, wobei ich Stimme und Akzent des Enkelknäbchens im Ohr hatte. Zunächst also gilt es, die eigene Liebe zum Enkelkind anzufeuern. Sorgsam hält er dann fest, was alles sein liebender Blick der Realität abschaut, nicht nur Stimme und Erscheinung des Kindes, beispielsweise auch den Brieföffner, mit dem es spielt, wenn es bei den Großeltern zu Besuch ist. Seine Stunde nähert sich, kommentiert er diese Vivisektion, der sich der hochambivalente Schreibprozeß der Krankheit anschließt, indem es darum geht, diese ebenso real werden zu lassen wie die reale Liebe. Schrieb am Echo-Kapitel mit Leide, notiert er im Tagebuch die funktionierende Übertragung von Leben in Literatur: Eifriger hatte ich, glaube ich, niemals gearbeitet. 

Meine alte Lehrerin, die nie geheiratet hat, lebte bis zu ihrem Tod im Haus ihrer Eltern, einer Professorenvilla aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Als junges Mädchen hatte sie es einmal gerettet – während des Krieges schlug eine Brandbombe ins Dach, die sie beherzt wieder hinauswarf. Ihre Mutter entstammte einer Berliner Verlegerfamilie, der Vater war Ethnologe und starb früh auf einer Expedition am Orinoko. Bei Dietrichs hat er einen Band mit Indianermärchen herausgegeben, die er auf seinen Reisen aufzeichnete. Über dem Türsturz zwischen Bibliothek und Wohnzimmer hing ein schmaler Bogen und Wurfspeere mit langen Eisenspitzen. Der Doktor Faustus war für mich auch deshalb ein besonderer Roman, weil sein Erzähler Lehrer ist. Immer mußte ich in der Bibliothek meiner Lehrerin an Serenus Zeitblom denken, der sich am Ende des Romans damit abfindet, nach dem Krieg wohl nicht mehr unterrichten zu können, weil sein Humanismus gegenüber dem Morden in Deutschland versagt habe und für immer diskrediert sein werde. Indem sie mir diesen Roman gab, benannte sie das eigentliche Thema hinter unserem jahrzehntelangen Gespräch. Wie langsam diese Trift in Wahrheit ist! Erst jetzt ist die Kultur tatsächlich dabei zu verschwinden, die Thomas Mann schon an ihrem Ende sah. Erst jetzt sind wir wohl tatsächlich Nachgeborene und nicht länger in der Lage zu bewahren, was uns längst zwischen den Fingern zerrinnt. Was mir bleibt, ist die Erfahrung, in jener, in Zeibloms Bibliothek der geworden zu sein, der ich, ohne zuvor einen Raum oder eine Sprache dafür gehabt zu haben, immer gewesen war. Die Erfahrung eines Geschenkes, des Geschenkes, ganz gesehen zu werden, das uns die Literatur macht. Und jene, die in ihr leben. Insofern irrte Thomas Mann.

Einmal im Jahr stand im Haus meiner alten Lehrerin jeder Tisch und jeder Stuhl voller Teller mit Quittengelee, ausgestochen mit kleinen Förmchen in Form eines Pferdes, eines Herzens, eines Baums. Was noch? Meine alte Lehrerin sprach mit den Goldfischen, die sie im Herbst mit einem Käscher aus dem Teich fing. Zum Überwintern kamen sie in den Keller, und immer sorgte sie sich, ob sie wohl einen vergessen hatte. Jahr für Jahr erzählte sie mir im Frühling, wieviele der Fische, die sie alle mit Namen kannte, den Winter überstanden hatten. Sie liebte die Hitze und den Sommer. Am Ende eines Winter ist sie gestorben. »Wissen Sie, Thomas«, sagte sie einmal, »Humanismus ist gar nichts anderes als das Echo der Liebe.«

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Das Ende des Buches und was wir verlieren.

  16.9.2012.

Der Altphilologe zuckt entschuldigend mit den Achseln. Ich halte noch immer seine Geschichte der antiken Texte in der Hand, die er mir in seinem Büro gegeben hat, 700 Seiten mit Listen von Editorennamen und Fundorten, Verlagen, Autoren und Titeln, bibliografischen Kürzeln und Jahreszahlen. Über zehn Jahre hat Manfred Landfester an dem Band gearbeitet, Teil einer Neuausgabe der 84-bändigen Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, die der Stuttgarter Gymnasiallehrer August Friedrich Pauly 1837 begann. Der Neue Pauly enthält auf 12.000 Seiten unter 30.000 Stichworte, verfasst von über 2000 wissenschaftlichen Beiträgern aus 50 Ländern, unser Wissen über die Antike. 19 Bände, von dem Typografen Hans Peter Willberg aus der Bembo auf holz- und säurefreiem, geglättetem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier gesetzt, in stabiles Bibliotheksleinen geschlagen und fadengeheftet, mit einem schönen Vorsatzpapier versehen und einer zweifarbigen Prägung auf dem Rücken.

„Das ist rein äußerlich ja ein etwas trockenes Werk“, sagt Professor Landfester und setzt mit einem etwas schüchternen Lächeln hinzu: „Aber im Grunde genommen ist es die Auflistung unseres ganzen kulturellen Gedächtnisses.“

Eine solche Edition wird es nie mehr geben, schon bei Erscheinen war sie anachronistisch. Brill, der Verlag der englischsprachigen Ausgabe, bietet längst den Zugang zur elektronischen Version im Abonnement. Und, höre ich die Verfechter der Netzkultur fragen, was ändert sich dadurch? Alles. Der Verweis auf die unendlichen Speicher der digitalen Welt, in denen nichts verloren geht, verkennt die spezifische Verschränkung von Medium und Gehalt, die unsere literarische Kultur ausgezeichnet hat, seit 1816 von Friedrich Christoph Perthes Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur erschien.

Perthes, der 1796 in Hamburg die erste Sortimentsbuchhandlung in Deutschland eröffnete, gehörte zu den Gründern des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, und die Entwicklung, die mit ihm einsetzte, gibt seiner Überzeugung recht, Literatur entstehe immer in Wechselwirkung mit der Kultur ihrer Verbreitung. So, wie etwa der Roman als Form seinen Siegeszug nur deshalb und erst dann antreten konnte, als er sich für eine literarisierte Öffentlichkeit als das ideale Packmaß von Fiktionen erwies. Mit der Gründung der modernen Universitäten, mit den Zeitungen und ihren Feuilletons, den Verlagen, Buchhandlungen und Lesezirkeln fand diese Kultur die Gestalt, die wir kennen, eine gesellschaftliche Formation der Lesenden, zu deren grundlegenden Gesetzen die Unterscheidung von Text und Kommentar gehört, diejenige zwischen Autor und Werk, die Anerkennung und Honorierung von Urheberschaft, die Unverletzlichkeit des Textes. Das Ausmaß des medialen Bruchs, den wir erleben, zeigt sich daran, dass all diese Regeln heute zur Disposition stehen.

Ein schleichender Prozess der Auszehrung ist im Gang, man spürt sein Fortschreiten überall, in den Buchhandlungen, den Universitäten, den Rundfunkanstalten, den Literaturhäusern und Schulen: überall die potemkinsche Empfindung, durch bloße Fassaden zu gehen. Zwar gibt es all diese Institutionen noch, aber es kommt mir so vor, als wären sie dabei, von innen heraus zu vergehen. Die literaturwissenschaftlichen Seminare, in die ich eingeladen werde, muten ihren Studenten keine Bücher mehr zu, sondern kopieren zehnseitige Ausschnitte, anhand derer nicht etwa Romane verstanden, sondern lediglich Frage- und Diskussionstechniken eingeübt werden sollen. Kunststücke. Immer mehr Traditionsbuchhandlungen, die seit Jahrzehnten Lesungen veranstalten, mutieren zu Papeterien. In den Rundfunksendern trifft man auf Redakteure, die das Buch, über das sie mit einem sprechen wollen, nicht mehr gelesen haben dürfen, damit sie die Hörer besser abholen können, wie man das nennt.

Es ist, als fahre man von einer Geisterstadt zur nächsten, und überall trifft man auf Menschen, die in ihrer Begeisterung für die Literatur alt geworden sind und wissen, dass das, was sie tun, mit ihnen enden wird. Der literarische Raum zerfällt, er verliert seine Gravitation, alle Kräfte streben hinaus.

Wie sehr das literarische Kunstwerk selbst im Kern von diesem Prozess der Auszehrung betroffen wird, ja dass man sich dieses Kunstwerk überhaupt nicht unabhängig von dem Gedächtnisraum der literarischen Öffentlichkeit vorstellen darf, in den hinein es entsteht, zeigt sich an den eklatanten Veränderungen der Weise, wie Bücher gelesen werden. Auffällig an den Leserrezensionen des Onlinebuchhandels, die zunehmend die literarische Kritik ablösen, ist, dass jedes Buch rezipiert wird, als wäre es das erste, das man liest. Intertextuelle Bezüge, Anspielungen, Traditionen werden nicht mehr erkannt, eine gelungene Lektüre ist vor allem eine, bei der keine Verunsicherung der eigenen Kompetenz die Leseerfahrung stört. Der Boom von Festivals und Literaturevents bestätigt paradoxerweise nur dieses Absterben der Literarizität, denn der Untergang der literarischen Öffentlichkeit und Bildung erzwingt geradezu das eintauchende, unbedingte Leseerlebnis der Jugend, bei dem das Buch die reale Welt zu ersetzen imstande ist. Danach bleibt nur, es ebenso wie den musikalischen Hit, dem man eine Weile verfällt und dessen man doch zwangsläufig überdrüssig wird, in einer Liste abzuspeichern.

Wird unter diesen Voraussetzungen etwas bleiben von dem, was mir kostbar an Literatur ist? Von jenem Zwielicht der Erwartung und des Wissens, das um die Bücher glimmt und sie mit all den anderen Lektüren irrlichternd auflädt? Ich glaube: Nichts bleibt. Die Hoffnung, wir könnten uns in der Zeitkapsel unserer Romane und Filme, unserer Bilder und Lieder in die Zukunft retten, ist naiv. Zeiten grundlegender medialer Brüche, wie wir gerade einen erleben, zeichnen sich dadurch aus, dass den Menschen plötzlich all das, was ihnen eben noch kostbar war, zum Ballast wird, mit dem sie im besten Fall lediglich Pietät noch verbindet.

Ein solcher medialer Bruch geschieht nicht zum ersten Mal in unserer Geschichte. In den Breviarien des vierten, fünften Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, die hilflos versuchten, das schwindende Wissen Roms in Kompilationen zusammenzufassen, als die Fähigkeiten der Autoren zu erlahmen begannen, kann man nachlesen, was das bedeutet. Als sei etwas dabei zu verwelken, spürt man in diesen Texten das Nachlassen des Stils, die fehlende Kraft zur Durchführung, die Unfähigkeit, ein Thema zu gestalten. Wie von einer Krankheit befallen, werden die Sätze immer einfacher, die rhetorischen Figuren nicht mehr beherrscht, die Metaphern stupide. An die Stelle des zerfallenden Wissens zuvor sorgfältig tradierter Quellen tritt nach und nach hilfloses Hörensagen. Diese Hilf- und Sprachlosigkeit, die sich schließlich im mühsamen Aufrechterhalten der Form erschöpft, ist unendlich traurig. Wir leben in einer solchen Epoche. Mit dem Verschwinden des Nährbodens, auf dem die Werke siedeln, verdorren auch sie.

Ich schaue mich um in Raum 79 des Philosophikums I der Universität Gießen, sehe diesen Fußboden, die Lampen, die leeren Regale und Resopaltische und diesen Schrank darin, der aus einer anderen Zeit stammt. Auch seine handwerkliche Schönheit ist die Schönheit einer einmal gelebten Realität des Wissens. Endlich öffnet Professor Landfester ihn. An den Innenseiten der Türen, mit Reißzwecken befestigt, eine vergilbte schreibmaschinengeschriebene Inventarliste und der Stahlstich des Fabrikanten Kalbfleisch, des privaten Sammlers, der seine berühmte Sammlung ägyptischer Papyrii zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts der Universität vermachte. Die kostbaren Stücke stehen in schmalen Fächern wie in einem alten Schallplattenschrank, jeweils zwischen zwei Glasscheiben gepresst.

„Warum kennen wir eigentlich das, was wir aus der Antike kennen?“, frage ich. „Es ist das, was übrig geblieben ist“, sagt Landfester. „Zunächst ging all das verloren, was keine Aufnahme in die alexandrinische Bibliothek fand. Dann gab es den verheerenden Brand. Und schließlich einen entscheidenden Bruch der Überlieferung zwischen 600 und 800. Die sogenannten dunklen Jahrhunderte. In dieser Zeit ist die antike Literatur weitgehend verloren gegangen.“ „Wie kann man sich das vorstellen? Was geschah da?“ „Ganz banal: Die Menschen haben die Texte nicht mehr abgeschrieben. Und die Bücher sind dann einfach verrottet, nicht wahr? Das waren heidnische Bücher, also bestand kein Interesse. Das ist ja das Besondere an Karl dem Großen, dass er meinte, das Lateinische sei für seinen modernen Staat und die Bildung notwendig. Er hat alles suchen lassen an Literatur, was in Klöstern noch da war. Und die Literatur, die man da um 800 nach Christus fand, die ist uns heute weitgehend erhalten. Von da an gab es einen kontinuierlichen Prozess der Tradierung. Im Westen über Karl, in Byzanz etwa über Photios, den großen Patriarchen. Alles aber, was damals im Westen nicht in die neue Schrift, in die karolingische Minuskel, übernommen wurde, gibt es nicht mehr. Und das Gleiche geschah fast zur selben Zeit im griechischen Bereich: Was in Byzanz nicht gesucht und gesammelt wurde, war dauerhaft verloren.“

Wie sich das angefühlt haben muss, dieses Verschwinden? Ist uns diese Empfindung nicht längst vertraut? Zivilisatorischer Headcrash. Schweigen auf allen Kanälen. Pausenbild. Die kulturelle Nulllinie. Nur hier und da flackert noch etwas in der Dunkelheit auf, wohl immer, bis zum Ende, hoffnungsspendendes Zeichen, es lasse sich doch zurückgewinnen, was längst verloren ist.

„Wir kennen Schulen aus Bordeaux etwa, wo im sechsten Jahrhundert noch Griechisch unterrichtet wurde. Das ist ganz außergewöhnlich. Es ist schon erstaunlich, wie lange das antike Bildungssystem sich auch im politischen Zusammenbruch noch gehalten hat.“ „Hat man eine Vorstellung davon, was alles verloren gegangen ist?“ „Man kann rechnen. Wir wissen für Athen, dass zwischen 500 und 100 vor Christus ungefähr 1500 Komödien aufgeführt worden sind. Und davon sind elf vollständig erhalten, von Aristophanes, und fünf weitgehend, von Menander, nicht?“ „Kann man sagen, dass die erhaltenen die besten sind? Oder ist die Überlieferung zufällig?“ „Nicht ganz. Menander etwa ist, obwohl er der große Klassiker war, nicht ins Mittelalter gekommen, der ist am Ende der Antike verloren gegangen. Aber durch Papyrusfunde in Ägypten, also durch Reste nichtverrotteter Bücher aus Müllhaufen und Ruinen, die teilweise vollständig waren, ist er überliefert worden. Aristophanes, einer der größten Komödiendichter, ist nicht wegen seiner Komik erhalten, sondern weil er gutes Attisch schrieb. Und das war vom zweiten Jahrhundert nach Christus an Kult. Man musste so schreiben, es entstanden Lexika, und darüber wurde Aristophanes in Byzanz weitergegeben.“

„Gibt es eigentlich antike Originalausgaben?“ „Nein, das haben wir nicht. Wir versuchen, aus den verschiedenen Handschriften, die ja meist erst aus dem achten und neunten Jahrhundert stammen, zusammenzusetzen, was der Autor geschrieben haben könnte.“ „Es gibt keinen einzigen Autografen?“ „Nein, nein, ich glaube nicht.“

Die Problematik des Umkopierens sei eben nicht neu, sagt Professor Landfester weiter. Bedenklich sei aber das zunehmende Tempo in den digitalen Medien. Schnelle Generationswechsel, das wisse man ja aus der Biologie, produzieren genetische Fehler. „Das führt zum Verlust. Und zwar zum endgültigen Verlust. Und leichter als früher bei den Papyrii. Heute ist dann einfach nichts mehr da. Aber vielleicht haben wir auch zu viel, nicht? Eine gewisse Selektion ergibt sich immer daraus, dass tatsächlich nicht alles in das neue Medium überführt wird. Das ist wie bei der Umschrift damals in die Minuskel. Das ist nur viel schlimmer heute, da es keine zweite Chance des Wiederentdeckens mehr geben wird. Damals verrotteten die Schriftrollen dann eben, und das dauerte. Jetzt aber geht es ganz schnell.“

Aber was ist es eigentlich, das uns heute verloren geht? Gewiss jene beschriebene literarische Kultur, in der das Buch auf eine komplexe Weise zirkulierte. Doch was ist es, was da zirkulierte? Was ist das Buch?

Jacques Derrida betont in einem Vortrag in der Bibliothèque nationale de France bereits 1997, die Frage des Buches habe nichts mit der Frage der Schrift, der Schreibweise oder der Einschreibungstechniken zu tun, denn Bücher würden nach völlig heterogenen Schriftsystemen verfasst. Das Buch ist nicht an eine Schrift gebunden. Die Frage des Buches fällt auch nicht mit der Frage der Druck- und Reproduktionstechniken deckungsgleich in eins: Es gab zum Beispiel Bücher vor und nach der Erfindung des Druckes. Die Frage des Buches ist genauso wenig die Frage des Werkes. Nicht jedes Buch ist ein Werk. Viele Werke hingegen, selbst literarische oder philosophische Werke, Werke eines geschriebenen Diskurses, sind nicht notwendigerweise Bücher. Schließlich fällt die Frage des Buches auch nicht mit der Frage des Trägers in eins. Auf strikt buchstäbliche Weise kann man von Büchern sprechen, die von den verschiedensten Trägern getragen werden: nicht nur von den klassischen Trägern, sondern auch von der Quasi-Immaterialität oder Virtualität elektronischer oder telematischer Operationen.

Was aber bleibt dann? Was ist es, von dem unsere Empfindung uns so deutlich sagt, dass es im Medienwechsel, den wir erleben, unwiederbringlich verloren gehen wird? Nachdem Derrida alles ausgeschieden hat, was jenes Ding, das wir Buch nennen, mit sich führt, ohne dass es seinen Kern berührte, und was in diesem Wechsel mühelos übersetzt werden wird, bleibt für ihn als wesentliche Kennzeichnung des Buches eine dialektische Spannung zwischen Sammlung und Zerstreuung. Nichts anderes.

Das Buch ist flüchtige Zerstreuung, zitiert er Maurice Blanchots Aufsatz Das kommende Buch, denn es enthält, was es nicht umfassen kann, es ist zugleich größer und kleiner als das, was es ist. Es ist eine Weise, die Endlichkeit der eigenen Form mit der Unendlichkeit seines Inhalts zu verknüpfen.

Dabei handelt es sich indes nur um eines von zwei Modellen des Buches, es gibt noch ein zweites, das eine nennt Derrida das neohegelianische Modell des großen totalen Buches, das andere das ontologisch-enzyklopädische. Der Medienwechsel, den wir erleben, ist nichts als die Weise, wie jenes gegen dieses ausgespielt wird. Nicht das Buch selbst verschwindet, sondern die Idee, dass der Text von einem Anfang und einem Ende begrenzt wird, einer Totalität also, von der man annimmt, dass sie von einem Autor, einem einzigen identifizierbaren Autor konzipiert und produziert, ja signiert und der respektvollen Lektüre eines Lesers vorgelegt wird, der das Werk nicht antastet. Ihren Grund hat diese respektvolle Lektüre in der Erfahrung, dass das begrenzte Werk, begrenzt wie das Leben des Lesers, das Wunder erlebbar macht, einen unendlichen Inhalt zu evozieren.

Der damit konkurrierende Entwurf des Buches ist die Enzyklopädie, in der alles seinen Raum hat und die für Derrida in der Tradition der christlichen Metapher vom Buch der Welt steht. Das Netz hat die Sehnsucht einer totalen Repräsentanz wiederbelebt und aktualisiert sie permanent in der Aufforderung, einzutreten in einen Raum des Schreibens und Lesens der elektronischen Schrift, die mit vollem Tempo von einem Punkt der Welt zu einem anderen reist und über die Grenzen und Rechte hinweg nicht nur die Weltbürger, sondern jeden Leser als möglichen oder virtuellen Schriftsteller mit dem universellen Netz einer potenziellen „Universitas“ einer mobilen und transparenten Enzyklopädie verbindet. Es beruht dieser Raum der elektronischen Schrift auf dem zutiefst religiösen Versprechen, alle Alterität werde verschwinden, wie auch die gesamte Geschichte der Einschreibungs- und Archivierungstechniken, die ganze Geschichte der Träger und der Weisen des Druckes davon bestimmt ist, dass jede neue Etappe unweigerlich von einer sakralen oder religiösen Reinvestition begleitet wird. Eine solche religiöse Reinvestition erleben wir. Oder, anders gesagt: einen Kreuzzug.

Schon 1999, als ich mit „Null“ eine der ersten literarischen Anthologien im Netz publizierte, deren Texte sich die Redakteure der Feuilletons damals zumeist noch von ihren Sekretärinnen ausdrucken lassen mussten, weil sie noch nicht online waren, erhoffte man sich unendlich viel von einer solchen digital- enzyklopädischen Literatur. Aber ich wüsste keinen Hypertext im Netz, keinen Blog, keinen Tweet, dessen literarische Halbwertszeit seitdem länger gewesen wäre als das Staunen über die jeweilig neuen medialen Möglichkeiten, die er nutzt. Denn Literatur ist in ihrem Kern nicht enzyklopädisch, eben weil sie das Unendliche im Blick hat, das in der Endlichkeit ihrer Werke erscheint. Ihre Chiffre für eine Weltabbildung, die im Anspruch auf Totalität natürlich mit der Enzyklopädie konkurriert, ja sich sogar immer sicher war, nicht der falschen Unendlichkeit der Addition zu verfallen, ist die Geschichte. Die Geschichte, verstanden als Erzählung, bildet in der Literatur auf eine Weise, die mit jener Dialektik von Sammlung und Zerstreuung zu tun hat, von der Derrida spricht, sich scheinbar deckungsgleich ab auf jener anderen Geschichte, die alle Zeit des Menschlichen meint, alle Zeit überhaupt.

Verloren geht, wie es mir scheint, die Fähigkeit zu dieser Erfahrung. Denn sie ist im höchsten Maße auf eine ganz bestimmte Lektürepraxis angewiesen, in der die Autonomie und Totalität des Werkes ihre notwendige Entsprechung in der Einsamkeit und Abgeschlossenheit des Lesers finden. Solche Lektüre stiftet einen Ort und ist auf einen spezifischen Ort angewiesen, dazu gehören Leser und Buch auf eine unbedingte, von der Welt losgelöste Weise. Es gibt mich und den Text. Das Zuklappen des Buches ist Scheitern und lässt Stille zurück. Das Gespräch kann nur geführt oder verweigert werden. Wird es geführt, ist die Zeit angehalten und suspendiert jede Ökonomie von Down- und Uploads. Die Begegnung, die das Buch ermöglicht, ist ernst. Diese Unbedingtheit ist die erste Wahrheit der Literatur. Ihre Sätze sind nichts, sind nur Papier, oder eben Orte einer solchen Anerkennung, an denen ein Pakt geschlossen wird.

Ich weiß beim Weiterwischen eines Textes auf dem iPad: Das ist fraglos ein Text. Aber ich weiß auch, dass dieser Text zu einem anderen Reich gehört als dem beschriebenen. Es ist naiv zu meinen, neue Ausgabegeräte träten nun einfach an die Stelle dessen, was ein Buch ist. So unklar es noch sein mag, auf welchem Gerät bald die Buchstaben erscheinen werden, so klar ist, dass dieses Medium Inhalte und Formen verändern wird nach der Weise, in der sich bereits unsere Apperzeptionsfähigkeit verändert.

Es steht kaum zu erwarten, dass, wie es ein optimistisches Vorurteil will, weiterhin eine nennenswerte Anzahl von Menschen Bücher auf die beschriebene Weise lesen wird, die für mich stets ein Akt der Wandlung, ja der Gnade ist.

Die Fähigkeit dazu schwindet in dem Maß, in dem die Wirklichkeit der mobilen und transparenten Enzyklopädie uns einhüllt. Die Dialektik, die den Prothesengott Mensch so mit seinen technischen Ausstülpungen verbindet, dass sie immer auf ihn zurückwirken, macht es schon heute für viele Menschen immer schwerer, sich auf einen längeren, abgeschlossenen – und das heißt hier: nicht mit dem Netz verbundenen – Text zu konzentrieren, ja selbst, sich in einem Buch zu verlieren. Man schweift in Gedanken ab. Man vermisst den Hyperlink zu Bildern, Tönen, anderen Texten. Den Kommentar zu dem, was man gerade liest. Was wiederum der Revolution der Formate entgegenkommt.

Das Buch wird sich im digitalen Raum auflösen. Habent sua fata libelli – das Buch teilt das Schicksal seiner Besitzer. Wenn die Literatur der freie Traum der Literarizität war, war die Schrift im Wachen die bindende Form unseres Ichverständnisses, unseres Gesellschaftsvertrags, unserer Vorstellungen von Öffentlichkeit, Menschenrecht, Politik. Die Konsequenz des Verlusts dieser Form von Literarizität könnte noch verheerender sein, als wir momentan schon befürchten.

„Wie kamen Sie zur Altphilologie?“, frage ich Professor Landfester. „Das hatte nur bildungsgeschichtliche Gründe“, sagt er. „Ich komme aus dem Münsterland und habe sehr stark miterlebt, wie man in den fünfziger Jahren noch mal mit aller Energie versucht hat, eine Wertewelt aufrechtzuerhalten der antiken Bildung, des Humanismus, sozusagen als Rettungsanker gegen die kommunistische Barbarei. In diesem Milieu bin ich groß geworden.“ „Sie sind 1937 geboren.“ „Ja. Wobei das Personal dieser Restauration des Humanismus nach dem Krieg natürlich dasselbe Personal war, das schon in den dreißiger und vierziger Jahren tätig war. Das machte das damals auch schnell unglaubwürdig.“ „Es verschwindet, womit Sie Ihr ganzes Leben verbracht haben.“ „Nicht zwingend. Ich empfinde keine Trauer darüber, dass andere nicht mitmachen, was ich tue. Dass wir nicht auf der Erfolgsspur sind.“ Schon sei das Altgriechische beinahe verschwunden. „In Hessen sind es etwa 600 Schüler, die es noch lernen. Die Quote liegt bei anderthalb Prozent eines Abiturjahrgangs.“

„Und? Was sagen Sie Ihren Studenten? Warum sollen sie heute Griechisch lernen?“ Landfester überlegt lange und spricht dann so leise, als wäre ihm nur allzu bewusst und daher auch ein wenig peinlich, wie unzeitgemäß klingt, was er dann doch sagt: „Im griechischen Denken ist von Anfang an immer wieder alles infrage gestellt worden. Radikalität des Denkens zeigt sich aber in der Sprache. Es gibt in keiner mir bekannten Literatur eine solche Radikalität wie im Griechischen. Und je mehr die griechischen Texte im Mittelpunkt standen, umso stärker ist auch das Denken der Neuzeit radikal gewesen.“

Vielleicht, weil ihm das Schweigen nach diesem Satz unangenehm ist, nimmt Professor Landfester jetzt endlich eine der Glasplatten aus dem deckenhohen dunklen Sammlungsschrank, der noch immer offen steht, und zeigt mir ein handtellergroßes, ausgefranstes Stück Papyrus. Es sei das Fragment des Briefes einer Sklavin, erklärt er und fährt mit dem Finger die Buchstaben entlang, mit denen die Frau ihre Sorge ausdrückte, ob es ihrem Herrn gutgehe. Auch die Anschrift des Adressaten findet sich auf dem Fetzen, der irgendwann begraben wurde vom Sand und wiedergefunden in den Ruinen einer Lehmziegelsiedlung am Nil wie Abertausende andere Überreste dieses Schreibstoffs auch, von winzigen Bruchstücken, auf deren dünnem Gewebe die letzten Reste der uralten Tinte fast verschwinden, bis zu foliogroßen Abschriften kaiserlicher Edikte. Kaum Literatur, leider, vor allem Rechnungen, buchhalterische Aufzeichnungen, Dekrete, Brieffragmente, und vor allem die immer selben Texte, endlose Abschriften von Schülern, alle geborgen aus jener schmalen Zone, die zufällig weder die Winde aus der Wüste noch die jährlichen Überschwemmungen des Nils erreichten.

Es bleibt das Wort immer analog, denke ich, während ich den Papyrusfetzen betrachte und darauf die verblassende Schrift. Galltinte, nicht wahr? Gerbsäure, Wasser, Kupfer- und Eisensulfat. Was ich meine: Die Unterscheidung von analog und digital trifft nicht den Kern von Sprache. Verändert bei der Digitalisierung von Tönen oder Bildern sich stets etwas substanziell, so berührt sie das Entscheidende an der Sprache nicht, weil der Übersetzungsprozess immer schon zu ihr gehört. Jedes Wort wird von uns übersetzt in eine innere Präsenz. Und diese Übersetzung gleicht einem operativen Eingriff, sie trepaniert den Schädel des Lesers, indem sie sich seiner Vermögen und vor allem seiner Mängel bedient, denn mit ihren Metaphern und Metonymien und mit ihren Paradoxa zielt sie auf Überforderung ab und damit paradoxerweise auf Schöpfung. Gerade in der Erfahrung der Unerschöpflichkeit eines literarischen Werkes, das doch immer ein endliches bleibt, erlebt der Leser seine eigene Endlichkeit, die ja nur dadurch unerträglich ist, dass uns die Empfindung der Unendlichkeit eingegeben ist.

Die Unendlichkeit des digitalen Raumes ist lügenhaft darin, dass er diese Sterblichkeit zu überwinden behauptet, sie aber tatsächlich nur leugnen kann. All die Texte, die von vornherein ihren Platz in einem Netz des Gesprächs und im Gespräch des Netzes haben und finden, sind der mediale Sand, in dem die Papyrii der Literatur vergraben werden. Doch auch aus diesem Sand wird man einmal ihre verrotteten Reste wieder hervorziehen. Und auch dann wird es wieder jemanden geben, der an diesen Resten von Lebendigkeit sich wärmen wird als der Glut des Humanums, das letztlich nichts anderes ist als die Sehnsucht, das Ewige zu denken in einem sterblichen Körper, wahrhaftig zu sein und autonom in einer Welt, die diese Autonomie zu jeder Stunde bedroht.

Professor Landfester stellt die Glasplatte zurück und zieht eine andere heraus. Das sei, erklärt er, der Überrest der Schreibübung eines ägyptischen Kindes. Er übersetzt: „Homer ist kein Mensch. Homer ist ein Gott.“ Vorstellbar, dass wir nicht mehr wüssten, wer Homer war. Und unvorstellbar zugleich. Wir wären andere. Noch aber leben wir in derselben Welt mit jenem Kind am Nil, das vor mehr als 2000 Jahren mit einem Schreibrohr und Galltinte erste griechische Buchstaben auf ein Stück Papyrus malte. Nicht nur schreiben lernte es so mit Homer, sondern: mit uns zu sprechen. Und wir hören ihm zu. Die Fragilität dieses Gesprächs ist das Wunder der Schrift.

 

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Totenberg.

  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.

Der Sommer natürlich. Die Straße der Neubausiedlung wenig befahren, ein Dutzend Einfamilienhäuser auf jeder Seite, schmale Vorgärten mit niedrigen Mäuerchen und eisernen Törchen, auf denen wir Kinder gelangweilt hin- und herschwangen. Die Gärten hinter den Häusern durch Zäune getrennt, aber wir wußten die Wege von einem zum anderen. Nach dem Abendessen spielten wir Verstecken, bis das sanfte Sommerdunkel alle düsteren Ecken, alle Holzstöße und Rhabarberstauden fremd und unheimlich hatte werden lassen und wir uns zu sehr fürchteten. Dann spielten wir noch ein wenig Federball im letzten Licht der Straße. Einer nach dem andern wurden wir dann hineingerufen. Mein Zimmer lag im ersten Stock unseres Hauses, in dem alle Fenster und Türen offenstanden, damit die kühle Nachtluft hereinkam. Vor dem Schlafengehen duschte ich und spürte nun die drahthaarfesten Teppichbodenfliesen unter den nackten Füßen. Die ganze Nacht, wußte ich, würden alle Türen und Fenster offenbleiben, man würde kein Licht machen, um die Mücken nicht anzulocken, und ich würde meine Eltern im Schlaf hören. Unheimlich der Wind, der jetzt im Dunkel in den Vorhang griff. Und auf der noch feuchten Haut.

Zu diesem Haus, in dem ich tatsächlich und nicht nur im Wortsinn geboren wurde und in dem ich meine Kindheit verbrachte, gehört, daß mein Vater es mit eigenen Händen gebaut hat. Es sieht so aus, als wäre es die Vorlage für das Haus des Nikolaus, das ich als Kind zeichnete. Alle Häuser in unserer Straße sehen so aus, und da überall Kinder wohnten, die ich kannte, wußte ich, daß sich die Häuser auch innen glichen. Drei Zimmer, Küche und Toilette im Ergeschoß, drei Zimmer, Kammer und Bad im ersten Stock. Der Keller mit Waschküche, wie das hieß, und einer Tür zum betonierten Hof, eine Garage, deren Dach die Terrasse bildete, der Garten. Gebaut mit der Hilfe aller Verwandten am Feierabend und am Wochenende. Richtfest 1962. Zwei Jahre später kam ich zur Welt. Das früheste Bild, das es von mir gibt, eines der gezackten kleinen Schwarzweißphotos im Album mit den raschelnden Zwischenblättern aus Seidenpapier, zeigt mich im Taufkleid vor der Tür des noch unverputzten Hauses im Arm meiner furchtbar jungen Mutter. Ich war das Baukind, wie sie es nannte, und das Haus gehörte zu mir. Um so seltsamer, daß es darin noch ein zweites Haus gab, wie einen abgestorbenen Zwilling in der Fruchtblase meiner Kindheit, in Gestalt einer Kiste auf dem Dachboden.

Diese Kiste war die einzige Antiquität, die es in meiner Kindheit gab, eine einfache Holztruhe, vielleicht einen Meter lang und siebzig Zentimeter hoch, mit einem Beschlag, den man mit einem Vorhängeschloß sichern konnte, mehr Kasten als Truhe, aus rotbraun gestrichenem Holz ziemlich einfach gezimmert. Dennoch galt ihr all meine Neugier, wenn ich meiner Mutter auf den Dachboden folgte und sie etwas suchte zwischen all den Dingen, die im Alltag keinen Platz mehr hatten, dem fremdartigen Kinderwagen aus weißem Flechtwerk und dem aufgerollten Teppich, der Blechwanne und dem alten Schrank voll muffiger Kleider, einem Stapel Bodenfliesen und dem Christbaumschmuck, der einmal im Jahr heruntergeholt wurde. Die Kiste unterschied sich von all dem dadurch, daß sie als einziges Stück für wirklich gar nichts zu gebrauchen war. Sie blieb dort oben einfach stehen, unbeachtet und gerade dadurch besonders, während alles andere eben doch irgendwann einmal benutzt, verschenkt oder schließlich weggeworfen und durch andere ausgemusterte Dinge ersetzt wurde, so daß der Dachboden, wie ich bald begriff, wie ein Schleppnetz der Gegenwart folgte. Die Kiste war davon ausgenommen, und ich verstand lange Zeit nicht weshalb. Zumal sie leer war und man sie also gebrauchen konnte. Gerade das aber schien, warum auch immer, undenkbar. Zudem hatte sie eine Aufschrift. LEGER hatte jemand mit weißen, fremdartig geschwungenen Großbuchstaben auf die Vorderseite gemalt, darunter: TOTZAU, Kr. KAADEN.

Während Mutter mit irgendetwas hantierte, kniete ich davor und fuhr mit dem Finger die Pinselstriche nach. Nicht, daß ich an diesen Buchstaben lesen gelernt hätte, dazu kam ich zu selten auf den Dachboden, aber sie haben sich mir doch sehr früh eingeprägt. Und irgendwann wußte ich, was sie bedeuteten. Das eine Wort war der Name des Ortes, an dem meine Mutter geboren worden war, und das andere war ihr Name, doch auch wieder nicht, denn hieß sie nicht wie Vater und ich? Irgendwann wußte ich, jene Kiste enthielt ein verschwundenes Haus, einen verschwundenen Ort, ein ganzes verschwundenes Land. Und doch blieb all das nichts als ein Name, ein Mädchenname, ein Märchenname für mich.

Vielleicht bindet jeden Menschen ein Geheimnis an den Ort seiner Kindheit. Gäbe es dieses Geheimnis nicht, könnten wir so leicht weggehen, wie wir es nur vorgeblich tun. Im Althochdeutschen ist der Gegensatz zur Heimat das Elend. Elilenti, das Leben in der Fremde, meint ein recht- und schutzloses Leben in Armut. Möglicherweise ist ja das Schneckenhafte in uns, das, was immerzu an den jeweiligen Gehäusen festwachsen will, unser utopischer Sinn. Hier bin ich. Ich bin von hier. Doch auch, wenn ich weggehe, ist dort, wo ich dann bin: Hier. Das Hier ist der Igel, der immer schon da ist. Es gibt keine Alternative zum Hier. Beim vierundsiebzigsten Mal aber kam der Hase nicht mehr ans Ziel. Mitten auf dem Acker fiel er zu Boden, das Blut floß ihm aus der Nase, und er blieb tot liegen. Die Kindheit war, so lange ich denken kann, eine Welt, in der es alles zu entziffern galt. Vielleicht, weil jedes Kind in eine Welt aus Vorgängigem hineingestellt ist. Vielleicht aber auch, weil jene Kiste auf dem Dachboden eine Leere enthielt, die ich zu füllen versuchte.

Womit? Mit den Geschichten, die sie umgaben. In der Kirche unseres Dorfes, einem trutzigem spätromanischen Bau aus dem grauen Basalt der Gegend, findet sich vor den Bänken auf der einen Seite des Chors in anderthalb Metern Höhe das Epithaph eines Grafen aus dem seit langem ausgestorbenen lokalen Adelsgeschlecht. Gemeinsam mit seiner Frau steht er dort in der Wand, beide in Lebensgröße und aus bemaltem Sandstein, die Hände gefaltet erhoben. Er ist gedrungen und nicht mehr jung, trägt Halkrause, Spitzbart und einen ebenso spitzbäuchigen eisernen Harnisch und das Schwert an der Seite, und mißmutig, scheint es, streckt er einen seiner spitzen Eisenfüße ins Kirchenschiff hinein in Richtung der Gemeinde, auf die er starrt. Seine Frau hat dagegen ein junges Gesicht, ganz ebenmäßig, ein langes hochgeschlossenes Kleid mit gepufften Ärmeln und eine weiße Flügelhaube, und sie schaut mit offenem Blick und einem kleinen Lächeln zur Kanzel hinüber. Und wieder Buchstaben: SCHUTZBART, GENANNT MILCHLING entzifferte ich als Kind während des Gottesdienstes die gotischen Lettern auf dem golden ausgemalten Schriftband, das sich steinern um sein Schwert schlingt. Hätte gern gewußt: Von wem so genannt?

Der Hausberg des Dorfes, in dem ich aufwuchs, ist ein vulkanischer Basaltkegel, ragt dreihundertfünfzig Meter über Null und heißt: Totenberg. In seine Ostseite frißt sich ein Steinbruch und wenn wir als Kinder weit gingen, gingen wir durch den Wald bis dorthin und tasteten uns angstvoll erregt an die Abbruchkante vor, die nur durch ein altes Stahlseil gesichert war, locker an rostigen T-Trägern befestigt, die man in den Boden getrieben hatte. Wir sahen hinunter und über das Tal hinweg, und wenn wir am Mittag dorthin kamen und die Bagger und Lastenkipper und vor allem das Mahlwerk, zu dem die Förderbänder führten, Mittagspause hatten, war es sehr still dort.

Wir blieben nie lange, waren eigentlich immer froh, von dieser steilen Tiefe wieder wegzukommen, wie erlöst liefen wir in den Wald hinein, und unter unseren Füßen raschelte das gelbe Buchenlaub vom Vorjahr, liefen den Berg hinab, bis der Wald immer düsterer und wilder wurde, enge Tannnenschläge nun zwischen den Buchen, Brombeergestrüpp und Krüppelkiefern, unabsehbare Senken mit schwarzem Wasser darin, plötzlich aufragende Felsen dazwischen, und wir endlich zu den Höhlen kamen. Irgendwann hat man hier einige prähistorische Funde gemacht, Steinäxte, Pfeilspitzen und derlei, und so heißen die nur wenige Meter tiefen Plätze unter einem mächtigen steinernen Überhang im Dorf Steinzeithöhlen. Mammuts, stellten wir uns vor, stürzten über diese Klippe, von Jägern verfolgt, Säbelzahntiger, und hier saßen die Familien der Jäger, in Felle gehüllt neben den rußgeschwärzten Feuerstellen, in denen wir neugierig mit unseren Ästen stocherten, obwohl wir natürlich wußten, daß sie nicht aus jener Vergangenheit stammen konnten, deren Ferne wir uns auszumalen versuchten. Die Stelle war auch bei den älteren Jugendlichen des Dorfes beliebt, und so machten wir dort unsere eigenen Funde, leere Bierflaschen neben den verkohlten Ästen, und einmal auch eine schmutzige und halbverbrannte Bluse. Wir entzifferten die mit Ruß an die Höhlenwände geschmierten Parolen, LOVE stand da und SS und BEATE und RAF und FUTT, und wir wußten nicht, ob wir nach einer Vergangenheit suchten oder doch eher nach unserer Zukunft.

All das war, wie es mir heute scheint, immer angeordnet um jene Truhe herum, die leer war. Konstellationen. Wie der Lehrer eine Karte an den Kartenständer hängte. Eine dieser dickwandigen Karten, die Rückseite aus schwarzem Stoff, deren Farbe längst porös war und die beim Einrollen um die eine der beiden Holzstangen immer weiter brach. Ich sehe genau vor mir, wie er die Karte entrollte, und sehe jetzt auch sein Gesicht wieder, an das ich so lange nicht gedacht habe. Der Lehrer Genz. Der größte und dünnste Mann, den ich in meiner Kindheit kannte. Er rauchte mehr als sonst jemand. Ging in den Pausen in seinem engen Pullover über den Schulhof, die Zigarette weit vorn zwischen den ersten Gliedern von Zeige- und Mittelfinger, wie es niemand im Dorf tat, wo die Männer ihre Zigaretten fast in der Faust begruben. Sein dünnes Handgelenk trat weit aus der Manschette seines Hemdes und dem Pulloverbündchen hervor, wenn die Hand zum Mund ging.

Er war der Direktor meiner Grundschule, und in seinem Büro, einem dunklem Raum im Erdgeschoß, dem die rauchgebräunten Vorhänge noch das letzte Licht nahmen, standen ausgestopfte Tiere auf den Schränken. Ich erinnere mich an einen Marder, ein Eichhörnchen, einen Fuchs, eine Bachstelze und einen Habicht. Und an die kupferne, mit Zigarettenstummeln gefüllte Schale auf dem Schreibtisch. Ich weiß heute nicht mehr über ihn als das, was ich als Kind wußte. Vor allem, daß er nicht hierher gehörte, sondern nach dem Krieg in den Ort gekommen war, wie meine Mutter, und ich dachte, daß er so dünn sei, hänge damit zusammen. Er erzählte Kriegsgeschichten im Unterricht, und ich glaube mich zu erinnern, daß sie nicht heroisch waren. Die Kälte spielte darin eine große Rolle. Solche Geschichten waren damals nichts Ungewöhnliches. Der Krieg war das, worüber die Erwachsenen sprachen, wenn nichts mehr zu tun war und es gemütlich wurde. Ich erinnere mich an die Geschichte, wie einer der Brüder meines Vaters in Rußland gefallen war, was immer das hieß. Auch darin gab es Schnee und Eis und Stacheldraht. Und an jene des anderen Onkels, der seinen Arm verloren hatte, was mir ebenso seltsam erschien. Ich konnte gar nicht aufhören, den leeren Ärmel anzustarren. Der Lehrer ist irgendwann an Lungenkrebs gestorben. Nach seiner Pensionierung, als er die Gemeindewohnung verlassen mußte, hat er sich ein Haus im selben Viertel gebaut, in dem ich aufgewachsen bin. Einmal, ich wohnte schon lange nicht mehr zu Hause, habe ich ihn dort besucht, weil meine Mutter sagte, er sei sehr krank. Eine Wolldecke umspannte, seltsamerweise ebenso eng wie früher der Pullover, die ganze knochige Gestalt im Sessel. Er rauchte nicht mehr. Wir hatten nicht viel miteinander zu sprechen, das Wohnzimmer war nichtssagend, und als ich durch die Straßen meiner Kindheit zu meinem Elternhaus zurückging, bemerkte ich zum ersten Mal, daß der ganze Ort es für mich längst geworden war: nichtssagend.

Dabei war das alles einmal ein magischer Raum. Wenn im Winter mitten im Dorf der Fluß zufror, der im Dialekt die Bach heißt, tasteten wir uns vorsichtig unter die alte Brücke. Kinder wittern Vergangenheit in jeder struppig-nassen Ratte, die tot im Wasser schwappt. Kinder spüren sehr wohl die härtere Realität gewisser Orte und Menschen, die völlig andersartige Dignität bestimmter Geschichten, und sie integrieren sie mit einer seltsamen Angstlust in ihre Märchen, umspinnen und polstern sie ein. Irgendwann taut diese Kinderwelt dann weg, nach und nach, das kann lange dauern und vollzieht sich häufig asynchron, und dabei werden jene eingelagerten Bruchstücke der Wirklichkeit zunächst wieder so scharfkantig und hart, wie sie es eigentlich schon immer waren, und es poltert schließlich all dieses Geröll der Vergangenheit zusammen auf den Boden der Realität, verkantet und schichtet sich, immer verdichteter, immer unverrückbarer. Und nur in den Ritzen findet man später manchmal noch glückhafte Momente voller Verwunderung und Wiedererkennen, Reste der eigenen verlorenen Welt.

Im Sommer mußte ich abends bei einem Bauern im Ort Milch holen. Die Blechkanne mit dem Henkel, das Surren der Melkanlage, der warme Geruch nach Kuhmist aus dem Stall, die alte hinkende Bäuerin. Irgendwann erfuhr ich, daß dort neben dem Kuhstahl, in jener seltsamen Gebäudelücke, die Synagoge des Ortes gestanden hatte. Der Judenfriedhof, wie es hieß, hatte in meiner Kindheit noch ein rostiges altes Tor mit einer ebenfalls rostigen Kette. Ein eher symbolisch verschlossener, aber gänzlich verbotener Ort. Es gab eine Lücke im Zaun, und mit Herzklopfen drückten wir uns hindurch. Auch die wenigen Grabsteine, die nicht umgefallen waren, verschwanden im Sommer im hohen Gras. Wir stapften hindurch und suchten sie. Legten die Finger in die verwitterten rauhen Kerben der fremdartigen Buchstaben auf den Steinen. Er kenne sie alle, sagte mein Vater, die damals bei der Plünderung der Synagoge mitgetan hätten. Eine Schande, sagte er, aber seltsam seien die Juden schon gewesen. Seine Schwester, also meine Tante Erna, habe immer am Samstag zu ihnen gehen müssen, um Feuer zu machen. Die langen Bärte. Die Judenschule. Das war jetzt der kleine Supermarkt an der Hauptstraße direkt gegenüber der Kirche. Dort, sagte er, habe man sie zusammengepfercht, über Monate, bevor der Transport in die Kreisstadt erfolgt sei. Er wisse genau, in welcher Stube heute der große Eßtisch und die sechs lederbezogenen Stühle und der Silberleuchter stünden. Mein Vater zeigte mir die Ziegelwand eines alten Hauses. FINKELSTEIN war schwach dort zu lesen und KOSCHERE METZGEREI.

Immer neue Wörter, die ich entzifferte, als wären es immer wieder dieselben. Die auf jener Kiste. TOTZAU, Kr. KAADEN. Seltsamerweise widerstrebte mir das Wort, das die Herkunft meiner Mutter benennt, schon als Kind, und wenn ich es jetzt hinschreibe, zum allerersten Mal wohl, ist es mir noch immer auf dieselbe Weise unangenehm und peinlich: SUDETENLAND. Und wie als Kind überlege ich noch jetzt, ob es überhaupt das richtige Wort ist. Es ist, noch immer, eines, auf das ich mich nicht verlassen zu können glaube. Wie ein Dialektwort, das sich unbemerkt in die eigene Sprache geschmuggelt hat und jeden Satz zerstört, sobald man es ausspricht. Eines, das man nicht versteht. Eines, das sich nicht im Lexikon findet. Ein schmutziges Wort. Eines, für das ich mich schäme. Eines, das mich verrät. Vor welcher Enthüllung fürchte ich mich? Ich weiß nicht, was an den Erzählungen meiner Mutter von ihrer Vetreibung mich als Kind annehmen ließ, dieses Wort bezeichne eine sehr intime Sache. Etwas, über das man eigentlich nicht spricht. SUDETENLAND. Ich bin von diesem Wort noch heute ebenso peinlich berührt, wie wenn ich eine alte Dame ihre Katze Muschi rufen höre.

Es enthielt jene leere Truhe auf dem Dachboden meines Elternhauses die Vergewaltigung meiner Tante, auf einem Feld, bei der Ernte, durch russische Soldaten. Die Erschießung jedes zehnten Mannes auf dem Dorfplatz, und meine Mutter, sie war vierzehn, die dabei zusehen mußte. Das Blut lief eine kleine Gasse zwischen zwei Häusern entlang. Die Kiste enthielt auch das Packen der Kiste, das Zurücklassen und Vergraben der Dinge. Die Fahrt im Zug, ich weiß nicht, ob im Personenwagen oder Viehwaggon, Auffanglager, Entlausung, Stockbetten, und schließlich die Zwangseinquartierung in dem kleinen hessischen Dorf, in dem ich geboren bin. Ein einziges Zimmer für alle, und die Kiste darin. Die Feindseligkeit der Dorfbewohner und die Krankheit der Mutter, die plötzlich nicht mehr gehen konnte. Und die Liebesgeschichte meiner Eltern. Das Bemühen meines auf den alten Photos sehr jungen, schmächtigen Vaters um das noch dünnere fremde Mädchen mit den spillerigen Beinen. Eine Liebesgeschichte ohne Liebe, die ich als Heranwachsender irgendwann nicht mehr hören wollte. Ich wünschte mir nichts mehr, als daß kein Weg aus jener Kiste in meine Gegenwart führen sollte. Und dieser Wunsch erfüllte sich.

Kaum, daß nach neunundachtzig der Eiserne Vorhang sich geöffnet hatte, reiste meine Mutter mit uns in die Tschechei, wie sie noch immer, politisch unkorrekt, wie ich fand, sagte. Wir sollten endlich ihre Heimat sehen. Die Pension, in der wir übernachteten, war trist. Es dauerte lange, jemanden zu finden, der uns die Wege zeigen und an den diversen Kontrollstellen vorbeischleussen konnte. Doch dann waren wir da und standen um meine Mutter herum, und sie sah uns mit leuchtenden Augen an.

»Hier«, erklärte sie aufgeregt und deutete in eine Richtung, »hier war unser Haus! Und da war die Straße hinunter zum Dorfplatz.« Und sie deutete in eine andere Richtung und sagte: »Dort war die Schule und da war der Brunnen und hier der Garten und an dieser Stelle ein großer Walnußbaum.«

Doch da war nichts. Da war nur Wald, Bäume und dazwischen Gestrüpp, nichts sonst. Gewiß, daß das Dorf gleich nach der Vertreibung der Einwohner 1945 dem Erdboden gleichgemacht und das ganze Gebiet zum Truppenübungsgelände geworden war, hatte man gewußt. Aber ich hatte mir nicht vorstellen können, was das bedeutet. Das heißt, ich hatte es mir einfach nicht vorgestellt. Und nun war ich enttäuscht. So als hätte jene leere Kiste auf dem Dachboden mir etwas versprochen all die Jahre und dieses Versprechen nun gebrochen. Doch im selben Moment fühlte ich mich befreit. Es war ein Sommertag, als wir da standen, und ich sah die Sonne auf den Blättern, roch den Geruch des Waldes, hörte Vögel und das Rauschen der Bäume. Meine Mutter hörte nicht auf, langsam durch das Unterholz zu gehen, ununterscheidbar, ob sie etwas suchte oder etwas sah. Es war mir peinlich, wie sie das tat. Schließlich stand sie wieder vor uns und hielt eine weiße Porzellanscherbe in der Hand und weinte. Ich sah diese Scherbe an und sie war mir egal.

Ich erinnere mich, daß ich als Kind einmal am Morgen ins Schlafzimmer meiner Eltern kam, an einem Sonntag vielleicht, und zu meiner Mutter ins Bett kroch. Irgendwann krabbelte ich auch zu meinem Vater hinüber, obwohl ich das eigentlich nicht mochte, denn er roch so scharf, und so war ich schenll wieder bei meiner Mutter. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war, aber ich weiß noch, an jenem Morgen wollte ich gern wissen, wie das ist, wenn Babys an den Brüsten ihrer Mütter saugen, schob ihr wohl das Nachthemd hoch und versuchte, eine ihrer Brustwarzen in den Mund zu nehmen. Mit einem Seitenblick auf meinen Vater wehrte sie mich ab. Ich begriff nicht, warum, doch dann schämte ich mich plötzlich, und zwar, ohne zu wissen weshalb, für ihre Scham, die widerstandslos in mich hinein sich spiegelte.

Neue Zürcher Zeitung / 23.4.2013

In den Händen der Geschichte

Thomas Hettche erkundet in seinen Essays die eigene Herkunft im Spiegel der Geschichte.

Alexandra Stäheli

 

Was macht ein Leben aus? Gibt es im Innersten des Menschen so etwas wie einen ureigenen Seelenkern, der nach dem Abschälen aller kulturellen Prägungen als irreduzible Essenz hervorscheint? Oder sind unsere Körper doch, wie es die postmodernen Theorien vor nicht allzu langer Zeit noch bis zur Selbstauflösung proklamiert haben, gänzlich (und ganz seelenlos) durch die historisch- gesellschaftlichen Machtverhältnisse bestimmt und geprägt? Es scheint, als habe sich das literarische und essayistische Werk des Schriftstellers Thomas Hettche diesem postmodernen Diktum des sich selbst entgleitenden Individuums mit Haut und Haar verschrieben. Oder genauer gesagt: als arbeite er in immer wieder anderen Tonlagen den Gedanken ab, dass es offenbar die sozialen Verhältnisse sind, die jenen Stoff weben, von dem das Ich tragischerweise glaubt, er sei seine innerlichste, intimste Substanz.

Während die Protagonisten etwa in seinen Romanen «Nox» und «Woraus wir gemacht sind» mit der und gegen die Uneigentlichkeit der Welt ringen, stellt die autobiografische Essay-Sammlung «Totenberg» wiederum die Frage nach der Prägung des Ich durch andere, indem Hettche Episoden aus seinem Leben einzig und allein in Bezügen zu Figuren der deutschen Kulturgeschichte erzählt. Dabei gerinnt die reale und vom Ich sorgfältig protokollierte (Wieder-)Begegnung mit Menschen wie Hans-Jürgen Syberberg, Angelika Platen oder Monika Miller vom Ernst-Jünger-Haus, die einmal für seine persönliche und literarische Selbstwerdung wichtig waren, zu einem fast magischen Spiegel, der nicht selten ein altes Bild zurückwirft und dokumentiert, woher dieses erzählende Ich kommt, wer es einst gewesen ist.

Dass diese Form der Selbstreflexion auch ein grosses und durchaus poetisches Potenzial an Irritation birgt, macht gleich der erste Text mit dem Titel «Bunker» deutlich, in dem der Erzähler die 78-jährige Literaturwissenschafterin Christa Bürger besucht, bei der er 25 Jahre zuvor einmal studiert hatte. Das Zusammentreffen mit der wortkargen, zarten kleinen Frau, die ihre Bombennacht- Traumata erfolgreich verdrängt hat und dabei absurderweise in einem Haus wohnt, das von einem schweren Stahlbunker langsam in die Erde hinabgezogen wird, scheint dem Ich-Erzähler mit einem Male die blinden Flecken der Bürgerschen Literaturtheorie aufzuzeigen – nämlich ausgerechnet der Mangel an biografischer (Selbst-)Wahrnehmung. Doch lässt diese Begegnung auch längst verschlossen geglaubte Erinnerungen und an den Rändern verschwommen bleibende Empfindungen an jene Zeit als Student wieder aufblitzen, deren wichtigstes Movens darin besteht, «sich von dem befreien zu können, der man gewesen war».

Hettche erzählt dies alles in einer virtuosen und dramaturgisch sogkräftigen Mischung aus Selbst- und Fremdporträt, aus Beschreibung, schwebender Assoziation und detailgenauem, stechendem Erinnerungsbild, wobei es ihm gelingt, in den bald banalen, bald schillernden Fundstücken des eigenen Gedächtnisses auch Teile der jüngeren deutschen Geschichte spiegeln zu lassen. Dabei scheint gerade der Text «Totenberg», der vom Kindheitsort des Autors handelt und dem Band seinen Namen gegeben hat, diese Verflechtungen zwischen Ich und Umfeld, kleiner und grosser Geschichte in luzider Weise auf den Punkt zu bringen: So bezeichnet denn der Begriff «Totenberg» einerseits einen realen geografischen Ort in der Nähe von Giessen, der andererseits aber auch, was sich in der sudetendeutschen Mutter des Erzählers personifiziert, von der jüngeren deutschen Geschichte getränkt worden ist, wodurch diese sozusagen als Bodennahrung, als «Terroir» in die Wurzeln dieser Biografie eingezogen ist.

Auf einer vielleicht etwas gewagteren dritten Ebene schliesslich könnte man den Begriff «Totenberg» aber auch als das Programm des Buches überhaupt verstehen, als ebenjene paradoxe Verklammerung, die das Ich im Verstehenwollen seiner eigenen Herkunft gerade wieder von sich selbst entfernt und es somit zum warmen Wachsstück in den Händen der Geschichte werden lässt, unlöschbar von den Verhältnissen beschrieben und doch unfähig, den Wortlaut dieser Schrift zu entziffern.


Deutschlandfunk / 29.10.2012

Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln

Thomas Hettche, „Totenberg.“ Der Schriftsteller Thomas Hettche kehrt mit seinem neuen Buch zurück an den Ort seiner Kindheit. Nach seinen Romanen „Ludwig muss sterben“ und „NOX“, mit denen er bekannt und mehrfach ausgezeichnet wurde, hat er erstmals eine Art Autobiografie geschrieben.

Ursula März

 

„Totenberg“ ist vielmehr eine Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln. In jedem Kapitel schildert der Autor die Begegnung mit einem Künstler, einem Lehrer, einem geistigen Weggefährten, einem Gelehrten oder einem Zeitzeugen, dessen Wirken im Lauf der Jahre in ganz besonderer und spezifischer Weise auf ihn Einfluss genommen hat. Er beschreibt, wie er intellektuell und literarisch der wurde, der er ist und er beschreibt in lebendigen Porträts die Personen, die ihn bei seinem Werdegang – im konkreten wie im übertragenen – Sinn begleiteten.

Der aktuelle deutsche Buchmarkt quillt über von autobiografischen Erzeugnissen. Schriftsteller wie Gelegenheitsautoren folgen dem Trend, private Erfahrungen – ob Ehekrise, Sterben der Eltern oder Adoption eines Kindes – an die Öffentlichkeit zu bringen. Ein Trend, der unübersehbar im Zusammenhang steht mit der ins Unendliche gehenden Textproduktion und Kommunikation im digitalen Raum.

Der 1964 geborene Romanautor und Essayist Thomas Hettche hat sich in den vergangenen Jahren kritischer als die meisten seiner Schriftstellerkollegen mit der Verflüchtigung von Schrift und Kultur im Netz auseinandergesetzt. Dieses Engagement ist als Hintergrund seines neuen Buches zu betrachten. Es hat den Titel „Totenberg“ und es ist ein Buch aus dem Geist des Autobiografischen.

Nur ist es alles andere denn eine konventionelle Nacherzählung des Privatlebens von Herrn Hettche. „Totenberg“ ist vielmehr eine Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln. In jedem Kapitel schildert der Autor die Begegnung mit einem Künstler, einem Lehrer, einem geistigen Weggefährten, einem Gelehrten oder einem Zeitzeugen, dessen Wirken im Lauf der Jahre in ganz besonderer und spezifischer Weise auf ihn Einfluss genommen hat. Er beschreibt, wie er intellektuell und literarisch der wurde, der er ist und er beschreibt in lebendigen Porträts die Personen, die ihn bei seinem Werdegang – im konkreten wie im übertragenen – Sinn begleiteten.

Auf den ersten Blick liegt der Reiz des Buches in den Divergenzen dieser Personen: Auf Christa Bürger, die renommierte, heute in Bremen lebende und dem linken Spektrum zuzurechnende Germanistin, bei der Hettche vor Jahrzehnten studierte, folgt im zweiten Kapitel kein anderer als Hans Jürgen Syberberg, der sich mit seinen Polemiken gegen das linke juste milieu der deutschen Nachkriegsrepublik ins Abseits brachte und heute das heruntergekommene Gutshaus seiner Vorfahren in Pommern bewohnt und durchgeistert.

Eine Ärztin, die sich auf die Behandlung von Fettleibigkeit spezialisiert hat, tritt in einem weiteren Kapitel auf, Ernst Jüngers Verleger Michael Klett, die Künstlerfotografin Angelika Plate, die Buchhändlerin und Vertriebsleiterin Henriette Fischer, die viele Jahre auf Sylt arbeitete, am Bohemebetrieb der Insel teilnahm und sich allabendlich im Nachtlokal der alten Grotesktänzerin Valeska Geert einfand. Sie alle haben Teil am Gruppenbild mit Autor, das Thomas Hettche hier essayistisch und erzählerisch entwirft.

Was an diesem Buch auf den zweiten Blick so überaus besticht, ist sein konzentrierter, ökonomischer Gestus. Jede Selbstmitteilung des Autors steht im Interesse einer kulturgeschichtlichen Selbsterkenntnis, jede Selbstreflexion öffnet sich wie von selbst zu einer exemplarischen Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik. „Totenberg“ zeigt Thomas Hettche auf der Höhe seines stilistischen und essayistischen Vermögens. Und nebenbei verhilft dieses Buch dem abgewirtschafteten Genre der Autobiografie zu neuem Glanz.

 


Süddeutsche Zeitung / 8.1.2013

Der schwarze Schnee.

Der Schriftsteller Thomas Hettche porträtiert in seinem Essayband „Totenberg“ Menschen und Orte, die ihn prägten – und kommt damit auch der eigenen Biografie auf die Spur.

Von Nico Bleutge

 

Schreiben – das ist für Thomas Hettche wie die Einfahrt in einen Tunnel. Genauer: in einen Stollen, dessen Gestalt und Größe sich erst im Schreiben herstellt. Eine Bewegung ohne Richtung und eigentliches Ziel, widersprüchlich, ja bisweilen absurd….


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Feindberührung.

  Über die vergessene Kunst des Soldatischen. 06/2012.

Ernst Jüngers In Stahlgewittern endet mit der Verleihung des Ordens Pour le Mérite an den dreiundzwanzigjährigen Jünger auf dem Lazarettbett, in das hinein ihn die letzte seiner zahlreichen Verwundungen geworfen hatte – womit der Krieg für ihn dann auch vorbei war. Dieser Orden, den der junge Leutnant und Sturmtruppführer auf dem Frontispiz des zunächst im Selbstverlag herausgegebenen Buches sehr stolz zur Schau trägt, ist nachgerade zum Attribut Jüngers geworden. Seltsam nur, dass diese Ordensverleihung durch Hindenburg im eigentlichen Kriegstagebuch gar nicht vorkommt. Das nämlich schließt am 10. September 1918 mit folgendem Eintrag: „Jedesmal, wenn man verwundet in ein Lazarett kommt, fällt man in die Hände der Schwestern. Im Allgemeinen empfinde ich den Wechsel vom männlichen zum weiblichen Wesen unangenehm.“

Wie fern das ist, unangenehm auch in seinen Dispositionen, so fern wie auf den Bildern aus jenem Krieg die Soldaten im schwarzweißen Schlamm der Gräben, mit ihren gezwirbelten Schnurrbärten und diesen Uniformen, die eher an Kittel erinnern, neben sich Pferde und monströse Geschütze. Auch die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg blieben mir lange ebenso fremd und fern, dann jedoch wurden in den letzten Jahren die Menschen aus dieser schwarzweißen Vergangenheit von den Medien gleichsam nachkoloriert und dabei erneut lebendig. Und mit ihnen der Krieg selbst. Als stiege er aus den schwarzweißen Gräben und Gräbern wieder herauf.

Und nun gibt es auch wieder tote deutsche Soldaten. Und ein Ehrenmal auf dem Gelände des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin als zentralem Gedenkort Deutschlands für diese Toten. Vis-à-vis die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate, die aussieht wie eine postmoderne Karawanserei in Stahl und Glas, daneben der gesichtslose Verwaltungsbau der Friedrich-Ebert-Stiftung, dazwischen das Niemandsland voll dünner Birkenstämmchen, Mauerresten aus gelben Ziegeln, niedrigen, wassergefüllten Kratern, vertrockneten Büschen und Brennnesseln, das nach dem letzten Krieg vom alten Botschaftsareal hier südlich des Tiergartens übriggeblieben ist.

Dieses Ehrenmal hat eine Länge von etwa vierzig Metern und die Proportionen eines doppelhohen Schuhkartons, besteht aus Betonfertigteilen und ist mit Bronzeblechen verkleidet, deren Ausstanzungen an die Erkennungsmarken von Soldaten erinnern sollen. Die Schmalseite, an der man den Kubus betritt, ist innen golden gestrichen. Die Farbe zitiert sakrale Malerei, ist jedoch auf den rohen Beton aufgebracht, den man ebenso erkennt wie die Fugen der Fertigbauteile, und so erinnert das Gold eher an den Sprühlack von Graffiti. „Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden Recht und Freiheit“ steht auf Brusthöhe und nicht sehr groß an dieser Wand. Ich stutze. Unsere Bundeswehr? Indem das besitzanzeigende Fürwort sich des Bezuges besonders vergewissert, scheint es ihn zugleich zu hinterfragen. Welches Wir spricht an diesem Ort? Hier ist niemand, schießt es mir durch den Kopf. Und diese Empfindung wird noch verstärkt durch den orthographischen Fehler. Satzzeichen gliedern Texte zum Sprechen, sie sind Atemzeichen, das fehlende Komma zwischen „Frieden“ und „Recht“ lässt diesen Satz so künstlich klingen, als hörte man den Beschwörungen einer Maschine zu.

In der eigentlichen Halle nichts als ein Podest, das den Raum an der anderen Schmalseite abschließt, darauf einige Kränze. Die Wände schwarz gestrichen. Das ist alles. Das ist alles? Irgendwann entdecke ich, wie auf dem Beton der Zwischendecke von Geisterhand Namen erscheinen, nicht sehr groß und nicht sehr lange, Vor- und Nachnamen, von nichts begleitet als der technischen Perfektion ihrer vergänglich leuchtenden Aufrufung. Jene leichte Beunruhigung, die einen noch immer bei computierbaren, flüssigen Lettern erfasst, die doch etwas festhalten sollen – hier, bei diesen digitalen Grabsteinen, schlägt sie um in eine Empfindung für die Obszönität einer so vergänglichen Schrift. Und kein Todestag, kein Lebensalter, kein Rang, kein Familienstand und keine Erzählung, was geschehen ist, nicht einmal eine Bitte um Gedenken, nichts erfährt man über die Menschen, die diese Namen trugen, die wohl Soldaten waren und die heute tot sind.

Plötzlich erscheint ein Feldjäger der Bundeswehr aus der Wachstube des naheliegenden Tors, mit rotem Barett und der Armbinde mit dem MP-Schriftzug der Militärpolizei, und tut so, als suche er etwas. Ich halte mich wohl schon zu lange in dem zugigen Kubus auf, und jetzt bemerke ich auch die Kameras, die jeden Winkel des Ehrenmals überwachen. Auf der Schleife eines der Kränze steht: „Unseren Gefallenen und Verstorbenen Kameraden und Kameradinnen.“ Fehlt auch hier nur ein Komma? Oder waren die Wörter so schwer, dass man sie alle großschreiben zu müssen meinte? Oder ist das einfach die Playlist-Orthographie unserer Gegenwart? Dieses Ehrenmal ist kein Ort für die Trauer, ja nicht einmal einer für die Soldaten, und das hat wohl damit zu tun, dass Deutschland seinem Selbstbild nach – und in einem eklatanten Widerspruch zur alltäglichen Praxis – noch immer ein sozusagen soldatenloses Land ist. Das Leitbild der Bundeswehr vom Staatsbürger in Uniform meinte einmal vor allem, mit dieser Berufsbekleidung solle sich kein Habitus mehr verbinden. Das ist gelungen: Der Soldat ist in diesem Land keine Gestalt der Imagination mehr. Lange wurde das als Fortschritt begriffen. Aber stimmt das noch? Handelt es sich nicht längst um eine Leerstelle, die schmerzhaft empfunden wird?

Als Tom Cruise bei der Verleihung eines Fernsehpreises für seine Darstellung des Grafen von Stauffenberg „Es lebe das geheime Deutschland!“ in den Saal und in die Kameras rief, tat er dies zwar nicht in Wehrmachtsuniform, doch ganz offenkundig war jener Preis der Lohn für die Bilder, die dem Land einen Schauspieler in eben jener Uniform gezeigt hatten und zugleich etwas völlig anderes waren: die Wiederaufnahme des deutschen Soldaten in die Ikonographie des Heldischen. Etwas ist in Bewegung gekommen. Es scheint, als erodiere der Glaube, zum Fortschritt der westlichen Gesellschaften gehöre eine fortschreitende Ächtung von Gewalt, ein Glaube, den nicht nur die aktuellen Kriege, die wir führen, Lügen strafen, sondern schon ein flüchtiger Blick auf die Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Doch wäre es gänzlich verfehlt, die Zunahme oder auch nur die Bejahung militärischer Konflikte abgelöst von der Gesellschaft zu betrachten, die sie ermöglicht.

 

In seiner Studie Vertrauen und Gewalt – Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2008 – ist Jan Philipp Reemtsma der Geschichte der Gewalt in den westlichen Gesellschaften nachgegegangen. Im Rückgriff auf Thomas Hobbes rekonstruiert er die Geschichte der Vergesellschaftung als einen Prozess ständiger Neujustierung des Verhältnisses von Vertrauen und Macht.

Die immer rigidere Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die wir als Kennzeichen der Moderne zu beschreiben gewohnt sind, die Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse und die Fragmentierung der Macht, ein zunehmender Ekel vor körperlicher Grausamkeit und das damit einhergehende Verschwinden von öffentlicher Gewalt im Duellverbot, im Verbot der Folter, im Verbot der Todesstrafe, all das sind Schritte eines Prozesses, bei dem der Einzelne sich seiner körperlichen Unversehrtheit immer sicherer sein konnte. Wobei allerdings, wie Reetmsma betont, weder die sich etablierende Macht, noch das Recht, das an sie gebunden ist – auctoritas, non veritas facit legem, heißt es in Hobbes Leviathan – etwas ist, was man besäße. Macht wird nicht dem Mächtigen gewährt, sondern der, dem man sie überträgt, hat antizipieren können, dass er sie erlangen wird. Im Feld der Gewalt heißt solche Antizipation Drohung. Insofern verhalten Macht und Gewalt sich in der Gesellschaft wie kommunizierende Röhren, wo die eine herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Wo aber jene schwach wird, erstarkt die Gewalt. Es ist immer möglich, kodifiziertes Recht wieder personifizierter Herrschaft zu übereignen.

Reemtsma unterscheidet drei Formen von Gewalt: lozierende, einen Körper, etwa im Krieg, verdrängende Gewalt, raptive Gewalt, die einen Körper besitzen will, meist, um ihn sexuell zu benutzen, und schließlich autotelische Gewalt. Sie sinnlos zu nennen, wie es der Alltagsgebrauch tut, verkennte sie. Um diese Verkennung ist es Reemtsma zu tun. Anhand des Verhältnisses von Täter und Opfer, von Vertrauen und Machtgabe, gewinnt er seine Beschreibung einer Dialektik der Anerkennung, die ebenso in der grauenhaften Intimität des Folterkellers – Wir sind alles für Dich … Wir sind Gott! – wie in den Großformationen staatlicher Gewalt wirksam ist. Immer gibt es die Partnerschaftlichkeit des Opfers, das in dem Moment, in dem es sein Opfer-Sein anerkennt, dieses Opfer erst ermöglicht. Und genau hier, wo die Muster von Unterwerfung und Vertrauen sich ebenso für die Liebe wie für die Folter reklamieren lassen, lokalisiert Reemtsma den gesellschaftlichen Ort der Herrschaft autotelischer Gewalt: Vertrauen braucht Praxen, die es stabil halten; werden diese entschlossen destabilisiert, tritt – denn man kann nicht nicht vertrauen – an deren Stelle das Vertrauen in die destabilisierenden Praxen: Eine neue Stabilität etabliert sich, hier ist es das Vertrauen in die Gewalt. So ruhig lässt sich die Entstehung der Hölle beschreiben. Am Beispiel der stalinistischen Säuberungen zeigt Reemtsma, wie das geht, die moderne Gewaltaversion zu überwinden und Vertrauen in Gewalt als Lebensform zu gewinnen.

Dabei spürt er der Frage nach, weshalb diese Exzesse stets als Betriebsunfall gewertet werden, der Glaube an die Moderne nicht längst zerbrochen ist. Reemtsmas Antwort lautet, dass das, was autotelische Gewalt kommuniziert, nicht verstanden wird, dass man Gewalt überhaupt nicht als Kommunikationsform zu lesen gewohnt ist. Stets wird sie im Sinn einer wie auch immer gearteten Zweck-Mittel-Relation gedeutet, oder als pathologisch stillgestellt. Um aber die Lust an der Vernichtung als soziales Handeln verstehen zu können, sollte man sich von dem Gedanken lösen, Gewalt finde nur zwischen Opfer und Täter statt, und sie stattdessen triadisch begreifen, als Kommunikation des Täters auf einen Dritten hin. Dies, so Reemtsma, geschehe am offensichtlichsten im Krieg, wo jeder Schuss nicht nur den Getroffenen meine, sondern als Drohung auch den, den der nächste Schuss treffen könnte. Der Soldat ist der eigentliche Experte der Gewaltkommunikation im Herzen der westlichen Zivilisation. Vermittler zwischen der Welt des Gesetzes und jener anderen, als deren Attribut wir nur Sinnlosigkeit nennen können. Er ist die Antwort auf eine Frage, die wir vergessen haben.

Das symbolische Stammeln des Ehrenmals für die Toten der Kriege, die wir wieder zu führen begonnen haben, zeigt peinvoll die Leerstelle, die dieses Vergessen gelassen hat. Eine Leerstelle, die sich eben nicht in Afghanistan oder im Kosovo befindet, sondern im Innersten unserer Gesellschaft. Können wir uns denn des Konsenses der Gewaltächtung wirklich noch sicher sein? Wenn Macht und Gewalt sich in einer Gesellschaft tatsächlich wie kommunizierende Röhren verhalten, ist dann die Ohnmacht, die – kaum mehr glaubhaft durch die Pathosformeln der Leere unserer so abgelebten Moderne verdeckt – aus diesem Ehrenmal spricht, nicht höchst bedrohlich? Ist unsere Angst nicht längst die, Hobbes könnte Recht haben mit seiner pessimistischen Annahme, dass sich die Menschen „solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt, und zwar den Krieg eines jeden gegen jeden.“ Ist es nicht das, wovor wir uns längst wieder fürchten? Mir scheint, es wäre wünschenswert, unsere Gesellschaft verfügte in den Hysterien der Mobilmachung, die sie mehr und mehr ergreift, noch über jene nicht nur militärischen, sondern gesellschaftlichen, ethischen, und, ja, auch ästhetischen Praxen des Krieges, für die Ernst Jünger zur Chiffre geworden ist.

 

Wilflingen. Die ehemalige Oberförsterei direkt gegenüber dem Schloss, die Friedrich Schenk von Stauffenberg Jünger zur Verfügung stellte. Die Fensterfront des breiten, zweigeschossigen Barockbaus mit der Freitreppe sieht über die Straße hinweg auf die Mauer, das hohe Tor, die alten Bäume im Park, dahinter das Schloss. Jünger ging oft zum Abendessen hinüber. Ich ziehe eine der Schubladen des großen Sammlungsschrankes auf und betrachte die Reihen der Käfer. Wie klein sie sind!

»Hoi, es gibt noch viel kleinere!« Monika Miller sieht mich triumphierend an.

»Und wie entdeckt man die?«

»Da muss man ein sehr gutes Auge haben. Manche sind wirklich nur wie ein Muckeschiss.«

»Ja?«

»Es gibt so viele Käfer! So viele andere Tiere gibt’s gar nicht, wie es Käfer gibt. Ich find’ vor allem die Caraben schön, die Laufkäfer. Wenn Sie sich das anschauen, das ist doch genial.«

»Wieviel Zeit hat er denn damit verbracht?«

»Bestimmt die Hälfte seines Lebens ist Käferarbeit gewesen. Und das ist vollkommen brotlos. Also Käferarbeit, da verdient man kein Geld damit.«

»Und was macht man da bei der Käferarbeit? Bestellen? Kataloge wälzen? Kaufen, einsortieren?«

»Na, die meisten hat er schon selber gesammelt. Man sieht es an den Etiketten. Also hier zum Beispiel: ‚E. Jünger, 06.05.1976, Korfu’. Also immer Finder, Fundort, Name des Käfers, das Datum und ein Buchstabe mit vier Ziffern. Anhand dieser Codenummer finde ich die Karteikarte. Also parallel zum Käfer gibt es eine Karteikarte, und auf der Karteikarte stehen dann zusätzlich noch die näheren Umstände. Wie’s Wetter war, wer dabei war, von welcher Blüte gepflückt …«

Fast fünf Jahrzehnte hat Jünger hier gelebt, und als klar war, das Haus würde nach seinem Tod ein Museum werden, bat er Monika Miller, die als Mädchen für alles hierher gekommen war: „Du bleibst doch hier.“ Und so sei sie geblieben. Eine resolute, gepflegte Frau mit blonden langen Haaren. Ihre Stimme hat diesen regionalen, tief im Rachen sitzenden Klang, der die Vokale dunkel färbt. Und auf wie lange? Im Weitergehen zuckt sie wortlos mit den Schultern und zeigt mir das Haus. Die Räume mit den Sammlungen von Spazierstöcken und Stundengläsern, den Muschelkörben und Mikroskopen, den Jünger-Büsten und Büchern.

»Das also ist der berühmte Stahlhelm mit dem Einschussloch!«

Sie bleibt stehen. »Ja. Sie sehen, dass da das Lederfutter ist, und deswegen hat er oben praktisch einen Hohlraum, und deswegen hat das Geschoss nur die Schwarte gestreift. Also, Zitat Jünger: Es hat zum Glück nur die Schwarte gestreift.«

Ich zeige auf einen zweiten Helm, der ebenfalls ein Loch hat: »Das ist ein englischer, oder?«

»Das ist ein englischer, ja.«

»Und? War Jünger das?«

»Ob er es selber war, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber der Junge hat dieses Gefecht nicht überlebt. Und hat genauso patriotisch für sein Vaterland gekämpft. Damals hatte man ja noch Achtung vor dem Feind.«

»Manchmal vielleicht«, sage ich.

»Nicht nur manchmal!«, entgegnet sie, fordernd jetzt, und setzt wie auftrumpfend hinzu: »Damals durfte man noch patriotisch sein.«

»Eine Metzelei«, murmle ich und sehe mich weiter um.

»Am Ende natürlich schon, aber die haben sich in den Feuerpausen getroffen. Sie müssen das mal lesen in Stahlgewittern. Oder lesen Sie Sturm, diese Erzählung von Ernst Jünger. Das waren Buben! Der Ernst Jünger hat in seinem Manuskript auch geschrieben: ‚Wann hat dieser Scheißkrieg endlich ein Ende?’ Aber so etwas werden Sie dann in der Reinfassung nicht finden. Glauben Sie, der hätt’ das Wort Scheiße benutzt?«

 

In den Glaskästen seiner Käfersammlung sich spiegelnd, begriff Jünger den besonderen Wert, der ihm als Exemplar einer scheinbar ausgestorbenen Art zukam, die über jene Praxis noch verfügte, die uns verlorengegangen ist, und sah seine Aufgabe darin, diese Ungleichzeitigkeit literarisch zu gestalten. Entgegen dem herrschenden Vorurteil war es ihm dabei keineswegs darum zu tun, eine elitäre Vorstellung des Soldatischen zu retten, den Sturmtruppführer oder seine Offiziersehre, vielmehr lesen sich seine Tagebücher als der fortgesetzte Versuch, die Figur des Soldaten auf eine völlig andere Weise zu beschreiben. Schon, dass die Form des Tagebuchs, und nicht die des Pamphlets oder des Schlachtengemäldes nach den Stahlgewittern zu derjenigen Form wurde, der sein ganzer Ehrgeiz galt, zeigt das andersgelagerte Interesse des Autors. Das Soldatische wird darin lesbar als eine Figur, die eine ganz bestimmte Bewegung auszeichnet: aus der umhegten Welt der Gesetze in den Krieg und aus diesem wieder hinaus. Gärten und Straßen, sein Tagebuch vom Beginn des Zweiten Weltkriegs, trägt die Ambiguität dieser Bewegung, von der es nahezu ausschließlich handelt, bereits im Titel. Die Erfahrung des Krieges bedeutete für Jünger, dass er das, was er war, dort, wo er war, nicht war.

Eine paradoxe Bestimmung, die, wie mir scheint, das Soldatische wesentlich beschreibt. Dabei sind es drei grundsätzliche Bewegungen, die es ausmachen. Zunächst eine aus der Gesellschaft hinaus. Auslandseinsatz ist in diesem Sinn jeder Krieg, insofern sich nämlich seine Parteien niemals am selben Ort befinden. Zwischen ihnen liegt ein Raum, den eine Grenze durchschneidet, die Innen und Außen kenntlich trennt. Aufgabe des Soldaten ist es, nicht nur die Grenze, sondern auch diese Distanz zu überwinden. Sein Weg führt ihn dabei aus dem Eigenen hinaus und ins Ausland hinein, in die Fremde, die die Sphäre des Feindes ist. Krieg ist, zweitens, dort: Feindberührung. Der Soldat ist Experte einer besonderen Form von Nähe. Was aber das Wesen dieser Berührung ist, wissen wir nicht mehr zu sagen, und wenig anderes ist uns geblieben als die Ahnung von einer Art von Kontamination. Um wieder zu verstehen, was unsere Gesellschaften da erneut kontaminiert, und wofür wir einzig noch Begriffe aus der Seuchenlehre haben, gilt es zunächst zu fragen: Was eigentlich ist ein Feind?

Es ist nicht einfach der Fremde, jener also aus der Ferne, denn bei ihm kann es sich stets um jemanden handeln, „der heute kommt und morgen bleibt“, wie Georg Simmel in seinem Exkurs über den Fremden schrieb, und auch nicht jener, den die Griechen βάρβαρος nannten, denn ihn, den Barbaren, zeichnet nach Simmel aus, dass die „Beziehung zu ihm … Nicht-Beziehung“ bleibt, während diejenige zum Feind sehr wohl eine bestimmte ist. An dieser Bestimmung arbeitete Ernst Jünger sich zeitlebens ab. Ganz abstrakt ist der Feind für ihn mit Carl Schmitt zunächst derjenige, den es in seine Grenzen zu weisen gilt, der somit aber zugleich auch einer ist, der mich in meine Grenzen weist. Diese Relation stellt für Schmitt bekanntlich den Urgrund allen politischen Denkens und Handelns dar, das sich überhaupt „nur durch die Bezugnahme auf die reale Möglichkeit der Freund- und Feindgruppierung begreifen“ lässt, wie es in seinem Begriff des Politischen von 1932 heißt. Feindberührung, bei der die Grenzen in dieser Art klar gezogen sind, ist mithin ein gleichberechtigter, gebender und entgegnender Akt. Verstehen ist keine Qualität dieser Begegnung, ihr Inhalt vielmehr die Gewalt der Begegnung selbst, ihre techné, wenn man so will, von der alle Kriegsberichte handeln, und zugleich, in ihrem Innersten, davon, wie die Feindberührung die eigene Identität sicherstellt als Feind, der ich dem anderen bin. Es ist offensichtlich, dass dabei die Bedrohung, die ein Feind ist, den ich als meinen Feind anerkenne, eine vorgängige, tiefergehende Bedrohung kaschiert, aus der sie der Ausweg ist: den Verlust jener Identität, die die Grenze erst festigt. Doch diese innere Grenze ist nicht nur stets fragil, sie ist, mit den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts, zusammengebrochen.

Die Nachgängigkeit der Figur Ernst Jüngers hat in diesem Zusammenbruch, nicht in einer Verklärung des Krieges, ihre Ursache, in der Gewissheit, dass in der soldatischen Anerkennungslogik des Feindes die Ordnung des Staates schlechthin begründet liegt. „Der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind“, heißt es in Schmitts Theorie des Partisanen, und zwar, weil Gesellschaft, jener Leviathan, „in dem die Souveränität eine künstliche Seele ist“, sich in dieser Unterscheidung immer von neuem im Sinne von Hobbes, auf den Jünger wie Schmitt sich beziehen, aus dem Naturzustand zu befreien hat. Ist ein solches Denken heute tatsächlich überwunden? Die Gewalt und der Schrecken kehren in unserer Spätmoderne in das Gemeinwesen zurück, und zwar gerade, wie Reemtsma feststellt, weil in der westlichen Zivilisation die Zone des Gewaltverbotes immer weiter ausgedehnt wurde.

Im Garten gibt es keine Feinde. Und der Garten ist tatsächlich weniger ein Bild als vielmehr die spielerische Verwirklichung der Utopie des Gewaltverbotes, an dem sich das Erstarken und die Ausdehnung staatlicher Macht ablesen lässt. Musste der mittelalterliche hortus conclusus sich noch durch eine Mauer vor der bedrohlichen Wirklichkeit abschirmen, um Sicherheit garantieren zu können, war die Künstlichkeit des Barockgartens der Triumph eines Staates, der es vermochte, diese Kunstfertigkeit ohne sichernde Grenze zu erhalten. Aber noch gab es, jenseits von Taxus und Buchs, eine feindliche Außenwelt. Erst der englische Garten hat es vermocht, das Außen gänzlich verschwinden zu lassen, ja er bestand auf und aus der Illusion, es gäbe keine andere Natur als seine eigene, die zudem auch alle Geschichte, Wissenschaft, Religion und Kunst umgreifen und also über alle Zeiten und alle Kulturräume hinweg sich erstrecken sollte. Der englische Garten ist der grüne Prospekt der liberalen Utopie, die sich über die ganze Welt legt. Die absurde Doppelung des Wortes von der globalisierten Welt bildet diese Überlagerung des realen durch einen imaginären Globus ab, ist die Formel jener totalen Inklusion, die Carl Schmitt die endgültige „Meridianverschiebung“ nannte und die einen einzigen Weltinnenraum schafft.

Dass dieser, im selben Moment, in dem er sich schließt, sogleich neue Ausschließungen produziert, Exklusion und Terror, ist die Erfahrung unserer Gegenwart. Im Innersten bricht stets ein neues Außen auf. Eine Erfahrung, die den drogenvertrauten Soldaten Jünger nicht überrascht hat. Als brächte der globale Organismus seine Feinde nun wie in einer Autoimmunreaktion selbst hervor, radikalisiert sich die Figur des Feindes in der Moderne einerseits und verschwindet zum andern, wird zum unsichtbaren Partisanen, zum Terroristen, der sich lediglich noch in der punktgenauen Zündung einer Bombe artikuliert. Die asymmetrischen Konflikte, die wir erleben, sind nicht länger den Regeln unterworfen, mit denen die Nationalstaaten ihre Konflikte nach dem Trauma des Dreißigjährigen Krieges und bis zum Ersten Weltkrieg erfolgreich einzuhegen vermochten: Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten, Garantien der Behandlung Kriegsgefangener, Neutralitätsstatus Dritter. Sie kennen kein eigentliches Schlachtfeld mehr, keinen Rückzugsraum und keine Grenze, so dass man, wie Schmitt in seiner Theorie des Partisanen schreibt, „nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“

Doch wenn keine Anerkennung des Feindes und kein Anerkanntwerden durch den Feind mehr möglich ist, kann auch jene vorgängige, tiefergehende Bedrohung, aus der sie der Ausweg war, der Verlust der eigenen Identität, nicht mehr abgewehrt werden. Ein Abgrund im Innersten reißt auf. „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt“, zitiert Carl Schmitt 1946, nach Prozess und Urteil, in der Gefängniszelle, ohne ihn zu nennen, Theodor Däubler, und unterschlägt bezeichnenderweise den zweiten Teil des Verses: „Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen.“ Derrida hat in seiner Politik der Freundschaft die Szene imaginiert, in der dieser letzte und einzig wahre Satz vom Feind fällt: „Wir sehen Schmitt, den Denker des Feindes, den, der in diesem Jahrhundert dafür berühmt wurde, aus dem absoluten Feind sein Thema, seinen Begriff, sein Schauspiel gemacht zu haben – wir sehen also diesen Schmitt in seiner Zelle den Kopf in die Hände stützen und zur letzten Anamnese ansetzen. Er ist bereit, sich in Frage zu stellen; und er ist es anlässlich der Frage des Feindes. Er wird es freilich nicht tun, niemals, wie er denn auch seinen Nazismus weder jemals gestehen noch jemals leugnen wird.“

Anders Ernst Jünger, dessen Freundschaft zu Schmitt auch deshalb mit den Jahren immer problematischer wurde. Sich vor dieser bodenlosen Rückwendung des Soldatischen gegen sich selbst nicht zu verschließen, macht sein Schreiben im Innersten aus. Gegen diesen Abgrund mobilisiert er in immer neuen Offensiven literarischer Abrüstung die Truppen des Rausches, der Introspektion, des Traums, oftmals erschütternd in seiner Ungeschütztheit. So notiert er in Gärten und Straßen, auf dem Vormarsch durch Frankreich, unter dem Datum des 2. Februars 1940: „Halb in einem fließenden Wasser stehend, hielt ich mit zwei schwachen Gerten ein Wesen von mir ab, in dem sich der Körper einer Ratte mit einem Schlangenkopf und Schlangenschwanz verband. Ich konnte es in der Schwebe halten, so dass die Strömung es nicht an mich trieb, doch lösten sich hin und wieder kleine Parasiten von ihm ab und glitten, mit den Beinen tastend, dicht an mir vorbei. Endlich befreite mich aus dieser Lage ein Knüppelhieb, der über meine Schulter hinweg ins Wasser klatschte und dem Wesen den Garaus machte, das nun bäuchlings stromabwärts trieb. Er rührte von einem Bauern her, der hinter mir hemdsärmelig im Ufergras saß und mir gutmütig zunickte. Statt ihm zu danken, wandte ich mich von ihm, nachdem ich ihm zugerufen hatte: ‚Don’t disturb me!’“

Hier öffnet sich der einsame Raum des Todes. Der vorherrschende Eindruck ist der einer großen Schwäche, die nicht nur Attribut der Gerten, sondern der ganzen Situation ist, und darüber hinaus einer besonderen Form der Intimität. Das Wasser, in dem Jünger schutzlos steht, schafft Nähe zu jenem schauerlichen Wesen, mit dem er mehr verbunden scheint, als dass er es abwehrt. Eine prekäre Nähe, die der Soldat aber gegenüber dem Zivilisten mit aller Anstrengung verteidigt, völlig gleichgültig für dessen Hilfe und mit einer unbedingten Abwehr, die im Wechsel ins fremde Idiom eine wichtige Vertauschung offenbart. Das Englische markiert den Raum dieses Traums als Fremde, als Kriegsgebiet, fremd jedoch ist diesem Ich vor allem der Zivilist, der nicht seine Sprache spricht, unaussprechlich verbunden dagegen ist ihm jenes Wesen mit „Schlangenkopf und Schlangenschwanz“. Gerade die intime Sprachlosigkeit zeigt eine Selbstbegegnung in der äußersten Entfremdung an, eine existentielle Entwaffnung durch den Tod, die Erfahrung der absoluten Grenze von Zivilisation. Mit Giorgio Agamben lässt sich sagen, dass für Jünger diese Grenze in uns selbst, und zwar „zwischen Animalität und Humanität“, verläuft. Der Bruch mit dem Naturzustand ist, selbst in uns, niemals vollständig, und daher die Behauptung, eine Gesellschaft habe den Tod aus ihrer Mitte und aus ihrer Politik herausgelöst, immer ideologisch. Letztlich bleibt Politik auf den Tod bezogen, auf den, der geschieht, aber auch auf jenen, den sie fordern kann. Das Wissen darum ist es, mit dem der Soldat aus dem Krieg, der einer mit sich selbst ist, zurückkehrt.

 

Und wohin kehrt er zurück? In einen Raum mit einem schmalen Bett, einem eintürigen Schrank und einer Kommode.

»Ist das sein Schlafzimmer?«

»Das Schlafzimmer, ja.« Monika Miller erläutert die Fotografien auf der Kommode. »Hier seine erste Frau Gretha, und hier die beiden Söhne Ernstel und Alexander. Sie ist 1960 gestorben, mit vierundfünfzig. Aber das Bild ist entstanden, als sie geheiratet haben, 1925, da war das Mädchen gerade neunzehn Jahre alt.«

»Und er?«

»Er war ja schon dreißig. War schon der Pour-le-Méritter, der Autor der Stahlgewitter

Aus ihrem Mund klingt es wie arme Ritter und reimt sich auf Stahlgewitter.

»Und woher kannten sich die beiden?«

»Die sind sich begegnet auf dem Waterloo-Platz in Hannover, als er sich der Kaserne näherte mit diesem wehenden Militärmantel und dem blitzenden Pour le Mérite und mit diesen blitzenden blauen Augen, die Gretha war gerade sechzehn Jahre damals, und dann: Coup de Foudre!«

Sie klatscht in die Hände und lacht. Auch ihre Augen blitzen jetzt. Wie weich ihre Stimme mit einem Mal ist. Ein Frisiertisch mit Kleinigkeiten. Ein Taschenmesserchen, Manschettenknöpfe.

»Und das ist so liegengeblieben wie es war?«

»Natürlich.«

Ich öffne den schmalen Kleiderschrank.

»Das sind die Ehrendoktorroben.«

»Ach. Und von welchen Universitäten?«

»Spanien. Bilbao und Madrid. Und das andere ist ein Ehrenhäuptlingsgewand. Das ganze Ausland weiß, dass wir hier den deutschen Jahrhundertphilosophen hatten – nach Goethe.«

Ein Leben, gefangen in einem anderen wie ein Steinchen, das in einem Kästchen klappert, wenn man es schüttelt? Grinsen muss ich aber doch.

»Ja!«, trumpft sie auf, als sie sieht, wie mein Gesicht sich verzieht.

»Schon gut. Ich glaub’ Ihnen ja, dass Sie das glauben.«

»Nein, ich muss das nicht. Mir hat niemand einen Text vorgegeben. Ich hab das hier erlebt. Ich weiß das.«

Nach jedem der kurzen Sätze eine Pause. Als sollte man einhaken. Als ließe sich die Stille des Hauses darin vernehmen. »Was meinen Sie damit?«

Sie sieht mich ernst an. »Ich bin erst mal ins kalte Wasser gefallen, als er nicht mehr da war. Erst dachte ich, das kann nicht sein, die spielen dir irgendwas vor. Das ist nicht die Welt, das ist nicht die Wirklichkeit. Aber es war hier so.«

»Als Sie hierher kamen, meinen Sie?«

»Als ich anfing, ja.«

»Der Umgang mit Jünger war angenehm?«

»Ja, das ist ganz anders, als man das landläufig gewöhnt ist.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das haben Sie wahrscheinlich noch nie gesehen, wie liebevoll zwei alte Menschen miteinander umgehen können.«

Schade, denke ich, dass sie nicht von sich spricht. »Bei dem schmalen Bett ist man versucht, das Gegenteil zu vermuten.«

»Das hat damit gar nichts zu tun.«

»Wo schlief denn seine Frau?« Nach dem Tod Grethas hatte Ernst Jünger 1962 ein zweites Mal geheiratet, die Germanistin Liselotte Lohrer.

»Oben, unter dem Dach. Bei Goethe war es auch so, und bei Schiller war es so. In gutbürgerlichen Kreisen hatten die Frauen ihren Extrabereich. Auch Schlafzimmer, Wohnzimmer. Die Liselotte hat auch erst einmal gar nichts verändern dürfen bei Gretha. Also Grethas Schlafzimmer ja sowieso nicht. Und deswegen hatte sie oben ihr Schlafzimmer.«

«Und Sie meinen, das sagt nichts aus über die Ehe?«

»Überhaupt gar nichts.«

»Aber Sie haben nicht hier gewohnt? Im Haus, meine ich?«

»Ich?«

»Ja. Sie kamen morgens?«

»Ich kam morgens. Ich war damals in der Nachbargemeinde. «

»Und was war es, was Sie hier gefunden haben?«

»Das ist diese menschliche Größe, die ich hier erlebt habe.«

»Und was heißt das?«

Sie seufzt. »Ach, wie soll ich das beschreiben? Das muss ich mir echt überlegen, wie ich das ausdrücken soll. Also: Ernst Jünger hat eine sehr gute Menschenkenntnis gehabt. Für ihn hat es zum Beispiel keine Rolle gespielt … also, es war eher lästig, wenn der Bundeskanzler sich angemeldet hat. Gut, man nimmt’s hin und freut sich schon über diese Ehre, die einem da zuteil wird. Aber im Grunde genommen war man dann immer froh, wenn es wieder vorbei war.«

»Und was hatte das mit Ihnen zu tun?«

»Schauen Sie, er hat mich angeschaut, und er hat so was noch gehabt, wie … Herzensbildung. Das war viel mehr, von Anfang an schon viel mehr als ein normales Arbeitsverhältnis. Das war einfach … ja, vielleicht war ich wie so eine Art Tochterersatz, ich weiß es nicht. Es war einfach eine schöne Zeit. Und diese Zeit …«

»Gar nicht verliebt?«

»Nein. Nein, um Gottes Willen!«

»Na ja, ich meine …«

»Nein, nein.«

Ich nicke und wende mich zu einem großen Glasschrank um, der voller Nippes steht, Geschenke aus Jahrzehnten. Ein langer Moment der Stille.

»Ich muss mich ein bisschen beeilen«, sagt sie irgendwann leise.

»Oh, Verzeihung.« Schnell drehe ich mich wieder nach ihr um.

»Ich muss um halb zwölf in Langenenslingen auf der Post sein, weil, das ist bei uns so bescheuert.«

»Kann ich denn den Garten noch sehen?«

»Ja, natürlich. Die Treppe runter, ums Haus, dann sind Sie im Garten. Und Sie müssen sich auf alle Fälle in unser Besucherbuch eintragen.«

Wir gehen hinab ins Erdgeschoss. Auf einer Kommode in der Diele liegt das Gästebuch.

»Soll ich hier reinschreiben?«

»Wenn Sie möchten, ja. Heute ist der vierundzwanzigste.« Ich weiß.

 

„Ich glaube“, schreibt Ernst Jünger in Das abenteuerliche Herz auf der Suche nach einem Ausdruck seiner Kriegserfahrungen, dass folgendes Bild das Entsetzen besonders treffend zum Ausdruck bringt: „Es gibt eine Art von sehr dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepresst liegen, sondern durch irgendeine Vorrichtung voneinander entfernt gehalten werden.“ Wovon ist hier die Rede? Von der Unmöglichkeit, Bilder für etwas zu finden, das sich allen Bildern entzieht. Und zugleich von der unbedingten Notwendigkeit solcher Bilder. Denn der, der zurückkehrt, bringt etwas mit, das erst im Wechsel aus dem Gebiet jenseits der Grenze in die Heimat überhaupt seine unausführbare Ausdrucksnotwendigkeit gewinnt. Heimkehr ist die dritte, entscheidende Phase soldatischer Praxis, denn was der Soldat dabei mitbringt und worauf es der Gesellschaft vor allem ankommen muss, ist nicht Sieg oder Niederlage. Er kehrt zurück als einer, der getötet hat oder getötet worden ist, wobei die Vergangenheitsform ihm habituell zugehört als unaufhebbare Last, die ihn auszeichnet. In ihr erlebt die Gesellschaft sich als souverän, da sie den Tod zu geben und zu fordern vermochte, und erfährt an dessen Unabänderlichkeit zugleich ihre eigene Grenze. Und damit die eigene Schuld.

Das ist es, wovon das Ehrenmal der Bundeswehr schweigt, denke ich, und während ich das Gästebuch zuklappe, mich von Monika Miller verabschiede und in den Garten hinausgehe, kommt mir plötzlich der Pergamonaltar auf der Museumsinsel in Berlin in den Sinn, kaum eine halbe Stunde Fußweg vom Ehrenmal entfernt.

Dort, denke ich, kann man sehen, wovon in der Gedenkstätte, die keine Sprache des Gedenkens hat, eigentlich die Rede sein sollte. Obwohl der Sieg der Olympier, den der Fries festhält, unzweifelhaft ist, richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Sieger, sondern vor allem auf das Leid, das der Preis dieses Sieges ist. Wie aber gelingt das? Noch jedes Mal, wenn ich vor diesen Gestalten stehe, habe ich sofort die Gewissheit: Hier geht es um den je einzelnen Tod jedes der dargestellten Kämpfer. Jeder der Sterblichen, der dort stirbt – zertreten, durchbohrt, gewürgt oder zerrissen –, wird im Moment seines Sterbens aus der Dichotomie von Freund und Feind herausgelöst, wird wieder zu einem Einzelnen, der keiner Armee mehr angehört, sondern in seinem individuellen Tod allein ist und uns, die Betrachter, gerade in dieser Einsamkeit ergreift. Darin, scheint mir, liegt letztlich die entscheidende Aktualität von Jüngers Werk: Der Schriftsteller fand im Schreiben wieder, wovon der Soldat zunächst nur Zeugnis ablegen wollte, und er begriff, dass die Begegnungen, um die es beiden ging, sich gleichen. Beide sind ernst. Beide stellen das Ich in Frage. Und so imaginiert der Autor nicht zufällig ein Buch, um dem Leser „das Entsetzen besonders treffend zum Ausdruck“ zu bringen, das den Soldaten befällt.

„Auf das oberste Blatt hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf das zweite Blatt, das ebenfalls, und mit heftigem Knalle, zerbirst. Der Sturz trifft das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung der Fallgeschwindigkeit lässt die Detonationen in einer Beschleunigung aufeinander folgen, die den Eindruck eines an Tempo und Heftigkeit ununterbrochen verstärkten Trommelwirbels erweckt. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, bis endlich ein einziger, fürchterlicher Lärm die Grenzen des Bewusstseins sprengt.“

Vor dem Pergamonaltar spürt man nicht nur das Leid des Sterbens. Wir empfinden auch, dass wir die Einsamkeit dieser Tode selbst über die zweitausend Jahre hinweg durch unser Mitgefühl zu lindern vermögen. Wir leiden noch heute mit den sterbenden Titanen, ohne ihre Geschichte kennen zu müssen, oder auch nur ihren Namen, weil wir ihren Schmerz sehen. Gewiss: Dieser Fries ist eine Schlachtbeschreibung, eine höchst propagandistische sogar, denn der Sieg der Olympier ist unzweifelhaft und schön, aber dennoch lässt seine Kunst jenen Raum für das Leid des Sterbens in einem Krieg. Wobei am erstaunlichsten wohl ist, dass diese Darstellung nicht einfach Mitleid für die Sterbenden zu wecken versteht und es dem Betrachter damit leicht macht, sich auf die Seite der Opfer zu schlagen, sondern dass dieser Fries uns zugleich, im selben Moment, die Schönheit der Sieger zeigt und uns so mitschuldig werden lässt. Der Pergamonaltar findet Bilder für das eigentliche Skandalon des Krieges: dass die Sieger nicht von der Gewalt affiziert werden, die sie geben. Vielmehr sehen wir sie, indem sie überleben, in eben diesem Augenblick zu Göttern werden und unsterblich. Und wir sehen sie, als Unsterbliche, schön und traumwandlerisch ungerührt, durch das Sterben hindurchgehen, das sie erzeugen.

Und so, hin- und hergerissen zwischen einer Identifikation mit den Siegern wie mit den Besiegten, gewährt der Pergamonaltar uns, die wir heute völlig ungeschützt und sprachlos vor den Kriegen stehen, die ebenso jenseits wie im Innersten des Gartens ausbrechen werden, in dem wir noch immer leben, die Einsicht, worin einzig das Glück angesichts des Krieges bestehen kann: sich nicht ergreifen lassen zu müssen von der Gewalt.

 

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Literatur ist rücksichtslos.

  3.6.2012.

Die aktuelle Debatte um das Urheberrecht ist für Schriftsteller vor allem eine grundsätzliche, seit mindestens zehn Jahren nicht geführte Debatte um Literatur im Netz. Die medienrechtliche Anpassungen an das sich ändernde digitale Publizieren ist dabei nur ein Aspekt, der uns beschäftigt, die tatsächlichen Veränderungen, die daraus für unsere Arbeit resultiert, ist der andere, gewiß nicht wichtigere, aber doch existentiellere. Nun sind beide Aspekte nicht voneinander zu trennen, aber sie sind für den Schriftsteller selbst doch zweierlei, denn niemand, der sich nicht auf literarische Massenware kapriziert, begeht den Blödsinn, sein Leben als Schriftsteller finanzieren zu wollen, um damit reich zu werden. Die wenigsten können überhaupt so ihr Leben fristen. In Frage steht, viel mehr noch als ein ökonomisches Modell künstlerischer Einkünfte, dasjenige der künstlerischen literarischen Produktion selbst.

Zur Verdeutlichung, um welche Veränderungen es meiner Einschätzung nach aus Autorensicht geht, mag ein Hinweis auf Thierry Chervel nützlich sein, der vor einigen Tagen im Perlentaucher wieder einmal, wie schon oft und wie andere an anderer Stelle auch, gefordert hat, Autoren müßten endlich mehr bloggen und twittern, um sich der neuen digitalen Wirklichkeit zu stellen. Hinter dieser Forderung verbirgt sich ein tiefgreifendes Mißverständnis, das unsere Debatte aber im Kern berührt. Dieses Mißverständnis besteht darin, daß Teile der Netzöffentlichkeit meinen, Schriftstellerei habe etwas mit der Lust am Diskurs zu tun, weshalb man denen, die sich an dem enorm erweiterten und im weitesten Sinne kulturellen Gespräch im Netz nicht beteiligen, mit Unverständnis, ja mit Agressivität angesichts einer scheinbaren Verweigerung begegnet. Dabei ist die Annahme, für literarische Autoren habe der öffentliche Diskurs, worüber auch immer, zentral etwas mit ihrer Arbeit zu tun, irrig. Aber sie ist bezeichnend für den blinden Fleck jener digitalen Öffentlichkeit, die jetzt über Fragen der Literatur diskutiert.

Um an einem historischen Beispiel zu illustrieren, worum es mir geht: Im 19. Jahrhundert kannte man den Begriff des Salonliteraten, in Deutschland im übrigen sehr viel negativer besetzt als etwa in Frankreich, das, im Gegensatz zur Kleinstaaterei hierzulande, tatsächlich ein Zentrum und damit auch eine vielstimmige, qualitätsvolle Öffentlichkeit besaß. Vieles, was die Formen von digitaler Öffentlichkeit im Netz auszeichnet, finden wir vergleichbar in den sozusagen analogen Salons des 19. Jahrhunderts: die unhierarchische Debatte, das Ideal des Zugangs für jederman, die Geschwindigkeit der Themensetzungen. Der Salonliterat hatte Freude an dieser Öffentlichkeit und er hatte Erfolg in ihr, wenn er schnell reagieren und seine recht klar bestimmte Zielgruppe intelligent adressieren konnte.

Das ist, in etwa, auch das Autorenbild, das nicht nur hinter Chevels Forderung steht. Doch etwas wesentliches heute tritt zu diesem historischen Modell hinzu: Die Konjunktur dieser Vorstellung vom Schriftsteller hat nicht nur mit den befreienden Möglichkeiten der neuen digitalen Salons zu tun hat, sondern auch mit den seit den sechziger Jahren geführten, erst poststrukturalistischen und dann postmodernen Debatten darüber, was Literatur sei. Die Theoreme vom Tod des Autors und vom Werk als sozusagen immer schon unbewußten Pasticcio treffen dabei jetzt, ihrer theoretischen Verankerung verlustig und in unendlicher Wiederholung trivialisiert, auf die neuen Möglichkeiten von Diskussion und Distribution im Netz, so daß auch das simpelste Sampling in der Musik und die größte literarische Hilflosigkeit etwa einer Helene Hegemann sich noch mit der Schrumpfform eines medientheorischen Überbaus legitimiern kann.

Um das ganz klar zu sagen: Nichts erhoffe ich mir so sehr, als das die digitale Öffentlichkeit einmal die intellektuelle Kraft und Offenheit jener Salons haben wird, die es beispielsweise um 1800 in Berlin gab, als bei Rahel Lewin die Grenzen der Stände, der Religionen, der Professionen nonchalant aufgehoben wurden. Und ja: eine solche Öffentlichkeit kann Literatur hervorbringen. Die Romantik ist ohne diese Kultur nicht vorstellbar. Insofern ist für mich das emanzipatorische Potential der Netzöffentlichkeit ganz fraglos.

Gleichwohl hat es neben dem Salonliteraten immer einen anderen Typus des Schriftstellers gegeben, der unfähig oder unwillig zu eben jenem Diskurs war, in dem sich der Salonliterat wie der Fisch im Wasser bewegt. Dieser Typus, für den es keinen Begriff gibt, weil er, wie ich meine, immer der vorherrschende war, agiert im Vergleich mit jenem andern stets etwas autistisch, aber das war in der literatischen Öffentlichkeit des Buches, die nun wohl zu Ende geht, kein Problem, denn diese Öffentlichkeit war (und ist es noch) sozusagen um jene Autisten herumgebaut. Weshalb? Weil in ihrem Zentrum das Werk stand. Ein Stück Literatur. Nicht der Autor, nicht seine Diskursfähigkeit, sondern jene Flaschenpost aus einer anderen Welt, die, gerade weil sie nicht auf Diskursivität angelegt ist, uns ergreift und anhaltend beschäftigt.

Das Werk also. Ein Begriff, der gerade völlig démodé scheint, und von dem ich doch überzeugt bin, daß er ins Zentrum unserer Diskussion gehört. Und zwar, genauer – horribile dictu! -: das Werk als Buch. Allerdings, bitte, nicht verstanden als jene Packform von Papier, die sich seinerzeit bequem mit der Pferdekutsche auf die Leipziger Buchmesse karren ließ. Sondern als künstlerische Form, die, wie alle künstlerischen Formen, eben nicht nur Verpackung ist, sondern bestimmte Inhalte, bestimmte Erfahrungen, bestimmte Erkenntnisse erst ermöglicht. Medien sind immer klüger als das, was über sie gesagt werden kann. Die Erfahrungen, die wir in einem Kinosaal machen, lassen sich letztlich nicht diskusiv fassen, was Musik mit uns anstellt, bleibt in seiner Summe unaussprechlich. Das ist der Reichtum der Kunst. Und das gilt auch für das literarische Werk als Buch in dem emphatischen Sinn, in dem ich nicht aufhören kann es zu verstehen, weil es eben nicht nur Gefäß, sondern auch Form ist, und damit an den Inhalten mitwirkt.

Anders gesagt bin ich der festen Überzeugung, daß das, was ein Buch ausmacht, nämlich seine Linearität, seine Endlichkeit und seine Abgeschlossenheit gegenüber anderen Diskursen (zumindest im Moment, in dem wir lesen und in einem Roman versunken sind), zunächst einmal nichts, das veraltet und deshalb verbesssert gehört. Es ist eine genuine Form künstlerischer Erfahrung. Natürlich paßt die ganze Welt nicht in einen Roman – aber der Literatur gelingt es, uns eben dies für Momente glaubhaft zu machen. Das sind ihre (und unsere) Glücksmomente.

Meine Kritik an der Sicht auf Literatur, wie sie sich vielerorts im Netzt artikuliert, richtet gegen zweierlei. Zum einen gegen die Naivität, die aus der Annahme spricht, die hochkomplexe Weise, in der ein Buch eine Welt in uns erzeugt, sei von dieser Form zu trennen und lasse sich ersetzen, ja überbieten durch eine irgendwie diskursive literarische Textproduktion. Diese Annahme ist nicht nur gegenüber dem Phänomen Buch unterkomplex, sie ist auch durch kein literarisches Erzeugnis belegbar.

Doch die aktuelle Debatte reduziert nicht nur das Buch auf ein begrenztes Behältnis, das verzichtbar geworden ist oder doch zumindest aufgebohrt und getunt gehört, sie ist auch blind gegenüber der Komplexität des „Gesamtsystems Literatur“. Der Schriftsteller, dessen Kernkompetenz eben nicht diskursive Vermittlung und Selbstvermarktung, sondern die Herstellung der beschriebenen Flaschenpost ist, die wir in unserer Imagination entkorken, war/ist in diesem System gehalten von etwas ganz anderem als nur einer Distributionsstruktur. Verleger, Literaturkritiker, Buchhändler agierten früher, und tun dies noch, nicht primär als Gatekeeper, sondern ganz im Gegenteil als Vermittler, die etwas zu vermitteln versuchten, was in seinem Kern nicht erklärlich ist. Nicht durch Klappentexte, nicht durch Literaturkritiken. Das dumme Wort von den Verwertern geht an dieser Wirklichkeit literarischer Vermittlung völlig vorbei. Auf das Wissen der Autoren um die Kunst dieser Vermittlung bezog sich der Aufruf der Urheber. Wir wissen, daß wir etwas herstellen, das Warenform annimmt, deren Wert jedoch im Kern nicht taxiert werden kann, weil eigentliche Literatur – im Gegensatz zu erwartbaren Formaten wie Thrillern, Fantasyromanen etc. – in Erfahrungen besteht, die jeder Leser anders oder auch gar nicht macht.

Daher stand meiner Ansicht nach in den letzten zweihundert Jahre auch nicht das Buch als Ware im Zentrum der jetzt so viel geschmähten Buchkultur, sondern die Ermöglichung von Leseerfahrungen, also von etwas unendlich Flüchtigem und Unkontrollierbarem, das paradoxerweise gerade durch dieses scheinbar so statische Ding ermöglicht wird, das wir Buch nennen. Verleger Jede Novelle ist in diesem Sinn ein Buch, jeder Roman, jedes Gedicht, wenn es für seine Erfahrung den abgeschlossenen, intimen Raum der Lektüre reklamiert. Konzentration. Ein Zwiegespräch ohne Rückversicherung nach außen. Duellsituation oder Liebesumarmung, je nachdem. Dann erst belohnt es seinen Leser durch die Freiheit von all den Netzen, in die wir alltäglich verwoben sind.

Diese Erfahrung ist nicht ohne Mühe zu haben, Mühen der Konzentration, des Verständnisses, der Dauer, die es nun einmal kostet, Marcel Proust oder David Foster Wallace in ihre Welt zu folgen. Ich glaube, wir verlieren die Muße und die Fähigkeit zu dieser Konzentration, und ich halte das für eine furchtbare Entwicklung. Denn dabei handelt es sich um mehr als um den Kollateralschaden eines Medienwechsels. Und mir mißfällt der Unwille im Netz, diesen Verlust überhaupt nur zur Kenntnis nehmen zu wollen.  Doch wenn diese Debatte ernsthaft und nicht länger ideologisch geführt werden soll, gehört zur Begeisterung für das, was wir an Möglichkeiten im Netz gewinnen, auch die Anerkennung dessen, was wir verlieren, wenn mit dem Geschäftsmodell Buch der öffentliche Raum der Literatur als jener Ort verschwindet, an dem ein Schriftsteller und ein Leser sich nicht bloggend und twitternd treffen, sondern tatsächlich und unüberwachbar in den Räumen der Imagination. Und all zu viele utopische Räume hat diese Welt nicht zu bieten.

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Peter Schlemihl.

  7.2.2012.

Kein höflicherer Versucher ist denkbar als jener graue Mann, mit dem sich der arme Peter Schlemihl auf einen fatalen Handel einläßt. „Mit einer bewunderswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schatten, vom Kopf bis zu den Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten und zuletzt einstecken.“ Was folgt, macht Chamissos Erzählung zum etwas vorhersehbaren Schulstoff (der Außenseiter in der Literatur), womit man ihrem anrührenden Helden aber nicht gerecht wird.

Dabei scheint zunächst tatächlich alles ganz einfach: Der Pakt mit dem Teufel stößt Schlemihl, wie die Märchendramaturgie es verlangt, in die Einsamkeit. „Wo hat der Herr seinen Schatten gelassen?“ fragt schon die Schildwache am Stadttor und so fragen von nun an alle. Ein Leben in der Nacht beginnt, in umständlich ausgeleuchteten Räumen und mit angstvollen Spaziergängen im Schattenwurf des treuen Dieners. Als zuletzt auch die Liebste verlangt, daß er ihr seinen Schatten präsentiere, läßt Schlemihl sich auf einen Kampf mit dem Teufel ein, der ihn doppelt einsam zurückläßt, ohne Liebe und ohne die Börse, die bis dahin unendlich Goldstücke ausspuckte. Einzig ein neues Zauberutensil läßt ihm, wie zum Hohn, der freundlich unbarmherzige Teufel: Siebenmeilenstiefel bringen den armen Schlemhil von nun an mit einem Schritt ins Eis der Pole und mit dem nächsten in die Wüsten Ägyptens, die ganze Welt steht ihm offen, und sie ist ihm leerer und einsamer denn je.

Doch im Moment ihrer größten Trostlosigkeit nimmt diese „wunderliche Geschichte“ eine überraschende Wendung, für deren Verständnis man wissen muß, daß Schlemihl ebenso und ebenso so wenig wie einen Schatten auch einen Autor hat, und daß dieser ihm wie jener folgt. Ihm erzählt die Figur ihre Geschichte und dabei begreift man, daß Schlemihl weniger in die Märcheneinsamkeit verbannt ist als aus dem höchst konkreten Kreis des intellektuellen Berlin um 1800, zu dem außer dem Autor Chamisso auch Fouqué, Hitzig und E.T.A. Hoffmann gehörten. Und es rührt auch den heutigen Leser die anrührende Volte, wie Schlemihl sein schattenloses einsames Leben schließlich annimmt und nutzt, um wie ein märchenhafter Humboldt mit seinen Siebenmeilenstiefel die Welt zu durcheilen und zu vermessen und ihre Flora und Fauna zu beschreiben. „Und so, mein lieber Chamisso, leb‘ ich noch heute.“ Selbst wenn die Liebe, die wir in uns haben, keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt mehr findet, bleibt uns die Gemeinschaft der Texte. Das ist nicht märchenhaft, das ist utopisch. Schlemihls letzter Wunsch an seinen Autor lautet, „daß vor meinem Tode meine Manuskipte bei der Berliner Universität niedergelegt werden.“

 

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Grande Complication.

  In: Fritz Barth - Cannstatter Strasse 84. Mit Texten von Thomas Hettche und Gerhart Schröder sowie einem Gespräch zwischen Amber Sayah und Fritz Barth. 72 Seiten mit 52 Abbildungen. Edition Axel Menges, Fellbach 2011.

Wir möblieren unsere Welt. Diejenige, die uns umgibt, ebenso wie jene, die in uns ist. In beiden sind wir gleichermaßen gefangen. Und beider Gestaltung ist alternativlos, denke ich, und drehe das Weinglas am Stiel über dem Tisch. Ein besonderes Weinglas und ein besonderer Tisch. Für wen? Für niemanden als für Fritz Barth, der diesen Tisch einmal zu einem bestimmten Anlaß für seine Eltern gebaut hat. Dieser Tisch möbliert eine Welt, die ich nicht kenne. Doch indem ich an ihm sitze, sitze ich zugleich auch an jenem anderen Tisch, von dem ich sagen würde, daß ich ihn nicht einmal sehen kann. „Was sind das für Gläser, Fritz?“

„Lobmeyr, Strohglas, nach einem Entwurf von 1850. Sozusagen die Idee des Glases. Mir gefällt, daß man die nicht weiter reduzieren kann.“

„Warum?“

„Mich interessieren Dinge, die sich gegen das sträuben, was man Design nennt. Der junge Corbusier war der Meinung, nicht-entfremdete Gegenstände, also solche, die mit sich selbst übereinstimmen, seien in der anonymen Industrieproduktion zu finden. Und das stimmte auch. Türklinken zum Beispiel. Es ist noch nicht lange her, da konntest du, wenn du eine gute Türklinke wolltest, praktisch bei jedem Hersteller die billigste kaufen, denn der unsinnige Glaube, die Dinge müßten mit Designmehrwert aufgewertet werden, tobte sich im Hochpreissegment aus. In der Regel hatte den billigste Türgriff dagegen jemand gestaltet, der nie auf die Idee gekommen wäre, sich Designer zu nennen, sondern der war vielleicht Werkmeister und wußte, wie der Werkstoff sich verhält, kannte seine Maschinen und was man mit ihnen herstellen konnte, war sich über die Funktion im Klaren und hatte also Formgefühl. Design ist dagegen etwas, das sich dem Gegenstand anheften will, und das hat sich inszwischen durchgefressen durch die Dingwelt und längst auch die sozusagen tugendhaften Gegenstände erreicht.“

„Der tugendhafte Werkmeister. Ist das schwäbische Mystik?“

„Du meinst so einen handwerklichen Pietismus?“

„Hm.“

„Kann schon sein. Ich würde zwar nicht sagen, daß ich in der schwäbisch-pietistischen Tradition stehe, aber Fellbach ist ja eine der Hochburgen des Pietismus.“

Fellbach. In einem Hinterhof die Zehntscheune des Bischofs von Konstanz. In einem anderen Hinterhof zwei aufgebockte Karts, an denen Vater und Sohn für ein bevorstehendes Rennen schrauben. All die großzügigen Gärten und Scheunen, die es offensichtlich gegeben hat, längst umgewandelt zu Baugrundstücken in zweiter Reihe, auf denen Neubauten sich in enge Hinterhöfe zwängen, zwischen geteerten Zufahrten und Parkplätzen. Alles Fachwerk unter Putz. Die Weingüter, die auf diesen Putzfassaden mit Gründungsdaten im siebzehnten oder gar sechzehnten Jahrhundert werben, allesamt auf dem Renovierungsstand der siebziger Jahre: Verbundpflaster, aufgesetzte Rollädenkästen, schwere Haustüren mit bunter Glasornamentik und Garagen mit automatischen Rolltoren.

Es ist von Bedeutung, daß sich das Haus von Fritz Barth inmitten einer solchen Agglomeration befindet. Es tut dies, weil hier der Zimmerplatz des Vaters und des Großvaters war – und davor: Acker. Und weil er, seit er mit zwölf ein Zeichenbrett geschenkt bekam, für diesen Ort Pläne entworfen hat. Erkennbar zielte die konstruktive Kreativität des Architekten Barth beim Entwurf seines Hauses darauf, eigene Vorstellungen vom Wohnen mit den Zudringlichkeiten des Ortes auszubalancieren. Da ist die Brandschutzwand in Richtung Süden, die das Haus auf ganzer Länge fensterlos und dachhoch abschließt. An den Schmalseiten distanziert im Westen ein Ladengeschäft und im Osten eine Wohnung, beide vermietet, das Haus von den Straßen, zwischen denen es liegt. Und im Norden fängt der Garten mit einem halben Dutzend Birken und einer Wandelhalle den Blick. Seltsam, daß man trotz all dieser Bemühungen vom Schreibtisch des Arbeitszimmers durch das Drahtgeflecht der Einzäunung direkt auf die Cannstatter Strasse sieht. Am Sonntag mustern neugierige Passanten den Hausherrn und er mustert sie.

Man muß sich die Grande Complication dieses Ortes wohl als Fritz Barths intellektuelles Vergnügen vorstellen. Die Aufgabe bestand darin, in eine verdichtete schwäbische Großgemeinde weniger einen ästhetischen Solitär, als vielmehr ein solitäres Lebenskonzept zu setzen.

„Eigentlich ist es ja ein Einpersonenhaus.“

„Mit 350 qm Wohnfläche?“

„Ja.“

„Eine Junggesellenmaschine?“

„Wenn man so will.“

Man könnte auch sagen: Die ebenso unaufgeregte wie konsequente Ausrichtung des Hauses nach Innen setzt sich in diesem Inneren selbst fort, ja radikalisiert sich dort. Fritz Barths Unité d‘Habitation ist insofern tatsächlich Maschine, als sie keinen Gegensatz von Oberfläche und Funktion, von Erleben und Leben anerkennt. Das meint viel mehr und etwas anderes als nur, daß dieses Haus eine Maßanfertigung für seinen Besitzer wäre. Ein Indiz dafür ist, daß es kein Gästezimmer gibt. Ja, vor dem Kamin nicht einmal einen zweiten Sessel. Und auch die Tatsache, daß die Bücher unsichtbar in Wandschränken verstaut sind wie alle anderen Dinge des täglichen Gebrauchs, macht deutlich, daß dieses Haus nicht auf herkömmliche Weise gastfreundlich ist. Was bei einem Hausherrn verwundert, der höflich und zuvorkommend wie wenige ist und berühmt für seine Einladungen, bei denen er seine Gäste mit großer Leidenschaft bekocht.

Doch da der Raum des Miteinanders auf so auffällige Weise beschränkt ist, bleibt den Gästen des gastfreien Fritz Barth nicht viel anderes übrig, als sich in dieses Haus mit seinem hohe Grad an Spezifik, an detailliert vorgegebener Nutzbarkeit sozusagen einzupassen und damit die Stelle des Hausherrn selbst einzunehmen, was insofern leicht fällt, als man nicht den Eindruck hat, in diesem Haus werde etwas zurück- oder einer Exklusivität vorbehalten. Ganz im Gegenteil überläßt Fritz Barth einem den Sessel vor dem Kamin, den Deckchair im Garten, das Sofa im Kino, den Platz am Flügel offenbar gern und hochinteressiert. Selbst vom Eßtisch kann man nicht sagen, daß es ihn gäbe, damit dort ein Dutzend Menschen Platz findet. Die Sammlung der unterschiedlichen Stühle gemahnt wie alles in diesem Haus daran, daß wir in unserem Erleben allein sind, und sei es eben in den grundverschiedenen Sitzerfahrungen, die jede Gruppe im selben Moment vereinzelt, in dem sie sich setzt.

Derlei Erfahrungen seiner Gäste sind für Fritz Barth schon deshalb nicht trivial, weil sie ein Echo seiner eigenen sind. Für ihn ist Architektur Erkenntnisinstrument, und es ist geradezu die Idée fixe dieses Architekten, daß Erkenntnis sich in der Irritation verberge, im Verhältnis von Fehler und Ordnung, über das er einmal einen hintergründigen Aufsatz geschrieben hat, und daß man sich um diese Erkenntnis mit allen Sinnen zu bemühen habe. Das hat ihn an der Villa Giulia interessiert, bei deren Betrachtung der Besucher mit jedem Schritt über den Aufbau der Architektur neu verunsichert wird, das hat ihn zu seiner monographischen Arbeit über den Garten der Villa Lante verführt, und dieses scheinbar freie Spiel der Muster und Sinnfälligkeiten hat er auch in den irrlichternden Stuckperspektiven des böhmischen Barockarchitekten Santini gesucht. Angesichts von dessen Kirchen verfiel Barth auf den für ihn sehr typischen Gedanken, die nichtsprachliche, nichtlineare Komplexität der Architektur werde eigentlich immer nur dann problematisch, wenn man sie sprachlich zu synthetisieren suche.

Dennoch arbeitet selbstverständlich alles an diesem Haus sich an den Grenzen der Sprache ab. Manierismus ist Widerstand durch Überanpassung, ist der Tanz der ästhetischen Mäuse im Amgesicht der Katze Konvention. Doch dieser Widerstand kündigt den Traum von Verbindlichkeit und Verstehen nicht auf. Er entfacht sich, ganz im Gegenteill, an der Trauer über die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung. Manierismus ist Ironie aus enttäuschter Liebe, und ein zutiefst manieristischer Bauherr wie Fritz Barth treibt die Übertreibung so weit, daß man sie beinahe nicht mehr sieht. Als wollte er in seiner Architektur aus industriellen Materialien, der Schönheit des Halbzeugs und additiven Gestaltung, mit dieser Camouflage der Nüchternheit tarnen, wie ornamental überschießend die Welt der Anspielungen und Bezüge ist, die sich dahinter verbirgt.

„Wenn es hier Versteckspiele gibt, dann gibt es zweifellos auch welche, die ich mit mir selber spiele.“

„Ach?“

Eigentlich hätte man ein derlei klares Bekenntnis nicht erwartet. Er nickt.

„Ich stelle mich auf der Bühne dieses Hauses dar. Es hat aber eine Doppelfunktion: Es dient mir als Wohnstatt, ist aber auch der Ort, an dem ich mich präsentieren kann.“

„Ist es dann nicht seltsam, daß diese Bühne gar keinen großen Auftritt zuläßt? Es gibt keine Zentralperspektive, die den Blick in ein Zentrum ziehen würde, weil es auch kein Zentrum gibt.“

„Ja, das könnte man als Bescheidenheit auslegen. Ob das so aufrichtig ist: daran habe ich allerdings meine Zweifel. Bin mir aber nicht ganz sicher. Vielleicht ist das auch eine Form von Eitelkeit. Schließlich möchte ich ja erkannt werden. Dieses Haus ist mein Werk. Es ist mein Beruf. Und das ist schließlich die Tätigkeit, von der ich einmal dachte, sie sei nicht nur für mich wichtig, sondern sie habe sogar eine Bedeutung, die über mich hinausgeht.“

Unsere Welt ist gleichermaßen die, die uns umgibt, wie jene, die in uns ist. In beiden sind wir gefangen. Ihre Gestaltung ist alternativlos. Das Faszinierende an der Eingangstür des Hauses von Fritz Barth ist nicht, daß sie sich schon in der väterlichen Zimmerei, also am selben Ort befand, sondern, daß sie einerseits ästhetisch, als Element der Fassade, völlig in den Hintergrund tritt, andererseits aber jedem Besuch geöffnet wird, und daß das jedesmal so ist, als zeichnete die Bewegung des Türblatts wie der Zirkelschlag einer Beschwörung einen Raum auf den Boden. In diesem magischen Kreis steht Fritz Barth, freundlich und neugierig seinem Gast zugewandt, und doch, zugleich und noch immer, mit dem Rücken auf dem Zimmerplatz des Vaters.

Oben auf dem Kappelberg flaniert an diesem Sommerabend ein Pärchen junger Russen, das sich für den Abendspaziergang schick gemacht hat, das Mädchen mit kurzem Rock und goldenen Flip-Plops, mit einem richtigen Hemd statt Shirt der junge Mann. Man raucht und umarmt sich, trinkt Red Bull und schaut auf die Stadt hinab, über der ein Sommer wie leuchtender Sirup steht. In der Ferne wirbeln Mähdrescher Staub auf, und die niedrigen Höhen des Schurwaldes liegen so golden im Licht der letzten Sonne, daß man meinen könnte, es seien die Albaner Berge. Das russische Mädchen lacht ihr dunkel glucksendes Lachen und läßt dabei die sorgsam geschminkten Augen nicht von ihrem Kavalier, der ihr eine Geschichte erzählt, die immer länger und lustiger wird, je mehr sie sich freut. Auf dem Rückweg nach Fellbach, hinab durch die Weinberge, steht, während es dunkelt, ein ungemein großer und sehr bleicher Mond über ihnen. Kein Auto ist mehr unterwegs und keine Passanten außer den beiden. Die meisten der an den Häuserfronten angebrachten Schilder PRIVATPARKPLATZ bewachen Leere.

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Die Gottsucherin.

  Anita Albus und ihre Proust-Studie „Im Licht der Finsternis.“ 3/2011

„Alle große Kunst ist Lobpreisung“, lautete das Credo des großen britischen Kunsthistorikers und Malers John Ruskin. Indem sie diesen Satz vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum geheimen Angelpunkt ihrer Proust-Studie „Im Licht der Fintsternis“ macht, wagt die Künstlerin Anita Albus nicht weniger als den Versuch der Restitution einer religiösen, ja christlichen Kust. „The glory of a great picture“, zitiert sie Ruskin, liege in seiner Scham. Der Scham nämlich darüber – und das unterscheide die Malerei etwa von der Photographie – „that there is something better than picture.“ Die Lobpreisung, die jede Kunst sei, beziehe sich nämlich notwendig auf das größere Kunstwerk der Schöpfung.

Marcel Proust, wie Albus ihn versteht, hatte gegen die Indienstnahme der Kunst, die sich darin verbirgt, wenig einzuwenden. „Ich glaube nicht, daß die Freiheit für den Künstler sehr nützlich wäre, und ich glaube, daß vor allem für den heutigen Künstler die Disziplin wie für den Nervenkranke ganz und gar heilsam wäre“, gibt sie eine Fragebogenauskunft des Autors wieder. „Was die ,Tyrannei‘ angeht, die das ,römische‘ Ideal auf uns ausübt, denken Sie nicht, daß wir, indem wir uns zwingen, anderen zu gehorchen, nach und nach unser selbst bewußt werden? Nie war eine Macht so tyrannisch wie die byzantinische Hieratik über die romanischen Künstler. Und doch, was gibt es Köstlicheres als ihre Skulpturen?“ Der Hinweis auf die Romantik ist nicht zufällig. Proust hatte die Kathedralen der Normandie mit Ruskins Augen entdeckt und war zu seinem Apologeten in Frankreich geworden. Prousts emphatischen Plädoyer für die Lebendigkeit der Kirchen als Ort des Kultus widmet Anita Albus das erste Kapitel ihres Buches.

Ein solcher Zugang zur Recherche ist nicht neu. „Im Gedanken an jene Kathedralen ist Proust zu lesen“, befand schon Adorno. Unerwartet ist jedoch eine gleichsam en passant gemachte Bemerkung der Autorin. Vom Priester, der sich seit dem zweiten Vatikanum im Gottesdienst der Gemeinde zuwendet, heißt es, daß er „hinter dem Volksaltar den Gläubigen das Mysterium der Wandlung gleichsam vorspielt, wie der Zauberer auf dem berühmten Bild von Hieronymus Bosch seinen Kugeltrick den leichtgläubigen Gaffern.“ Im stets feinsinnigen Duktus dieser Autorin ist das ein sehr polemischer Vergleich, der überraschend an die Liturgiedebatte gemahnt, die Martin Mosebach vor einigen Jahren mit seiner „Häresie der Formlosigkeit“ anstieß. Da Mosebach auch die Laudatio auf Anita Albus zur Verleihung des Merck-Preises durch die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung gehalten hat, könnte man auf die Idee kommen, hier konstituiere sich das vage Empfinden eines religious turn zur dezidiert kirchlichen Ästhetik aus dem Geist eines vormodernen Katholizismus.

Um zu verstehen, worin diese harsche Abwehr der Moderne bei Anita Albus wurzelt, ist es wichtig, eine Leerstelle in ihrer Apotheose der Kathedralen zu bemerken. Diese Leerstelle heißt Claude Monet. Von Hans Belting stammt die schöne Formulierung, Proust beschreibe die Kathedrale von Amiens mit den Worten Ruskins und in den Farben Monets. Daß sich davon bei der Schriftstellerin Albus nichts findet, daß sie mit keinem Wort die große Ausstellung von 1895 erwähnt, bei der Monet in der Pariser Galerie Durand-Ruel viele der Ölgemälde zeigte, die er von den Kirchen in Rouen und in Giverny verfertigt hatte, und die ungeheure Furore machte, hat seinen guten Grund: diese Leerstelle bezeichnet den Ort der Malerin Anita Albus.

In der „Kunst der Künste“, der so klugen wie materialreichen Spurensuche nach dem Geheimnis der niederländischen Meister, die sie einst berühmt gemacht hat, schreibt sie: „Wenn wir auf dem Nullpunkt der Malerei die Wüste verlassen wollen, in der sich das Ich seinen armseligen Delirien hingibt, dann werden wir bei einer Merian, ihren Vorläufern und Zeitgenossen anknüpfen müssen.“ Das schriftstellerische und künstlerische Werk der Anita Albus hat in der strikten Ablehnung der Moderne mit ihren „armseligen Delirien“ und der zentralen Frage, die sich daraus ergibt, ihr Thema: Was hat es mit dem Kunstschönen der Alten Meister heute noch auf sich? Worauf antwortet die Manier des siebzehnten Jahrhunderts in unserer Gegenwart? Die Dringlichkeit und die Radikalität, mit der Anita Albus diese Frage stellt, macht die Relevanz ihres Werkes aus. Das Motto, unter das sie nun ihre Proust-Lektüre stellt, bezeichnet klarer als in ihren anderen Büchern die Richtung einer Antwort. „Der ,moderne‘ Mensch“, heißt es da, „überschätzt die Kunst maßlos, weil er den Sinn für die intelligible Schönheit verloren hat, den der Neoplatonismus und das Mittelalter besaß. Sero te amavi, pulchritudo tam antiqua et tam nova, sero te amavi sagt Augustin zu Gott (Conf. X 27,38). Hier ist eine Schönheit gemeint, von der die Aesthetik nichts weiß.“

Von welcher Schönheit, von der wir heutigen Ästheten nichts mehr wissen, spricht Augustinus? Im Text, in dem sich dieses Motto findet, nämlich als Fußnote einer Stelle von „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, erläutert Ernst Robert Curtius, die Scholastik sei an der Poesie deshalb nicht interessiert gewesen, weil es ihr um eine Abgrenzung der poetischen Sprache von der Bildersprache der Bibel zu tun war. „Der Dichter“, zitiert Curtius Thomas von Aquin, „bedient sich der bildlichen Ausdrucksweise um der anschaulichen Darstellung willen. Die Heilige Schrift aber bedient sich der Bilder und Gleichnisse, weil es notwendig und nützlich ist.“ Anita Albus ist es um den Nachweis zu tun, daß Prousts literarisches Verfahren ebenso notwendig und nützlich ist wie das der Heiligen Schrift: „Kein Geschöpf, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, ist im Buch der Erfahrung von Proust ein zufälliger Gast.“ Ihr Buch ist eine Blick- und Denkschule, die unsere Vorstellungen von einer Kunst der verantwortungslosen Schönheit des Reizes zurücklenken soll auf deren Verpflichtung.

Hier liegt der strukturelle Grund für ihre vehemente Ablehnung des Impressionismus als Bezugspunkt der Recherche. „Proust“, betont sie, „hat niemals wie Manet mit breitem Pinsel alla prima gemalt, sondern seine ,Farben‘ wie Vermeer in vielen transparenten und körperhaften Schichten aufgebaut.“ Anita Albus ist davon überzeugt, die Malerei habe anders als die technischen Medien heute einst nicht die Oberfläche der Welt kopiert, sondern Schicht für Schicht nachgebaut, wofür sie in ihrer „Kunst der Künste“ das Beispiel des Schmetterlingsflügels findet, dessen leuchtende Farben sich einer Tiefenstruktur verdanken, die eine bestimmte Lichtbrechung bewirkt. Die Lasurtechnik ahmte mit ihren körperhaften, nämlich mineralischen, tierischen, pflanzlichen, metallischen Pigmenten diese Tiefenstruktur nach. Die Malerei, zitiert Anita Albus ihren Lehrmeister Claude Lévi-Strauss, bestand „nicht in der zweidimensionalen Abbildung dreidimensionaler Objekte“ sondern in der „Verwandlung dreidimensionaler Objekte in ein anderes Objekt, das ebenfalls drei Dimensionen hat: das Gemälde.“

Diese Analogie des Schöpfertums, in der sich der Mensch als Geschöpf doch dem Schöpfer anähnelt – eine Vorstellung, die sie Nicolas von Kues verdankt – begründet für Anita Albus die Erkenntnisfähigkeit und die ethische Verpflichtung der Kunst gleichermaßen. Wie ernst es ihr damit ist, daß diese auch heute nichts anderes als die Magd des Glaubens zu sein habe, sprach sie in ihrer Dankesrede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis aus: „Vom Dinglichen gelöst, ist das Imaginative das Unwirkliche schlechthin, und dieses ist ein Prädikat der Hölle.“

Das ist der Hintergrund, vor dem ihre Proust-Lektüre zur Nagelprobe wird. Die Künstlerin Anita Albus liest die Recherche, als wäre der Roman in Lasurtechnik verfertigt, und wie schon bei ihren Beschreibungen der Bilder Rogier van der Weydens heftet ihr Blick sich auf das zunächst Unscheinbare, die Blumen und Pflanzen, die ihr zum Ausgangspunkt eines Reigens von biologischem, etymologischem, kunsthistorischem Wissen werden. „Das Licht der Finsternis“ beschäftigt sich mit ein- und zweihäusigen Pflanzen, mit der legenda aurea, kirchlichen Feiertagen, dem Linne‘schen System, Bonniers illustrierter Ausgabe der „Flore de France“, Weisheiten des Volksaberglaubens, griechische Sagen, und mit Spargel, dessen französischer Name asperges an den Beginn der Austeilung des Weihwassers am Anfang der lateinischen Messe gemahnt – asperges me, domine, hysopo, et mundabar -, was wiederum auf Ysop verweist, eine seit Alters her bei Asthma geschätzte Heilpflanze, und damit auf den Asthmatiker Proust. Es geht um den Duft des Weißdorns nach Urin und Weihrauch, um die Scharlachkastanie und um den Fliederbusch, der in einem frühen Entwurf der Romans vor dem Fenster jenes Örtchens steht, in dem der junge Marcel zuerst die Freuden der Onanie kennenlernt – und die Trauer. Mutet ihn doch „die natürliche silbrige Spur, die er auf dem Blatt hinterlassen hat, (…) wie die einer Schnecke an oder wie die Marienfäden einer Spinne.“

Die Gelehrsamkeit der Albus ist stupend und ihre Neugier kennt keinen Dünkel, ja es macht geradezu den Reiz ihres Denkens aus, daß sich etwas Dienendes darin ausspricht, wie die Autorin den Filiationen der Motive nachspürt, wobei ihre wenig überraschende Analyse von Prousts Verfahren angesichts der Fülle ihrer Funde fast gleichgültig ist. Schon Curtius fand am Proust‘schen Perspektivismus ungemein modern, daß der Roman nicht alles in einem impressionistischen Dunst des Ephemeren entwerte, sondern ganz im Gegenteil seine unzähligen Perspektiven der Welt als Valenzen von Wahrheit hinzufüge. Und Deleuze hat betont, bei Proust seien essence und différence identisch, was als Logik beschreibt, worin die Albus‘sche Hoffnung besteht: Im Netz der Analogien möge sich die Welt in ihrer ureigensten, unsichtbaren Komplexität verfangen. Und sich damit die verborgene Einheit der Schöpfung offenbaren: als Gesetz. „Endlich finde ich einen Leser, der errät, daß mein Buch ein dogmatisches Werk ist und eine Konstruktion“, zitiert sie Proust, als zitiere sie einen Brief an sich selbst, seine Auslegekünstlerin.

Und doch: In dieser Apotheose einer Kunst, in der Lobpreis der Schöpfung und ihre Erkenntnis – wieder – keine Gegensätze mehr sein sollen, hat etwas Entscheidendes keinen Raum. Ihre Antwort auf die Aporien der Moderne antwortet nicht auf die Gründungsfragen jener Moderne, gegen die sie sich wendet. Ob denn dem Mensch nicht das Recht zustünde, die Welt schlecht eingerichtet zu finden. Auf dem Unrecht seines Leids zu bestehen. Und auf der Möglichkeit, sein Schicksal zu ändern. Diese Fragen, die die Kunst einst von der Religion entfremdete, werden wie in jedem große Werk der Moderne auch in Marcel Prousts Roman laut; wenn man sie hören will. Adorno hat einmal darauf hingewiesen, Prousts Vater, Chef des französischen Hygienewesens, habe den Begriff des cordon sanitaire geprägt. Bei aller Bewunderung für die Klugheit ihrer Lektüre verläßt einen doch die Empfindung nicht, als stellte Anita Albus das Werk des Sohnes unter die Quarantäne jener, denen die eigene Gesundheit schon immer näher war als die Krankheit der anderen.

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Kunst & Leben: Gespräch mit Herlinde Koelbl.

  Literaturhaus Frankfurt. Hessischer Rundfunk, 20.1.2011.
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Kunst & Leben: Gespräch mit Hans Jürgen Syberberg.

  Literaturhaus Frankfurt. Hessischer Rundfunk, 21.10.2010.
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Die Ohrfeige ist Ausdruck der Verzweiflung.

  Gespräch mit Daniel Haas, 3.9.2010.

Spiegel Online: „Die ‘Frankfurter Allgemeine Zeitung’ schrieb, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Grundsatzurteil, in dem es das Sorgerecht unverheirateter Väter stärkte, ihrem neuen Buch ‘Die Liebe der Väter’ ungeahnte Aktualität verliehen. Die ‘Süddeutsche Zeitung’ meinte, das Urteil habe Ihren Roman überflüssig gemacht. Was gilt denn nun?”

T.H.: „‘Die Liebe der Väter’ ist kein Pamphlet, das man weglegt, wenn es nicht mehr dem Stand der Debatte entspricht, sondern ein Roman, der von Menschen erzählt. Die Erfahrung, die mein Held macht – die des Vaters, der kein Sorgerecht hat -, ist eine von Versagen und Ohnmacht, und insofern zeitlos gültig. Überraschend war für mich bei der Recherche aber, wie sehr sich die Geschichten lediger Väter gleichen, weil die Rechtslage ähnliche Schicksale hervorgebracht hat. Und insofern ist das Schicksal meines Helden auch wiederum mehr als ein einzelnes.”

Spiegel Online: „Im Roman ist an einer Stelle vom ‘Krüppelblick der verlassenen Väter’ die Rede. Wer verkrüppelt da wen und wie?”

T.H.: „Getrennt lebende Väter erzählen immer wieder von dem Misstrauen, mit dem man ihnen begegnet. Das fängt mit den Müttern auf den Spielplätzen an, betrifft Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen und die Jugendämter. Es gibt einen recht beherrschenden Müttertalk, bei dem man als Vater immer außen vor ist. Man spürt das Vorurteil, man habe die Familie im Stich gelassen. Dieser Verdacht verkrüppelt, schlägt sich nieder als Gefühl von Minderwertigkeit.”

Spiegel Online: „‘Man wird die Schuld nicht los, soviel man davon auch auf sich nimmt’, sagt die männliche Hauptfigur über die kaputte Beziehung und das eigene Fehlen in der Familie. Geht es denn darum: Schuld los zu werden?”

T.H.: „Nein, natürlich nicht. Aber die Frage, die das Kind in meinem Roman seinem Vater immer wieder stellt: ‘Wann vertragt ihr euch wieder?’, hat etwas unausweichliches. Man kann das Leben als getrenntes Paar noch so gut einrichten – dieser Wunsch, dieser Schmerz des Kindes vergeht nicht. Und dieser Schmerz des Kindes ist die Schuld, der man nie mehr entkommt.”

Spiegel Online: „Am Ende sagt der Erzähler zur Tochter: ‘Du warst mir irgendwann nicht so wichtig wie ich mir selbst. Das ist die Schuld.’ Es gibt nun aber ganze therapeutische Schulen, die sagen: Das ist Integrität. Sich erst mal ehrlich um die eigenen Bedürfnisse kümmern und versuchen, glücklich zu werden.”

T.H.: „Vielleicht gibt es da ja einen unaufhebbaren Widerspruch? Vielleicht geht es Kindern ja gar nicht primär darum, dass ihre Eltern ihr Leben erfüllt leben. Zumal, wenn diese Erfüllung die Trennung bedeutet.”

Spiegel Online: „Sie würden den von Streit und Konflikten belasteten Paaren also zurufen: Reißt euch mal am Riemen?”

T.H.: „Das ist sicher keine Lösung. Aber auch wenn wir in unseren Lebensentwürfen nicht wissen, was wir tun sollen, wenn ein vitales Bedürfnis des Kindes möglicherweise konträr zu unseren Vorstellungen von Verwirklichung steht, ändert das ja nichts an der Analyse. Mit geht es auch gar nicht um Antworten. Ich wollte mit ‘Die Liebe der Väter’ den Vater-Erfahrungen von Versagen und Ohnmacht einen Ausdruck geben, weil ich den Eindruck habe, dass diese Erfahrungen bisher keinen Raum hatten.”

Spiegel Online: „‘Man sieht den Söhnen und Töchtern an, dass sie wissen, sie werden niemals mehr erreichen, wofür sie doch vorgesehen waren’, schreiben Sie einmal über die Generation der Hauptfigur. Was waren das für Pläne?”

T.H.: „Die Geschichte spielt ja auf Sylt, und Sylt ist ein wunderbarer Mikrokosmos, weil dort die westdeutschen Eliten über Jahrzehnte hinweg in Kontakt miteinander standen. Zugleich ist es heute ein ungeheuer spießiger Ort. Diese Träume der gehobenen Mittelschicht von Reichtum, die man dort ausgeführt sieht im Lifestyle, in den Restaurants und Hotels, sind heute auf eine seltsame Weise passé. Ich hatte den Eindruck, als sähe man den dortigen Söhnen und Töchtern die Zukunftsangst deutlich an. Und das gehört, wie ich finde, zu einem Roman über einen Vater dazu, der in den Sechzigern geboren und groß wurde mit dem Vertrauen auf staatliche Systeme. Denn unser Nachdenken über Familie geschieht ja heute unter einem äußeren, ökonomischen Druck, es sind ja nicht zuletzt unsere Konzepte von Selbstverwirklichung, die an Grenzen stoßen.”

Spiegel Online: „Ein Kritiker sprach mit Blick auf die im Buch dargestellten Familien vom ‘dusseligen Dreingequatsche’, das in der ‘verquatschten Mittelstandsgesellschaft’ allgegenwärtig sei. Wie entkommt man denn dem Malstrom des Geredes? Mit Ohrfeigen, wie sie der Vater in Ihrem Buch der Tochter verpasst, ja wohl nicht.”

T.H.: „Ich habe den Eindruck, dass es, wenn Familien zusammen kommen, eigentlich immer darum geht, sich gegenseitig seine Modelle zu erzählen, um sie bestätigt zu bekommen. Familie ist für uns heute etwas so Unsicheres, Fragliches, dass sie immer wieder neu hergestellt werden muss. Für den ledigen Vater meines Romans, der in diesen Gesprächen keine Gelingensgeschichte beisteuern kann und eigentlich den Mund halten müsste, ist das furchtbar. Das ist Raum, in dem die Geschichte sich entwickelt. Die Ohrfeige ist keine Antwort, sie ist der Ausdruck der Verzweiflung.”

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Die Liebe der Väter.

  Trailer 2010.
Die Liebe der Väter / Trailer. Produktion: Neue Gestaltung, Berlin 2010.
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Die Liebe der Väter.

  Lesung 2010.
Die Liebe der Väter. Lesung 10 Seiten.
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Die Liebe der Väter.

  Studio LCB. Aus dem Literarischen Colloquium Berlin. Mit Jana Hensel und Ingo Schulze. Moderation Denis Scheck. 28.8.2010.
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07/2010.

  Photo Thomas Andenmatten.
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Die Liebe der Väter.

  Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.

In Hörnum, ganz im Süden der Insel, liegt das Haus wiederum an südlichster Stelle, auf der Düne und direkt neben dem Leuchtturm. Der hohe weiße Kachelofen fällt mir als erstes auf, als ich ausgepackt habe und zum Abendessen ins Wohnzimmer komme, ein runder klassizistischer Zylinder aus glänzendem Weiß, der bis unter die Decke reicht. Vor der Fensterfront im Erker ein breites Ecksofa, sicher italienisch, bezogen mit hellgrauem Rupfen, auf der Glasplatte des Couchtisches eine flache Schale aus dunklem poliertem Holz, drei hell gesprenkelte Möweneier darin. Eine Holzmöwe im Fenster am Eßtisch. Ich merke, daß ich aufgeregt bin. Achim ist dabei, für das Abendessen einzudecken; Sommersprossen und rote Haare auf den Unterarmen, der Kragen des grünen Lacoste-Shirts aufgestellt. Ich weiß: Susanne hat ihn in der Klinik in Freiburg kennengelernt, in der er seine Facharztausbildung absolvierte. Der Anfang sei schwierig gewesen, erzählte sie ziemlich bald, als wir uns neulich auf der Abifeier überraschend wiedertrafen, eigentlich hätten sie immerzu gestritten. Das habe sich aber gelegt, als die Kinder gekommen seien. Orthopäde mit eigener Praxis, etwas älter als sie und ich.

Wie war die Fahrt? fragt er.

Gut, sage ich. Annika braucht noch einen Moment.

Zwischen der Tür zur Terrasse und dem Durchgang zur Küche als stilechte Weihnachtdekoration ein Jöölboom. Achim bemerkt meinen Blick.

Irgend eine Ahnung, was das sein soll?

Ein Jöölboom. Die Sylter Variante des Weihnachtsbaums. Es gab ja früher keine Bäume auf der Insel, also nahm man einen Besenstiel und behängte ihn mit grünen Zweigen und diesen Salzteigfiguren.

Das ist ein Pferd.

Pferd, Hund und Hahn, ja. Kraft, Treue, Wachsamkeit. Und da unten am Sockel stehen Adam und Eva mit der Schlange.

Jetzt erst entdecke ich Susanne in der Küche. Sie ist dabei, irgend etwas kleinzuschneiden und begrüßt mich, ohne sich umzusehen oder auch nur für einen Moment das rasante Klacken des Messers zu unterbrechen: Schön, daß du da bist!

Ja. Ich nicke. Weiß nicht, was ich mir erhofft habe.

Als sie sich endlich umdreht und wir uns umarmen, ist es fast selbstverständlich, und ich erinnere mich wieder daran und spüre es zugleich: Wie klein sie ist, umfaßt beinah mit einer Hand, und wie sie sich biegt in meinem Griff. Das Haar kurz jetzt und rot, die Haut um die Augen weich, unverändert aber der Blick, den ich nicht beschreiben könnte. Ihre Lippen leuchten durch vom Damals ins Jetzt. Was soll das? frage ich mich im selben Moment und versuche umsonst zu verstehen, was ich empfinde.

Das ist ein ganz wunderbares Haus, das du hier entdeckt hast.

Sie nickt. Beim Essen sitzt sie neben mir. Legt irgendwann ihren Arm um mich. Sofort registriere ich erst Achims Blick, dann den von Annika, absurd, wie sehr sie sich ähneln. Wir haben von der Abifeier erzählt und wie wir plötzlich die Idee hatten, zusammen Silvester zu verbringen, und bei irgendeiner alten Geschichte aus unserer Schulzeit in Münster müssen wir beide plötzlich loslachen, und wie Teenager steigern wir uns in das Lachen hinein, bis es uns gar nicht mehr gelingen will aufzuhören.

Papa? Annika fragt in einem Tonfall, der Susanne ihren Arm sofort wegziehen und unser Lachen verstummen läßt. Was machen wir, wenn heute eine Sturmflut kommt?

Die zehnjährige Kekke, die Annika von dem Moment an, als wir das Haus betreten haben, nicht mehr von der Seite gewichen ist, sieht die Ältere neben sich überrascht an. Auch Tim, ihr kleiner Bruder, der im Frühjahr neun wird, findet zum ersten Mal etwas wichtiger als seine Pommes mit Ketchup. Zwischen Tellern, Besteck und Servietten, Wasser- und Weißweingläsern, den Flaschen, der Platte für den Fisch und der Schüssel mit dem Gemüse: der giftgrüne Plastikbecher des Jungen und Kekkes rosa Wendy-Pferd mit dem wasserstoffblonden Schweif und der gelockten Mähne, die dem Tier bis zu den Hufen reicht. Im Fenster die Möwe aus Holz, draußen vor dem Fenster und rund um das Haus, in dem wir die nächsten zwei Wochen verbringen werden, die Nacht.

Annika beachtet die Kinder nicht. Ihr Blick ist ganz auf mich gerichtet. Letztes Jahr im Winter hat ein Orkan fünfzig Meter Land weggespült. Ich hab gelesen, das Meer nagt schon am Fundament der Insel.

Was ist ein Fundament? Tim sieht sich hilfesuchend nach seinem Vater um.

Am allerallermeisten, fährt sie fort, ist das Kliff bei Kampen bedroht und hier das Südende, wo wir gerade sind. Wenn wieder eine Sturmflut kommt, kann die Insel hier sogar überspült werden. Dann ertrinken wir alle.

Papa! Tim hält seine Gabel mit einem aufgespießten Pommes Frites so verkrampft fest, daß sie zittert. Er will jetzt eine Antwort. Achim lächelt mich gequält an. Susanne zieht Kekke, die mit offenem Mund zuhört, auf ihren Schoß.

Annika, was soll das? frage ich.

Es gibt vier nordfriesische Inseln. Als säße nur ich mit ihr am Tisch, zählt sie eifrig auf: Sylt, Föhr, Amrum und Pellworm. Dann gibt es noch Nordstrand und zehn Halligen. Forscher sagen, die Sturmwasserstände werden um bis zu vierzig Zentimeter steigen. Und dann muß man noch den Anstieg des Meeresspiegels durch die globale Erwärmung berücksichtigen.

Das hab ich auch gelesen. Das ist aber eine Prognose für das Ende des Jahrhunderts.

Na und. Es gibt auch jetzt schon mehr Stürme.

Tim läßt die Gabel mit der aufgespießten Pommes langsam sinken und beginnt genauso langsam zu weinen. Ein weiches, rundes Gesicht, daß sich in Zeitlupe verzerrt.

Was soll das? entgegne ich gereizt. Merkst du denn nicht, daß du Tim Angst machst?

Einen Moment lang sagt niemand etwas am Tisch und Tims Weinen wird leiser. Doch dann kommt Annikas Blick wieder hoch, und ohne die andern zu beachten stößt sie, mich starr fixierend, hervor: Und wenn es heute Nacht geschieht? Und wenn wir alle sterben?

Und wenn wir alle sterben? echot es in mir. Das Meer ist voller Toter. Und plötzlich erinnere ich mich: Als ich so alt war wie Annika, hat mich nichts mehr interessiert als deren Geschichte.

Die Küste hier, sage ich leise, hat sich immer verändert. Inseln wurden immer vom Blanken Hans ins Meer gespült, neue entstanden. Bei der Groten Mandränke, als im Mittelalter Rungholt unterging, starben Zehntausende. Ihre Kadaver trieben hier in der See, den Möwen zum Fraß, die auf ihnen landeten, als der Sturm vorüber war, und als erstes die Augen auspickten.

Peter!

Susannes Stimme klingt empört, doch ist mir das jetzt nicht wichtig. Die Flut von 1717, erzähle ich weiter, gilt als größte Naturkatastrophe der Neuzeit in Mitteleuropa. Oder der Sturm im Januar 76. Niemals gab es an der Elbe höhere Pegelstände. Überall liegen Dörfer unter Wasser, die Stümpfe von Kirchen, verlorene Wiesen und Weiden. Weißt du das denn nicht? Und immer gibt es die Sage von den versunkenen Glocken, die an besonderen Tagen läuten, zum Glück oder zum Unglück derer, die sie hören.

Peter! Jetzt hör aber auf!

Annika nickt. Das ist die wilde Jagd, flüstert sie.

Die wilde Jagd? Bevor ich fragen kann, was sie damit meint, springt Susanne auf und drückt ihrem Mann den greinenden Tim in die Arme, um dessen Hals sich bereits Kekke klammert, und so murmele ich stattdessen eine Entschuldigung, doch da ist Achim mit den Kindern schon hinaus. Schweigend beginnt Susanne, das Geschirr in die Küche zu bringen. Wir beide sitzen eine Weile einfach dabei, bis sie Annika bittet, ihr doch beim Abwasch zu helfen. Ich schenke mir Wein nach und sehe den beiden zu, als wären sie meine Familie.

Du kennst dich ja gut aus mit dem Meer, höre ich Susanne irgendwann sagen.

Ja, antwortet Annika. Ich komme schließlich von der Ostsee.

Und woher?

Aus Lassan.

Und? Ist es da schön?

Ich sehe, wie sich ihre Finger zögernd in dem Lederbändchen verhaken, das sie am linken Handgelenk trägt. Wie sie dann nickt.

Und Hamburg? fragt Susanne.

Geht so.

Annika bleibt noch eine Weile einfach neben Susanne stehen und sieht ihr zu, all der Zorn verschwunden, mit dem sie eben erst Tim und Kekke verschreckt und vertrieben hat, und schließlich trottet sie wieder herüber zu mir. Lassan. Vielleicht ist das unaufhebbare Mißverhältnis zwischen Annika und mir darin begründet, daß ihr dieses Wort die ganze Kindheit bedeutet, während es für mich immer nur den Klang einer Episode hat. Aber gilt das nicht für jedes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern? Also wäre ich in diesem Punkt überhaupt nicht schuldig? Die, die eben noch so erwachsen schien, steht jetzt wie ein Kind vor mir und drückt ihren Bauch gegen meine Schulter.

Woher weißt du das alles mit Sylt? fragt sie. Ihre Stimme so traurig.

Weil ich oft hier war, antworte ich so leise, daß Susanne uns nicht verstehen kann. In deinem Alter oft die ganzen Sommerferien.

Das wußte ich nicht.

Meine Mutter hat hier gearbeitet.

Oma?

Ja.

Warum hast du mir davon nie erzählt, Papa?

Ja, warum? Natürlich gibt es keinen Grund, meine Kindheit vor ihr zu verbergen. Wohl aber vor ihrer Mutter und vor ihrer Mutter in ihr. Oft schien es mir verrückterweise in den letzten Jahren so, als richte sich tatsächlich durch Annikas Blick unsichtbar jener andere auf mich. Doch das kann ich ihr nicht sagen. Lieber probiere ich eine meiner Lügen.

Du fragst mich ja nie etwas.

Wie eine Nacktschnecke, die man mit einem angespitzten Hölzchen pickst, zieht ihr Blick sich zusammen und zurück. Im selben Moment tut sie mir unendlich leid. Am schlimmsten sind diese klappernden Spiele der Verletzung. Wie gern würde ich sie jetzt umarmen.

Wir haben ganz vergessen, deine Weihnachtsgeschenke auszupacken, sage ich stattdessen.

Die gibt es dann morgen.

Als ob es an ihr wäre, mich zu trösten.

Volltext / 9.10.2010

Das Versagen der Mütter.

Thomas Hettche hat einen forciert gegenwärtigen Roman mit ausbalanciert schönen Sätzen geschrieben.

Von Klaus Siblewski.

 

Ich kann es nicht anders sagen: Thomas Hettches neues Buch Die Liebe der Väter macht mich auf eine spezielle Weise nervös. Kaum hatte ich die ersten Seiten gelesen und den nostalgischen Verlagsvertreter, die Hauptfigur des Romans, und dessen Tochter Annika auf ihrer Fahrt nach Sylt – sie wollen dort zusammen mit anderen den Jahreswechsel verbringen – näher kennengelernt, dachte ich: Dieser Mann verhält sich merkwürdig. An Hettches Art zu erzählen liegt das nicht, Hettche kann präzise aufgebaute kleine Szenen schreiben, jede von ihnen ein kleines Miniaturkunstwerk. Manche dieser Szenen verursachen in ihrer Genauigkeit sogar ein spürbares Ziehen in den Gliedern. Sie lassen sich regelrecht körperlich lesen. Dennoch wollte sich der Wunsch nicht legen, die eigene Sicht auf die Dinge ins Spiel zu bringen – er wurde von Seite zu Seite spürbar stärker.

Ich will gleich hinzufügen, dass Thomas Hettche kein Sachbuch über geschiedene Väter und deren Töchter geschrieben hat. Das ist auch schon eine merkwürdige Feststellung, denn auf dem Umschlag des Buchs ist bereits deutlich „Roman“ als Genrebezeichnung vermerkt. Dennoch drängt es mich, das Verhalten von Hettches Handelsvertreter zu kommentieren, als hätte Hettche einen dezidierten Beitrag zum Thema Väter geschrieben. Über einen Roman denke ich sonst auf andere Weise nach.

An Hettches Vater stört mich, dass er sich nur selten wie ein Vater verhält und ich ihm dringend mehr Mut wünschte, endlich wie ein Vater aufzutreten. Auf die Rechtslage, die dadurch geschaffen wurde, dass Annikas Mutter das Sorgerecht übertragen bekam, kann er sich dabei nicht herausreden. Er weigert sich nämlich untergründig, der Vater seiner Tochter zu sein, und dieses Verhalten hat mit ihm und nichts mit der tatsächlich katastrophalen Lage zu tun, in der sich Väter befinden, denen das Sorgerecht für ihre Kinder nicht zuerkannt wurde.

Um das weiter zu vertiefen, möchte ich an ein Buch erinnern, an Alexander Mitscherlichs Schrift Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Anscheinend sind wir in dieser Richtung einige kräftige Schritte vorangekommen – das legt die Lektüre von Hettches Roman wenigstens nahe. Nur einen Satz möchte ich aus Mitscherlichs Buch zitieren: „Die auffallende Unzulänglichkeit vieler Jugendlicher, ihre provokatorischen Allüren, ihre Indifferenz für alles, was den Älteren wertvoll war, ihr Leiden unter einer Einsamkeit, die sie in hektischem Erlebnishunger zu übertönen suchen, kurz, der schwere und lange Verlauf der Adoleszenzkrise geht dann als psychopathologisches Phänomen auf das Konto der Jugendlichen.“ Zugegeben: Hier spricht ein Arzt, und diesem Zitat sind die frühen 1960er-Jahre anzumerken, die Zeit, in der es publiziert wurde. Aber wenn von Einsamkeit und hektischem Erlebnishunger die Rede ist und Hettche alleine davon erzählt, wie süchtig seine Tochter ihr iPhone bearbeitet, dann trifft dieses Zitat doch ein gutes Stück von Annikas Lebensrealität.

Was aber hat „dieser hektische Erlebnishunger“ mit ihrem Vater zu tun? Viel! Er sucht selten eine Auseinandersetzung mit seiner Tochter. Er verlegt sich mehr aufs Beobachten, Registrieren und hat offenbar eine untergründige Angst, eine lebendige Beziehung zu seiner Tochter zu suchen – vor allem dann, wenn sich ein Konflikt abzeichnet, den andere vielleicht sogar noch mitbekommen. Als Gegenüber fällt dieser Mann häufig aus.

Die Befürchtungen dieses Handelsvertreters schlagen uns gleich auf den ersten Seiten entgegen. Annika begehrt gleich am ersten Abend gegen die erzwungene Freundlichkeit zwischen den Erwachsenen, die sich in dem Sylter Ferienhaus versammelt haben, auf – eine Reaktion, die gut zu verstehen ist. Sie überlegt laut, was geschehen würde, wenn ein Sturm aufkäme und das Stück der Insel mit sich reißen würde, auf dem das Ferienhaus steht. Sie versucht ein Verhältnis zu ihrer Angst zu finden, die durch die Ankunft in dem neuen Haus, durch die ihr unbekannten, beziehungsweise in dieser Zusammensetzung unvertrauten Erwachsenen ausgelöst wird und provoziert. Und wie reagiert Hettches Vater darauf: Erst maßregelt er Annika. Sie soll die anderen Kinder am Tisch nicht erschrecken. Später beim Zubettbringen erzählt er ihr dann, ihn hätten, als er in ihrem Alter war, die Toten besonders beschäftigt, die das Meer an sich gerissen hätte, verschwundene Matrosen, Inselbewohner und so weiter … Will er ihr damit sagen, dass sie nur von ihren Ängsten sprechen soll, wenn sie alleine mit ihm ist? Und was dann?

An dieser Stelle ist für mich das Grundproblem dieser Figur umrissen: Dieser Mann kennt die Lebensängste seiner Tochter, aber er kommt nicht auf die Idee, eine sehr väterliche Idee, beschwichtigend auf diese Ängste einzugehen. Er könnte ja darüber nachdenken, ob die von Annika beschworenen Gefahren tatsächlich in dem Ausmaß bestehen, die das Kind suggerieren möchte. Wenn er beispielsweise nur sagen würde, manchmal fühle er sich, wenn er in eine neue Stadt komme, auch aufgewühlt, dann könnte ein Gespräch über Angst stattfinden und der Vater wäre in der Lage, seiner Tochter die wichtige Erfahrung mitzuteilen, dass viele Ängste hemmungslos übertrieben sind. Anders gesagt: Dass die äußere Realität längst nicht so gefährlich ist, wie sie demjenigen, der unter Ängsten leidet, vorkommt.

Aber genau das tut Hettches Handelsvertreter nicht. Er kommt selber von seinen Ängsten nicht los. Eine beeindruckende Szene ebenfalls gleich am Anfang des Romans zeigt, welche tief verborgenen Beunruhigungen ihn umtreiben. Er liegt auf seinem Bett in der neuen Unterkunft und ertastet mit den Fingern die Unebenheiten im Muster der Decke. Die Widerstände im flauschigen Material lassen ihn kurz froh werden, und wenn er über glatte Partien fährt, empfindet er diese Berührungen auch als wohltuend. Er sucht nach Halt, nach sich wiederholenden Verläufen, möchte Verlässlichem begegnen. Diese Sorte Nähe darf ruhig erdrückend, verschlingend und selbst todbringend sein. Als er am nächsten Tag nach seiner kleinen Tastorgie am Meer spazieren geht, befriedigt es ihn, wenn er mit seinen Schuhen im feuchten Sand versinkt. Er möchte umschlungen werden, und man müsste schon stumpf sein, wenn man bei Meer und dem ganzen Erlebnisumfeld, das Hettche schafft, nicht an die große Mutter denken würde, die für das Wohl ihres Kindes sorgt, eine Mutter, der sich Hettches Handlungsreisender gerne überlassen würde. Soll sie sich doch um sein inneres Gleichgewicht kümmern – wenn er nur so schwer dafür sorgen kann.

An diesem Punkt läge es nahe, von der Schuld der Mütter zu sprechen, die ihre Söhne nicht trösten konnten und mit Surrogaten wie Essen, später technischen Gegenständen, heute wären das iPhones etc. besänftigen wollten, und es diesen Männern schwer machten, zu Vätern zu werden, weil sie selber noch nach Trost suchen … aber weiter will ich es in dieser Richtung nicht treiben. Allerdings möchte ich noch hinzufügen, dass Hettche einer solchen Lesart ästhetisch in gewisser Weise Vorschub leistet. Er strebt in seinem Roman eine forcierte Gegenwärtigkeit an. Mit Sätze wie: „Das Gesetz, erklärte ich, erkennt das Sorgerecht eines nichtehelichen Kindes grundsätzlich allein der Mutter zu (…), das hat das Bundesverfassungsgericht 2003 noch einmal bestätigt“ – öffnet er seinen Roman für das, was heute geschieht. Und das tut er nicht nur, wenn vom Machtgefälle zwischen Müttern und Vätern die Rede ist. Auch bei Annika stellt er die Verankerung dieser Figur in der Aktualität regelrecht zur Schau. Vom iPhone bis zur angesagtesten Rockband in der ersten Hälfte des Jahres 2010 (in einem Jahr wird diese Band vermutlich niemand mehr kennen) baut er die Lebenswelt einer Pubertierenden bestens recherchiert nach – und begünstigt damit die Reaktion, dass man sich mit seinem Roman wie mit einem sehr langen Artikel in der Wochenend-Ausgabe einer Tageszeitung beschäftigt, als einer gut erzählten Stellungnahme zu einem gegenwärtig diskutierten oder zu diskutierenden Thema, auf die man mit seinen eigenen Ansichten und Einsichten antwortet.

Tatsächlich beginnt für mich der Roman an einer viel verschwiegeneren Stelle und entfaltet von dort aus seine außerordentlichen Qualitäten. Wenn beispielsweise Hettches Handelsvertreter in der Nacht aus dem Fenster schaut und er im Dunklen schemenhafte Gestalten zu erkennen glaubt, verliert das Geschilderte seine Eindeutigkeit, und wird rätselhafter und beschwört tatsächlich Gefahren herauf, die sich nur schwierig entschärfen lassen. Unheimliche Horizonte öffnen sich dann, unklare Verhältnisse beginnen sich abzuzeichnen, und das wiederum hat zur Folge, dass die Figuren in seinem Roman komplexer, reicher und schillernder werden. Szenen von dieser Qualität sind ebenfalls bereits früh in dem Roman zu finden und im Schildern solcher verwirrender Ereignisse zeigt sich Hettches enorme Sprachsensibilität. Er kann geschliffene Sätze bauen und nicht nur das: Seine Sätze halten kluge Balance zwischen kurzem Schrecken und rascher Beruhigung. Alleine um diese kleinen sprachlichen Schockerlebnisse mitzubekommen, ist die Lektüre von Hettches Roman zu empfehlen.

Und auch im Beobachten ist Thomas Hettche ein Meister. Er hat einen präzisen Blick für irritierende Details, kleine oder größere Brüche im Verhalten von Menschen. Beinahe instinktiv nimmt er diese Verwerfungen wahr. Etwas erinnert Hettche dabei an den Handelsvertreter, der auf dem Bett mit den Fingerkuppen die Decke abtastet und sich seinem Empfinden überlässt. Bis in die winzigsten Empfindungswindungen vermag Hettche seine Figuren abzutasten und dabei herauszufinden, was sie beunruhigt und was sie erfreut. Das ist eine wirkliche Gabe, die Thomas Hettche besitzt, und wenn man sich von Meinungsverschiedenheiten im Inhaltlichen nicht weiter irritieren und auf diese Seite des Romans einlassen kann, dann verspricht Hettches Buch einen weiteren großen Genuss: die Begegnung mit einem Autor, der einen Blick für das Lebensvereitelnde hat.

Volltext


Tagesspiegel / 18.08.2010

Papi ist geduldig.

Jenseits des Sorgerechts: Thomas Hettche beschwört in seinem heute erscheinenden Roman die „Liebe der Väter“.

Von Gerrit Bartels.

 

Als vor über vier Monaten die Leseexemplare von Thomas Hettches Roman „Die Liebe der Väter“ an Rezensenten und Buchhändler verschickt wurden, geschah das zusammen mit einer begeistert-vollmundigen Ankündigung des Verlegers, dieser Roman werde für sehr viel Aufsehen sorgen, werde gar eines der meistdiskutierten Bücher des Herbstes sein. Das nahm man als betriebstypische Werbung zur Kenntnis. Aber es bekam eine völlig neue Wendung, als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor zwei Wochen entschied, ledigen Vätern ein Sorgerecht für ihre Kinder auf Antrag auch dann zuzugestehen, wenn sich die jeweiligen Mütter dagegen sträuben.

Der Held von Hettches Roman ist ein lediger Vater, Peter, ein Verlagsvertreter um die vierzig, der mit seiner knapp 14-jährigen Tochter Annika ein paar Tage auf Sylt verbringt, um hier bei Freunden Silvester zu feiern.

Bei ihnen beklagt er sich über die „reine Willkür“ des Staates in Sachen Sorgerecht: „Das Gesetz“, weiß er „erkennt das Sorgerecht eines nicht ehelichen Kindes grundsätzlich der Mutter zu. Der Vater kann es gegen ihren Willen nicht bekommen, das hat das Bundesverfassungsgericht 2003 noch einmal bestätigt. Damit aber wird ein Machtverhältnis zwischen den Eltern geschaffen. Du kannst dir die Hilflosigkeit der Väter nicht vorstellen. Und auch in der Wahrnehmung der anderen ist man immer im Unrecht.“

War Thomas Hettche schon Wochen vor der Veröffentlichung seines Romans dafür gefeiert worden, dass er sich eines brisanten gesellschaftlichen Themas (Patchworkfamilien!) annehme, dass er mit seinem Buch die Literatur wieder an die Lebenswirklichkeit anschließe, wie die „FAZ“ wirklichkeitsbesoffen und um die nicht ehelichen Kinder und ihre Eltern besorgt analysierte, so bekam er kürzlich von anderer Seite eine gehörige Abreibung erteilt. Sein Buch sei nach dem Urteil des Verfassungsgerichts „bei Erscheinen bereits Makulatur“, stellte die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Besprechung fest.

Hettches gestern für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman sorgt also tatsächlich für Aufsehen, wohl anders als von Thomas Hettche und seinem Verlag gedacht, ziele er doch vermeintlich ausschließlich und direkt auf die „Lebenswirklichkeit“ und wird von dieser, ätschibätsch, schon wieder überholt. Das Problem dieser Lesarten ist nur, dass sie „Die Liebe der Väter“ damit jegliche Literarizität absprechen. So als hätte Thomas Hettche keinerlei ästhetische Anstrengungen unternommen, als würde seine Literatur sich nicht in ihr eigenes Recht setzen können. Und als gäbe es in dem Roman wirklich nur das Thema Sorgerecht, sonst aber nichts. Dem ist nicht so. Denn die Liebe der Väter beschränkt sich ja nicht nur auf ledige Väter, die kein Sorgerecht haben (und das jetzt beantragen können), sondern sie ist etwas Universelles, und das scheint bei Hettche durchaus mit durch. Wenn sein Held zum Beispiel sagt: „Ich glaube, die Liebe der Väter entsteht, wenn sie zum ersten Mal in ihnen diese ganz voraussetzungslose Fülle spüren, die wir alle in uns tragen.“ Oder wenn dieser Peter die Veränderungen an seiner Tochter beobachtet, die deren Erwachsenwerden mit sich bringen, die Fremdheit, die dadurch entsteht. Oder sich Sorgen macht, die ihrem Alter nicht mehr angemessen scheinen.

Zumal ein Sorgerechtsurteil wie das aktuelle aus Karlsruhe aus Trennungskindern nicht plötzlich Glückskinder macht und Väter (wie auch Mütter) nicht befreit von Schuldgefühlen ihren Kindern gegenüber: „Man wird die Schuld nicht los, soviel man davon auch auf sich nimmt“, sagt der Held und Ich-Erzähler einmal. Und am Ende gesteht er ihr: „Du warst mir irgendwann nicht so wichtig wie ich mir selbst. Das ist die Schuld, Annika, die ich seitdem mit mir herumtrage. Aber ich weiß nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich weiß nur: Ich hab dich immer geliebt.“

Die Liebe der Väter, die Schuld, die sie mit sich herumtragen, weil sie bei aller spontanen Liebesfülle trotzdem Egoisten sein können, Egoisten, die durch ihre Kinder nur allzu oft die gescheiterte Beziehung schimmern sehen. All das behandelt dieser Roman, in dem vor dem Hintergrund des verweigerten Sorgerechts die Perspektive auf die Mutter Annikas, Ines, eine naturgemäß beschränkte ist. Ines wird tendenziell als böse und fahrlässig geschildert, als Rabenmutter, und Peter sieht sich nur zu gern als Opfer, von Ines, der bis dato geltenden Gesetzsprechung, später auch der Zeitläufte. Wer aber nur einmal einen Rosenkrieg verfolgt hat, weiß, wie schwarz-weiß es dabei zugeht, wie wenig Verständnis füreinander übrig bleibt.

Warum sollte Thomas Hettche auch noch die Perspektive der alleinerziehenden Mutter einnehmen? So viel Mutter- und Frauenverstehertum muss nicht sein. Also darf Peter der Kindsmutter, die er nur kurze Augenblicke geliebt hat, seinerseits Egoismus vorwerfen, weil sie dieses Kind bekommen hat, „nicht nur gegen den Willen des Vaters, sondern gegen alle Vernunft“. Um dann anzufügen: „Um Annika nicht zu verletzen, behandle ich ihre Mutter nicht so, wie ich wollte, und aus demselben Grund behandle ich natürlich auch die Vergangenheit so, dass es Annika möglichst wenig wehtut.“

Manchmal haben die Dialoge, die Hettche seine Protagonisten führen lässt, etwas Gestelztes, gerade wenn sie sich um das Sorgerecht drehen, um den Hass und das Unglück der Väter. Man fühlt sich dabei ungut an Dialoge aus der „Lindenstraße“ oder dem „Tatort“ erinnert, mit denen die Figuren Politisches zu erklären versuchen. Viel besser versteht es Hettche, die Atmosphäre auf Sylt zu beschreiben, die jeden Tag wechselnden Wetterlagen, das Treiben in den Sylter Ortschaften zwischen den Jahren, die Baugeschichte der Insel, ihre Sagengeschichte. Und auch die atmosphärischen Schwingungen zwischen den Figuren gelingen ihm gut, nicht nur zwischen Vater und Tochter. Sondern auch zwischen Peter und seiner alten Jugendliebe Susanne, die mit ihrem Mann Anton und den Kindern Tim und Kekke scheinbar eine Bilderbuchehe führt. Oder zwischen Peter und der Börsianerin und alleinerziehenden Mutter Helen Salentin, deren Sohn Julian mit Annika anbandelt.

Als Peter schließlich die Hand ausrutscht und er seine Tochter in der Silvesternacht ohrfeigt, weil sie ihm erzählt, dass sie auf Geheiß der Mutter die Schule wechselt, ist es mit seiner Opferrolle vorbei. An dieser Stelle wird er nicht nur zu einem Ritter von der sehr traurigen Gestalt, für den man als Leser kaum noch Empathie aufbringt, sondern endgültig zu einer komplexen, zwischen Larmoyanz und Intellekt pendelnder Persönlichkeit; und an dieser Stelle bekommt der Roman im Verein mit den Silvesterfeierlichkeiten, einem Sturm auf Sylt und dem sich ankündigenden Börsencrash seinen dramatischen Höhepunkt, der ihn bis zum Ende trägt.

Dass Hettche seinen Helden des Öfteren auch über vergangene, verlorene Zeiten räsonieren lässt, ist dann fast ein bisschen viel des Guten. Das wirkt angemessen, auch angemessen poetisch, wenn Peter sich der vielen Sommerferien mit seiner Mutter auf Sylt erinnert. Das bekommt jedoch etwas unangenehm Raunendes, wenn Peter, der Verlagsvertreter alter Schule, das Ende der Buchkultur, wie wir sie kennen, beklagt (und gleichzeitig feststellt, dass sich die Kinder seiner Freunde gar nicht lösen können von „Tintenherz“ und „Fünf Freunde“.)

Am Ende verlassen Vater und Tochter trotz der Ohrfeige gemeinsam die Ferieninsel. Beide sehen einer Zukunft entgegen, die Peter durch das Sorgerechtsurteil des Bundesverfassungsgericht zwar mehr Mitspracherecht bescheren dürfte. Das Gefühlsleben zwischen Vater und Tochter aber tangiert ein Urteil wie dieses nur am Rand. Und vor allem auch davon handelt dieser umsichtig erzählte, sensible Roman.


Die Zeit / 12.8.2010

Der begnadigte Vater.

Thomas Hettche hat eine klassische Novelle über das Mysterium der Elternliebe geschrieben. Sie liest sich wie ein Begleitwort zum Sorgerechtsurteil.

Von Jens Jessen.

 

Es ist ein eigentümliches Gefühl, ein druckfrisches Buch in den Händen zu halten, das schon historisch geworden ist, bevor es auf den Markt gelangte. Meistens brauchen Bücher länger, bis sich der Gegenstand ihrer Empörung verflüchtigt. Aber Thomas Hettches Roman über die Leiden eines ledigen Vaters, dem jede Mitverantwortung für die Tochter verweigert wird, weil der Mutter von Rechts wegen das Sorgerecht allein gehört, ist von dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor wenigen Tagen überholt worden – oder soll man sagen: erhört? Das Recht jedenfalls existiert nicht mehr, auf das sich die böse Mutter im Roman berufen konnte, um den Vater von jeder Mitsprache, gegebenenfalls auch von dem Umgang mit der Tochter fernzuhalten, vor allem aber, um ihn zu schikanieren und andauernd dafür zu bestrafen, dass die Beziehung in die Brüche gegangen ist.

Wenn man Hettches Roman – höchst ungerechterweise selbstverständlich – als Thesenroman betrachten wollte, dann hätte er sich nicht schlecht als Klageschrift für Karlsruhe geeignet, oder doch als die herzzerreißende Fallstudie eines beigegebenen Gutachtens. Wie der Automatismus des alten Gesetzes dafür sorgte, dass die, man kann es nicht anders sagen: Schlampe von Mutter das Kind dem braven Vater vorenthalten kann; wie das Sorgerecht als Machtinstrument zu Psychospielchen missbraucht wird; wie schließlich und vor allem das Machtgefälle auch das Verhältnis des Vaters zu seiner Tochter bedroht. All dieses, von den eklatanten Vorgängen bis hin zu den feinsten Vergiftungen der Seele, findet sich in Hettches Roman. Der ohnmächtig wachsende Hass des Vaters auf die sadistischen Launen der Mutter kulminiert schließlich in einer Ohrfeige, die der Vater – nun, eben nicht der Mutter, sondern in tragischer Übersprunghandlung der Tochter gibt.

Aber Hettches Buch ist kein Thesenroman. Er heißt auch nicht Die Leiden der ledigen Väter, sondern Die Liebe der Väter. Es geht um viel mehr als nur um die menschliche Problematik eines speziellen Gesetzes. Es geht, auf der gesellschaftlichen Seite des Romans, ganz grundsätzlich um die möglichen Folgeschäden eines jeden Gesetzes, das darauf angelegt ist, bis in die Kapillaren der zwischenmenschlichen Beziehungen vorzudringen. Für diesen Parabelcharakter des Buches ist es ganz unerheblich, ob das Gesetz inzwischen verschwunden ist. Der Autor hätte es auch für die Zwecke seines Romans frei erfinden können.

Auf der individuellen Seite geht es aber auch um mehr als nur um die fatale Gesetzeswirkung. Es geht um Abgründe einer Eltern-Kind-Beziehung unter erschwerten Bedingungen, wobei die Erschwernis auch von etwas anderem als dem Gesetz ausgehen könnte. Es gibt immer eine Erschwernis, die von außen kommt und die ursprüngliche Beziehung auf eine Probe stellt.

Der Autor blättert wie nebenbei einen ganzen Katalog solcher Zumutungen auf. Der Vater macht mit seiner Tochter Silvesterurlaub bei einer befreundeten Familie auf Sylt; ein weiteres schlecht gelauntes Ehepaar kommt hinzu; zwei halbwüchsige Nachbarsmädchen protzen mit frühreifem Sexappeal; schließlich interessiert sich noch ein geckenhafter Junge für die Tochter, und dessen Mutter spielt sich als gute Hirtin auf – und all das, nämlich was diese Menschen so treiben und denken und leider auch sagen, wie sie leben und Abweichungen missbilligen, bildet schon den üblichen Gefährdungsraum für die Intimität zwischen Vater und Kind. Die Ohrfeige wird der Tochter eben nicht nur stellvertretend für die Mutter gegeben, sondern auch dafür, dass sie sich diesen Einflüssen nicht entzieht.

Die Ohnmachtserfahrung des Vaters gegenüber der sorgerechtlichen Verfügungsgewalt der Mutter findet ihren Spiegel in der Ohnmacht, mit der er ohnehin schon der Gesellschaft gegenübersteht, die nun einmal in jede Beziehung hineinregiert. Kinder gehören nicht allein ihren Eltern an; je älter sie werden, desto weniger. Sie beginnen, Angehörige der Gesellschaft und also auch Spielplatz der Gesellschaft zu werden, nur dass die Gesellschaft naturgemäß nicht mit dem liebenden Impuls tätig wird, den die Eltern für sich reklamieren, aber vielleicht zu Unrecht? Es wird vieles uneindeutig im Fortgang der Geschichte: wo die guten und die bösen Einflüsse sind, wo die echten und die eingebildeten Gefährdungen, die legitimen und illegitimen Zumutungen, von dem bald klugen, bald dusseligen Dreingequatsche ganz abgesehen, das in der verquatschten Mittelstandsgesellschaft, die Thomas Hettche beim rituellen Sylter Winterurlaub beobachtet, nun einmal allgegenwärtig ist.

Unklar wird indes auch, wieweit die Unschulds- und Verletzlichkeitsvermutung gegenüber dem sich langsam emanzipierenden Kind trägt. Die Tochter entwickelt unübersehbar, aber für den Vater lange nicht einsehbar, ihren eigenen Kopf. Sie ist nicht nur Opfer, sie kann auch Täterin werden. Wie sie die Kinder der befreundeten Familie mit Geschichten von drohenden Sturmfluten und abergläubischen Sagen erschreckt, das verrät nicht nur viel über ihre existenzielle Verunsicherung, sondern zeigt auch eine böse Freude daran, die eigene Verlorenheitserfahrung anderen aufzureden.

Wahrscheinlich muss man es so sehen: Sie hat das Beziehungsgewürge zwischen den verfeindeten Eltern wie eine naturhafte Bedrohung ihres Lebensraumes erlebt, sodass die wirklichen Naturgewalten ihr wie die logische Fortsetzung und metaphysische Umrahmung erscheinen. Und andererseits: Sind sie das nicht wirklich? Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass Hettche auch deshalb so ausführlich auf der sagenhaften Überhöhung, aber auch wirklichen Gewalt der Naturbedrohung verweilt, weil sie sich in der gesellschaftlichen Bedrohung fortsetzt – so wie diese sich in der Gewalt zwischen den Eltern und schließlich gegenüber dem Kind fortsetzt.

Fortsetzt wohlgemerkt, nicht spiegelt. Allegorisch ist hier provozierenderweise nichts gemeint. Es ist eine Gewalt, die dem Vater die Hand zur Ohrfeige führt und die im Wintersturm der Insel bedeutende Teile der Küste entreißt. Die kostbare und bedrohte, schon in sich bedrohte Liebe zwischen Vater und Tochter liegt nur als innerster Kern in einem Gehäuse von Bedrohungen, die sich wie Schalen umeinander schließen. Die äußerste Schale ist die Natur.

Diese Pointe wird, wenn sie denn auffällt, nicht jedem gefallen. Aber vor dem Fatalismus, der solche naturhistorischen Konstruktionen verdächtig machen kann, ist der Autor doch gefeit. Es gibt eine Freiheit, die sich der Mensch bei ihm bewahrt: Es ist die Freiheit zu Versöhnung, Erbarmen und liebender Annahme, der am Ende auch Vater und Tochter teilhaftig werden. Der Vater bittet, und die Tochter vergibt.

Man darf sich indes dieses weit ausgreifende Spiel zwischen Naturphilosophie und intimster Seelenkunde nicht in romanhafter Breite vorstellen. Das Buch ist überhaupt kein Roman (so heißt es nur mit diplomatischer Rücksicht dem Buchhandel gegenüber), es ist eine klassische, vollendet knappe und kontrolliert erzählte Novelle – mit der Ohrfeige als Zentral- und Sündenmotiv. Es ist eine Novelle auch in der Beschränkung von Zeit und Ort – es ist aber ein großes Werk in Tiefe und Weite der Gedanken. Es scheut sich nicht, mit der fatalen Ohrfeige einen Abgrund aufzureißen, über den hinweg sich zwar Vater und Tochter wieder versöhnen, der aber im Übrigen nicht mehr geschlossen wird.

Der Abgrund bleibt die Leerstelle für das Mysterium, das der Autor nicht einmal benennt. Das zu tun überlässt er der Taktlosigkeit des Rezensenten: Es ist das Mysterium der Elternliebe, das voller Wunden und Wunder ist.


Frankfurter Rundschau / 17.8.2010

Ohne Chance, voller Hoffnung.

Zwischen Missverständnissen und Enttäuschungen: Mit „Die Liebe der Väter“ ist Thomas Hettche wieder einen Schritt weiter gekommen.

Von Martin Lüdke

 

So geht es, Gott sei Dank, auch. Thomas Hettche ist auf einem guten Weg. Seit seinem fulminanten Debüt „Ludwig muss sterben“, 1989, hat er sich stetig weiterentwickelt. Er nimmt sich allerdings auch Zeit zum Schreiben, versucht für jedes neue Buch auch eine entsprechende (neue) Form zu finden. 2006 hatte er, damals als Berliner Autor, mit „Woraus wir gemacht sind“ den Deutschen Buchpreis um Haaresbreite verpasst. Jetzt kommt er mit einem kleinen, geradezu intimen Roman, noch besser gesagt: mit einer Novelle nach Frankfurt am Main zurück und erzählt uns von den unerhörten Begebenheiten auf einer der deutschen Nordsee-Inseln. Und wieder ist er einen Schritt weitergekommen.

Dabei geht es hier nicht um ein bloßes Trauerspiel, sondern um eine echte Tragödie.

Silvester auf Sylt. Alte Freunde treffen sich nach vielen Jahren wieder einmal in einem Haus in den Dünen von Hörnum, um gemeinsam den Jahreswechsel zu feiern. Der Held, Peter, ein Verlagsvertreter, ist deutlich gekennzeichnet als Repräsentant eines absterbenden Gewerbes. Schon seine Mutter war Buchhändlerin. Sie hat lange Jahre im Sommer auf Sylt gearbeitet und ihren Jungen in den Ferien mitgenommen. Damit sind bereits zwei verklungene Motive angespielt, das Glück der Kindheit, das mit ihr vergangen ist, und die Verheißungen der Literatur, die ihre Strahlkraft verloren haben.

Jetzt kommt Peter mit seiner dreizehnjährigen Tochter Annika, die ihren Namen von der Freundin Pippi Langstrumpfs hat, erstmals wieder nach Sylt. Als sie zwei Jahre alt war, hat er sich von ihrer Mutter getrennt. Sie waren nicht verheiratet. Ansprüche darf der Vater darum nicht erheben. Die Rechtslage (deren Korrektur das Bundesverfassungsgericht soeben verlangt hat) hat psychologische Konsequenzen: Keiner kann, wie er will. Jede Handlung verursacht ungewollte Folgen.

Annika kann ihrem Vater nicht verzeihen, dass er sie verlassen hat. Seine Erklärungen interessieren sie nicht. Aber immer wieder stellt sie ihm die Frage: „Werdet ihr euch irgendwann wieder vertragen, du und Mama?“

Annikas Mutter schikaniert und provoziert den rechtlosen Vater – wobei es ausschließlich seine Sicht ist, die hier präsentiert wird. Hettche geht es nicht um eine ausgewogene Darstellung, sondern um eine Gemengelage aus diffusen, widersprüchlichen Erwartungen, Empfindungen und Hoffnungen, die bis in die feinsten Nuancen hinein ausgelotet werden. Er beschreibt die wechselseitigen Missverständnisse und die so provozierten Enttäuschungen mit den jeweils entsprechend verzerrten Reaktionen. Das ist grandios gemacht und teilweise erschütternd zu lesen.

In der Silvesternacht kommt es zum Eklat. Man feiert in der berühmten Sylter Strandkneipe „Sansibar“. Annika erzählt beiläufig, dass sie nicht mehr Hockey spielt und verkündet ihren bereits beschlossenen Schulwechsel. Eine Privatschule: „Da gibt es keine Noten und auch keine Klassen. Mama sagt, dann ist der Druck für mich nicht so groß.“ Peter, der Vater, flippt daraufhin, in aller Öffentlichkeit, buchstäblich aus. Annika läuft weg. Peter landet mit Glück und Hilfe des Schicksals (nur) im Krankenhaus. Mehr kann man von einer ordentlichen Novelle kaum verlangen. Die Handlung schlägt an ihrem Höhepunkt um: Vater halb tot. Tochter verschwunden. Freunde empört.

Es geht also hoch her, obwohl letztlich wenig passiert. Vieles wird unausgesprochen deutlich. Die Dramatik spielt sich im Inneren ab. Im Hintergrund, sehr schön ausgemalt, bleiben die Insel, das Meer. „Das Himmelsblau ist beinahe weiß, auflandender Wind reißt die Gischt von den Kämmen der hoch anrollenden Wellen und treibt sie als schaumige Flocken über den zerwühlten nassen Sand, in den man bei jedem Schritt tief einsinkt.“ Die Verknüpfung zwischen Natur und Erzählung, die sich der Autor, Theodor Storm sicher im Sinn, vermutlich gewünscht hat, ist ihm dabei allerdings nicht gelungen. Nur macht das nichts. Denn die wahren mythischen Mächte, die hier walten, spielen ihre Rolle in den Beziehungen der Menschen. Wobei sogar die Gruppe, die sich hier zusammengefunden hat, ebenfalls nur als Kulisse dient. Als Reflexionsfläche, auf der sich wunderbar aufgefächert das Verhalten dieser Menschen spiegelt, die überheblich, selbstgerecht und rücksichtslos agieren.

Peter bemüht sich vergeblich, seinen Ausbruch zu erklären. Er bleibt isoliert. Eine Frau bezeichnet ihn einmal als „verkniffen“. Ein Loser auf der ganzen Linie, nicht unbedingt sympathisch, aber glaubwürdig. Die Gruppe stößt ihn aus. Selbst Susanne, seine Jugendliebe, fügt sich dem Druck. Obwohl sie offenbar etwas nachholen möchte. Seinerzeit konnte Peter bei ihr nicht richtig landen. Jetzt scheint sie es zu bereuen. Susannes Mann betrachtet argwöhnisch die Szene. Dieses Beziehungsgeflecht wird genau beobachtet, sehr behutsam auseinandergelegt. Anders als die vor zwanzig Jahren noch gefragten „Beziehungskisten“ erschöpft sich diese Erzählung nicht in der breit ausgewalzten Beschreibung von Befindlichkeiten. Im Zentrum steht hier eine Aporie, für die es keine Lösung gibt.

Eine paradoxe Leistung. Hettche gelingt es tatsächlich, John Banville folgend, einen Roman (über das Meer) zu schreiben, der (in diesem Sinn) keine Handlung hat, und trotzdem von der ersten bis zur letzten Seite spannend bleibt. Gefährlicher als die tosende Oberfläche der sich brechenden Wellen wirkt die darunter verborgene Gegenströmung, die uns mit unsichtbaren Kräften ins Meer hinaus zieht.

Aus dieser verdeckten Spannung entwickelt sich die innere Dynamik: Gefühlvoll, nie sentimental, wahrhaft herzerwärmend, aber nicht kitschig.

 


Neue Zürcher Zeitung / 14.9. 2010

Grenzerfahrungen.

Thomas Hettches grimmig zärtlicher Roman «Die Liebe der Väter»

Roman Bucheli

 

Es müsse nun Schluss sein mit der «unerschöpflichen Ästhetik der Erschöpfung» in der zeitgenössischen Literatur, befanden vor fünf Jahren in einem Debattenbeitrag die Schriftsteller Thomas Hettche, Martin R. Dean, Matthias Politicky und Michael Schindhelm. Statt der «gegenwartsvergessenen Lebensmitschriften» forderten sie einen «relevanten Realismus»; die Schriftsteller müssten endlich wieder ihre «ästhetisch-moralische Verantwortung» wahrnehmen. Das entfachte damals ein kleines Strohfeuer. Was aber unter «relevantem Realismus» zu verstehen sei, vermochte niemand zu erklären, noch weniger die mit einem solchen Etikett versehene Literatur hervorzubringen. Bis zu diesem Sommer, als Thomas Hettches jüngster Roman erschien – und fast gleichzeitig, wie wenn man das Anliegen des Romans noch vor dessen Erscheinen aufgreifen wollte, das deutsche Bundesverfassungsgericht das Sorgerecht unverheirateter und von den Kindern getrennt lebender Väter erweiterte.

Näher an der Realität wie Thomas Hettches «Die Liebe der Väter» war selten ein neuer Roman. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erwies die familienpolitische Relevanz und Aktualität seiner Thematik. Denn Thomas Hettche schildert in seinem Roman schonungslos die Nöte eines Vaters, der für seine uneheliche Tochter zwar zahlen und sie auch besuchen darf, im Übrigen aber gänzlich der Willkür der Kindsmutter ausgeliefert ist. Nun könnte man jedoch meinen, die Realität habe den Roman überholt. Das Gegenteil ist der Fall, oder vielmehr (und darin liegt nun die Ironie zu der 2005 mit Aplomb vorgetragenen Position): Der Roman läuft dort ohnehin ins Leere, wo er versucht, relevant zu sein. Wenn der Autor seinen Ich-Erzähler ins Dozieren über die bundesdeutsche Sorgerechtspraxis geraten lässt, verschenkt er die sprachliche und erzählerische Dringlichkeit seines Romans an eine fadenscheinig vorgetragene thematische Programmatik.

Die Leiden von Hettches Erzähler sind indessen nicht vor allem eine Folge der Rechtsprechung. Sie sind aus einer existenziellen Grenzsituation heraus entstanden. Schwieriger, als mit einem halbwüchsigen Kind zusammenzuleben, ist es für Eltern nur noch, von ihm getrennt zu sein. Von diesem Trauma handelt Thomas Hettches Roman; dass er an einigen wenigen Stellen so tut, als wäre er auch ein familienrechtlich relevantes Manifest, tut ihm jedoch nur einen geringen Abbruch. Die Intensität und die Virtuosität in der Darstellung dieser schwer belasteten Vater-Tochter-Beziehung lassen mit Leichtigkeit darüber hinwegsehen.

Stellen die Besuchstage für getrennt lebende Elternteile und ihre Kinder ohnehin immer Grenzerfahrungen dar, so versteht es Hettche, diese Situation noch weiter zu verschärfen. Der Verlagsvertreter Peter und seine dreizehnjährige Tochter Annika verbringen zusammen mit Freunden gemeinsame Weihnachtsferien auf Sylt. Die Romanhandlung beginnt mit der Überfahrt auf die Insel (und endet an derselben Stelle): Auf Sylt befinden sich Vater und Tochter im Ausnahmezustand und gleichzeitig auf exterritorialem Gelände; sie sind hier empfänglicher für Zwischentöne und zugleich ausgesetzt und darum gefährdeter. Tatsächlich baut Hettche denn auch meteorologisch eine allmählich wachsende Drohkulisse auf und lässt am Tag vor Silvester einen gewaltigen Sturm über die Insel hereinbrechen.

Vater und Tochter durchlaufen in diesen Tagen zwischen den Jahren und fern vom Festland, in einem (Zeit-)Raum also, der halb horror vacui, halb verheissungsvoller Aufbruch bedeutet, eine rite de passage: Annika – «dieses seltsame Kind, das doch keins mehr ist» – befindet sich auf der Schwelle zur Erwachsenen, und Peters Selbstverständnis als Vater wird ernstlich erschüttert. Die gemeinsamen Tage beginnen mit einer Ernüchterung: Als Annika im Gespräch mit den Freunden einmal ihren Geburtsort nennt, hört Peter aus dem Klang des Wortes heraus, dass er der Kindheitswelt seiner Tochter schmerzlich fern steht; gleichzeitig wird ihm bewusst, wie wenig er, der manche Sommersaison allein mit seiner Mutter auf Sylt verbracht hatte, seiner Tochter aus seiner Kindheitswelt preisgegeben hat. Es stehen sich auf der Insel und zwischen den Jahren also zwei Menschen gegenüber, die sich vertraut wähnen und einander doch sehr fremd sind.

Zum Eklat kommt es ziemlich genau in der Mitte des Buches, als der Wintersturm vorüber ist und alle ausgelassen das Jahresende feiern. Aus einem nichtigen Anlass heraus – der aber Peters ganze Hilflosigkeit und Wut, den Schmerz und die Schuldgefühle in einem einzigen Augenblick zusammenschiessen lässt – erhält Annika während der Silvesterfeier von ihrem Vater eine heftige Ohrfeige. Ungläubig schaut sie ihn erst an, steht auf, geht und rennt schliesslich davon. Der Vater alsbald hinterher, hinaus in die stürmische Nordseenacht, Annika taucht für ein paar Tage bei Bekannten ab, der Vater jedoch wird noch in der Neujahrsnacht auf der Suche nach seiner Tochter von Jugendlichen angerempelt und niedergeprügelt.

Das Ereignis teilt das Buch in ein Vorher, da alles noch möglich war, und in ein Nachher, da alles zerstört scheint. Wie Peter sich nach der Prügelei wieder ins Bewusstsein zurückkämpfen muss, so muss er sich auch als Vater neu erfinden. Im sichtlich schmerzhaften Prozess dämmert die Einsicht, dass seine Aggression sich nur darum gegen das Kind (und nicht gegen die Kindsmutter) gewendet hatte, weil Annika selber inzwischen vom Kind zur fast erwachsenen Frau geworden war. Sie ist damit ihrerseits ein autonomer Teil des schwelenden Konfliktes geworden. Gleichzeitig erkennt Peter, dass in dieser bedrohlichen neuen Selbständigkeit der Tochter, welche die letzten Überreste seiner väterlichen Autorität beiseitewischt, auch das Rettende naht. Denn so, wie sich die Situation zuspitzt im Augenblick, da er in Annika nicht mehr nur das Kind sieht, sondern die junge Frau, so gelingt auch eine zaghafte, aber Zukunft verheissende Wiederannäherung im Moment, da er sie als verständige Jugendliche an seiner Not, die doch ihr gemeinsames Schicksal ist, teilhaben lässt.

Thomas Hettche zeichnet in seinem Roman mit grosser Suggestivkraft das stille Drama eines vielleicht unlösbaren Konfliktes, der auch mit einer Revision des Sorgerechts nicht beseitigt und höchstens entschärft werden kann. Nicht die Wut in der Hilflosigkeit schmerzt Peter am heftigsten. Es ist die Schuld, die er auf sich geladen hat: «Du warst mir», so gesteht er Annika am Ende, «irgendwann nicht so wichtig wie ich mir selbst.» Väter oder Mütter verlassen nicht ihre Kinder, aber ihre Ehepartner. Für die Kinder indes sieht es anders aus. Die innere Mechanik dieser Schuldverstrickung legt Thomas Hettche frei. Er zeigt sie am stürmischen Nordsee-Winterhimmel, er lässt sie auf den Gesichtern seiner Figuren hervortreten, und er zeigt sie in der Lustangst, mit der er Annika – «dieses seltsame Kind, das doch keins mehr ist» – unablässig von Verderben und Tod bringenden Stürmen oder von den Raunächten zwischen den Jahren fabulieren lässt, in denen «die Grenzen zur anderen Welt durchlässig» seien. Und neben alledem erzählt der Roman in bald zartem, bald grimmigem Ton, mit anrührenden Bildern und manchmal fast wortlosen Dialogen auch von der «Liebe der Väter», die eine andere sei als die der Mütter.


Frankfurter Allgemeine Zeitung / 13.08.2010

Vampire im Wattenmeer.

Thomas Hettche erteilt in seinem Roman einem Vater, der um die Liebe seiner Tochter kämpft, das Wort. „Die Liebe der Väter“ erforscht, was Eltern und Kinder im Härtefall zusammenhält – und was sie trennt.

Von Sandra Kegel

 

Peter ist ein Mann in den besten Jahren. Für ihn heißt das: Er könnte kaum unglücklicher sein…

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung



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NYC.

  05/2010

New York, Jetlag, zu spät, zu viele Drinks, irgendwann sinkt mein Kopf in der zweiten oder dritten Bar auf die Lehne des Sessels, die Stimmen der anderen dimmen weg, und ich schlafe ein. Das Fluchttier Mensch soll ja seine Fähigkeit zum Tiefschlaf erst als Höhlenbewohner entwickelt haben, und noch immer schlafen wir nicht gern in der Öffentlichkeit, finden es unangenehm, wenn uns in Zügen und auf Flughäfen die Augen zufallen, sind nicht gern so ungeschützt in Gegenwart von Menschen, denen wir nicht vertrauen. Dennoch schlafe ich jetzt  ein. Als ich die Augen wieder öffne und höre, wie das Gespräch noch immer von Sessel zu Sessel läuft, denke ich zunächst beruhigt, daß ich wohl nur nur einen Moment lang eingenickt bin, doch die neuen Gläser in den Händen machen mir schnell klar, daß das nicht stimmt. Beschämt frage ich mich, wie lange ich wohl weg gewesen sein mag, und versuche mich an den Traum zu erinnern, den ich gehabt, von dem ich aber nur einzelne Bilder und eine ganz bestimmte Stimmung behalten habe. Betrachte die Gruppe, mit der ich nach der Lesung im Goethe House losgezogen bin, und zu der unter anderem dieser Verleger gehört, dem ich, obwohl ich ihn natürlich kenne, bis jetzt noch nie begegnet bin. Ich weiß nicht einmal, ob wir an diesem Abend miteinander sprechen. Jedenfalls werden drei Jahre vergehen, bevor wir uns wiedersehen. Dann wird es das Manuskript des Romans geben, der in dieser Nacht in New York zu entstehen begann, und der Verleger wird ihn publizieren wollen und ich werde mich für seinen Verlag entscheiden, weil es mir so vorkommt, als hätte er meinen Schlaf bewacht. Jeder, lautet ein zentraler Satz des Romans, betritt Amerika in seinen Träumen zuerst.

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08/2009.

  Spycher: Literaturpreis Leuk. Mit Sibylle Lewitscharoff. Photo Thomas Andenmatten.
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Edition Spycher 4.

  Dörlemann Verlag, Zürich 2009.

Felicitas Hoppe ist in der aktuellen deutschsprachigen Liteatur die Expertin für überbordende Fabulierkunst auf kleinstem Raum, für funkelnde Meisterwerke en miniature, ihre schmalen Bücher werden durch den scheinbaren Gegensatz von größtmöglicher Bezüglichkeit bei äußerster Ökonomie der Mittel gleichsam zum Vibrieren gebracht, als seien sie dabei abzuheben, was sie für viele Leser ja auch tun. Dabei hat die Klugheit und Raffinesse der Beschränkung, die ihre Texte bestimmt, natürlich nichts mit Sparsamkeit, viel aber mit einer erzählerischen Diskretion der Autorin zu tun, für die ganz offensichtlich Formgefühl eine Form wohl sehr protestantischer Humanitas ist, eine Frage der Haltung, die allen Mitgeschöpfen ein liebendes, doch ebenso distanziertes Wohlwollen zeigt.

Insofern ist Virtuosität zwar das bestechende Merkmal von Felicitas Hoppes Sprachkunstwerken, doch ihre Passion ist: Sehnsucht. Die mitunter durchaus groteske Sehnsucht der Figuren ihres Erzählungsbandes „Picknick der Friseure“ und Sehnsucht als Strukturprinzip, wie in ihrem Weltreiseroman „Pigafetta, Sehnsucht als Heilssuche, wie die ihres Ritters und seines Begleiters, des Pauschalisten, in „Paradiese. Übersee“,  und auch jene Sehnsucht, die die Lebensläufe ihrer „Verbrecher und Versager“ zerreißt, und schließlich die ungestillte Sehnsucht ihrer „Johanna“ und derer, die sie zu begreifen suchen, also – unser aller Sehnsucht.

Felicitas Hoppes Bücher waren, indem sie sich in diesem Sinne auf die Suche machten, immer auch Bücher vom Reisen. Mit „Der beste Platz der Welt“ ist die Autorin am Ziel.

Aber welches Ziel? Und wie gelangt sie dorthin? Durch einen Tunnel, beängstigend wie der im Märchen vom Schlaraffenland. In dem Märchen, das Felicitas Hoppe in „Der beste Platz der Welt“ erzählt, mündet der Tunnel sozusagen direkt an den Mauern einer Kirche auf einem Plateau über der Rhone, die dort, wo die Geschichte spielt, im Oberwallis, in Leuk, aber Rotten heißt. An einer sonnigen, windstillen Mauer, an der Wein wächst, mündet jener Tunnel, dort, wo, hingeklebt wie eine Wabe, sich eine alte, doch frisch und sorgsam restaurierte Einsiedelei findet, ein Gehäus für Heilige, kaum Platz darin, sich zu drehen und zu wenden, doch mit einem Fensterchen, das einen direkten Blick auf den Altar der angrenzenden Kirche gewährt.

Was dort nun erzählt wird, in jenem Gehäus und in jener alpinen Landschaft voll südlichem Licht, ist – obwohl der Erzählerin Felicitas Hoppe ja nicht zu trauen ist, die in all ihren Büchern Mythen und Schicksale erfindet, Märchen und Historien kompiliert und zusammenfabuliert, stets Hochstaplerin auf der Suche nach der Wahrheit – dennoch nicht weniger als der funkelnde Kern ihrer Autobiographie. Ein verlockendes Funkeln. Denn mit „Der beste Platz der Welt“ erfindet Felicitas Hoppe sich selbst, indem sie zwar von ihrem Aufenthalt als Preisträgerin des Spycher-Literaturpreises in Leuk erzählt, dabei aber, unmerklich zunächst und beiläufig, in die Reihe ihrer Erfindungen tritt, neben ihre Ritter und Heiligen hin, ihre Verbrecher und Versager, sich so in einem wunderbaren Kabinett- und Zauberkunststück entblößend und verbergend zugleich.

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Das gesamte System wird in Frage gestellt.

  Gespräch mit Daniel Lenz. 9.3.2009.

Daniel Lenz: „Sie gehörten 1999 zu den Testern der ersten Generation von E-Book- Lesegeräten und erklärten damals: ‚Der Versuch, Texte in reine Datenströme aufzulösen, geht nicht auf.’ Wiederholen Sie heute diese Aussage?“

Thomas Hettche : „Nein, aber wer sich heute an die Debatten von damals erinnert, wird feststellen, dass sich tatsächlich etwas Grundlegendes geändert hat, das damals noch nicht einmal zu ahnen war. Es geht heute doch längst nicht mehr darum, ob man Bücher auf irgendwelchen Geräten lesen will: Das E-Book ist der entscheidende Schritt im radikalen Umbau des gesamten Distributionswegs von Papier-Literatur. Wobei es selbst nur ein eher kurzlebiges Übergangsprodukt sein wird, das die Türe zur Lektüre auf allen möglichen elektronischen devices aufstößt. Wer meint, dabei handele es sich nur um ein weiteres Ausgabeformat, übersieht, dass das E-Book – und mit ihm die digitale Bereitstellung der Bücher in den Verlagen, die Volltextsuche im Netz etc. – in einen Gesamtprozess gehört, der das gesamte System aus stationärem Buchhandel, Literaturkritik, literarischen Institutionen, Autorenlebensläufen grundsätzlich in Frage stellt.“

D.L.:„Inwiefern?“

T.H.: „Buchhändler und Schriftsteller etwa waren ja Partner in einem kulturellen System. Ja, man kann sagen, der Roman selbst, als Form, trat seinen Siegeszug mit dem Buchdruck nur deshalb an, weil er ein ideales Packmaß darstellte. Also steht zu vermuten, dass die literarischen Formen, die wir kennen, sich grundsätzlich wandeln oder gar verschwinden werden, wenn die Kultur sich auflöst, in der sie entstanden sind. Im Gegenzug darf man gespannt sein, welche neue Formen die neuen Möglichkeiten hervorbringen. Es ist naiv anzunehmen, E-Books seien lediglich Buchabspielgeräte.“

D.L.: „2000 wurde diese Diskussion auch schon geführt, doch von den literarischen Experimenten der Hypertext-Literatur ist nichts geblieben.“

T.H.: „Die medialen Bedingungen sind heute andere. Als ich 1999 die Autoren-Community ‚Null’ ins Leben gerufen habe, ließen die Redakteure der Feuilletons sich die Texte noch von ihren Sekretärinnen ausdrucken, weil das Internet ihnen so fremd war. Inzwischen hat es sich umgekehrt: Das Netz ist der Basisraum unserer täglichen Information und das gedruckte Buch längst zu etwas Anachronistischem geworden in unserer Welt – ich liebe es dafür. Das hat Konsequenzen für Produzenten wie für Rezipienten, wobei interessanterweise momentan die Leser im Netz viel weiter sind als die Autoren. Nur wenige Schriftsteller reagieren schon auf das, was mit ihnen im Netz passiert.“

D.L.: „Und doch wird Ihr neuer Roman bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen – während Stephen King ein Buch exklusiv für den Kindle veröffentlicht. Warum?“

T.H.: „Es ist ja nicht so, dass ich die technologischen Veränderungen begrüße, im Gegenteil: Ich trauere sehr um das, was wir gerade verlieren, die Vielfalt unserer Literaturlandschaft, diese oft sehr gebildeten Buchhändler mit ihren wunderbaren Läden, die differenzierte Literaturkritik in allen Medien, das literarischen Publikum, dessen Neugier noch aus einer breiten Kenntnis kam, und schließlich die literarischen Verlage, in denen doch neben aller Ökonomie alle den Wunsch hatten – und immer noch haben –, möglichst gute Bücher zu machen. Das sind natürlich Partner für einen Schriftsteller, die jetzt so langsam verloren gehen. Fragt sich also: Welche neuen Chancen bietet das Netz den Autoren? Zunächst einmal hat natürlich jemand wie Stephen King, der eine global agierende Marke ist, dieselben Möglichkeiten wie Musiker, nämlich sich selbst zu präsentieren und zu vermarkten. 95 Prozent aller Schriftsteller wird das aber nicht gelingen, zumal die Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes ganz andere skills erfordert als die klassischen Vertriebsformen, in denen der Verlag Agent des Autos ist.“

D.L.: „Amazon bietet genau solche Dienstleistungen an, von der Vermarktung über die Digitalisierung bis zum Vertrieb. Wozu noch Verlage?“

T.H.: „Man muss den Paradigmenwechsel sehen, der da geschieht. Amazon ist nichts anderes als ein Distributor, und sich in den Bauch eines solchen zu begeben, macht mir schon Bauchschmerzen. Auch wenn Amazon jetzt eine Art literarischer Öffentlichkeit im Netz nachzubauen beginnt, ist die Firma ja nicht an literarischen Inhalten interessiert. Sie entwickelt vielmehr so eine Art literarischen Center-Parc im Internet, einen dieser künstlichen Urlaubsorte mit überdachter Tropen-Atmosphäre, in diesem Fall für Leser, d.h. genauer: für Bücherkäufer. Auch, wenn sich dort bald Schriftsteller wie Leser austauschen und vielleicht besser werden informieren können als im stationären Buchhandel und in den Zeitungen, bleibt doch der Fakt, dass – so, wie Einkaufsmalls überall die öffentlichen Plätze ersetzt haben – Amazon dabei ist, das zu ersetzen, was bisher ‚literarische Öffentlichkeit’ hieß.“

D.L.: „Ist die Angst vor Amazon, Google & Co. eine Angst vor dem Neuen?“

T.H.: „Wenn man liest, dass Facebook versucht hat, in der neuesten Änderungen seiner AGBs festzuschreiben, dass alle eingestellten Inhalte der Firma gehören und nicht ohne weiteres von den Produzenten wieder entfernt werden können, finde ich ein gewisses Misstrauen gegenüber der all zu leichtfertigen Bemusterung solcher Portale schon berechtigt. Was die Literatur angeht, haben wir leider die Situation, dass alle öffentlichen Initiativen zur Digitalisierung viel zu halbherzig betrieben wurden, so dass an Google nun niemand mehr vorbei kommt und schon deshalb Googles Umgang mit dem Urheberrecht misstrauisch machen kann. Das Urheberrecht ist einer der zentralen gesellschaftlichen Vereinbarungen, mit der die berechtigten Interessen des Künstlers oder Forschers nach Honorierung und die Notwendigkeit der Gesellschaft, allen freien Zugang zum Wissen zu gewähren, einen Ausgleich finden. Diesen Ausgleich einem Quasi-Monopolisten zu überlassen, scheint mir heikel; es gäbe schon Gründe für die Enteignung von Google.“

D.L.: „Ist das System denn noch zu retten? Der Börsenverein und die VG Wort machen juristisch Front gegen Google…“

T.H.: „Ich glaube nicht, dass das Urheberrecht, wie wir es kennen, noch wird durchgesetzt werden können, sobald man Bücher digital verbreitet. Dieser Systemwechsel, den zur Zeit alle Verlage vollziehen, öffnet zwangsläufig die Büchse der Pandora. Das vielbejubelte Ende des Digital Right Management von Apple zeigt, wohin die Entwicklung geht, und die Literatur wird es noch erheblich schwerer als die Musik haben, einen Rechtschutz der Netzöffentlichkeit zu vermitteln. Schließlich ist bei der Schrift das Verhältnis zur Kopie ja schon seit Erfindung des Buchdrucks prekär und die Vorstellung eines Originals eigentlich gar nicht vorhanden. Das machte ja den Erfolg des Buchdrucks als Medium aus. Ein plausibles neues Modell aber, um die Urheber zu schützen, gibt es nicht – das, was unter dem Stichwort Abonnement oder Flat Rate diskutiert wird, scheint mir doch geradezu zwangsläufig die Entwertung der Inhalte noch zu verstärken.“

D.L.: „Der Einfluss, wer im Literaturbetrieb etwas erreicht, hat sich durch das Internet von den klassischen Medien zunehmend zu den Lesern verlagert, die Bücher auf Amazon bewerten.“

T.H.: „Wobei das Besondere an diesen Kommentaren ja ist, dass damit die Hierarchisierung zwischen Text und Kommentar, die der Buchdruck vor über einem halben Jahrtausend vorgenommen hat, wieder verschwindet. Sobald ein Roman digital im Netz erscheint, steht er, wie zuletzt in der Handschriftenkultur des Mittelalters, auf einer medialen Ebene mit den Kommentaren seiner Leser. Und die sozusagen mediale Macht dieser Kommentare wiegt zwangsläufig schwerer als jedes Argument, das von außen kommt – wir erleben das gerade am beispiellosen Bedeutungsverlust der klassischen Literaturkritik.“

D.L.: „Ist das so schlimm?“

T.H.: „Ja, weil die Kultur, die damit verschwindet, ihre Hierarchisierungen nicht primär aus Aufmerksamkeit ableitetet, sondern aus Qualität. Inhaltlich bedeutet das: Die Kommentare auf Amazon sind fast immer reine Geschmacksurteile, die sich durch keine Kenntnis des Autors, des Themas, des literarischen Hintergrundes, ja nicht einmal des Textes, auf den sie sich richten, ausweisen müssen. Wobei sich die Hoffnung, die Vielzahl der Stimmen mendele – Stichwort Schwarm-Intelligenz – die Dummheit schon heraus, leider nicht erfüllt. Aber auch in der Konkurrenz der Plattformen werden Mechanismen der Qualitätssicherung außer Kraft gesetzt. Die Idee, die großen Marken würden im Netz als Gatekeeper reüssieren, stirbt gerade – ein beliebiger Blog kann bei Google durchaus eine besseres Ranking als etwa die New York Times erhalten, was leider sowohl für den Kenntnisstand der Leser wie auch für die Finanzierung der New York Times verheerende Folgen hat.“

D.L.: „Jeder Autor und jeder Literaturkritiker ist von der Entwicklung des Internet betroffen. Warum gibt es so wenige, die darüber nachdenken?

T.H.: Ich habe den Eindruck, es gibt einen Subtext in vielen Debatten der alten, ich sag‘ mal: Feuilleton-Öffentlichkeit, der erkennbar mit dem Verlust von Lebensmodellen zu tun hat, auch mit Angst, die ja zahlreiche Menschen in der Literatursphäre betrifft, aber es ist, als befürchte jeder, erst in dem Moment, in dem er von sich spräche, von den Veränderungen betroffen zu sein. Stattdessen finden Verschiebungen statt, zu denen für mich beispielsweise die geradezu bedingungslose Begeisterung für den ökonomischen Erfolg von Büchern gehört: als könne man daran partizipieren. Die Eisscholle schmilzt und jeder denkt, irgendwie werde er sich schon retten können.“

D.L.: „Wird denn die Literatur im Netz überleben?“

T.H.: „Ich bin sehr gespannt auf die neuen Formen literarischer Phantasie, die unter diesem Druck entstehen werden. Denn: Es ändert sich ja nichts daran, dass Sprache das wunderbarste Medium zur Beschreibung der Welt und unserer Hoffnungen und Ängste ist.“

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Ellen Barkin.

  In: Freddy Langer (Hg.): Frauen, die wir lieben. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2008.

Wenigen Filmgesichtern gelingt es, sich in die eigenen Erinnerungen hineinzukopieren. Nicht in die der Bilder, sondern in jene des Lebens. Bei jedem aktuellen Photo von Ellen Barkin erinnere ich mich daran, wie sie einmal aussah. Als sei sie jemand, den ich einmal gekannt habe. Man spricht nicht gern darüber. Rechnet aber immer mit schlechten Nachrichten. Seltsam. Auch das muß wohl am magischen Schwung ihrer Lippen liegen.

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Zunächst.

  In: Renatus Deckert (Hg.): Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2007.

Zunächst wäre zu klären, worauf die Neugier zielt, die wissen will, wie man dem eigenen Debüt gegenübersteht. Denn es sind natürlich die eigenen Werke für einen Schriftsteller ziemlich hybride Wesen. Nur zu einem Teil sind es Bücher, die man in der Bibliothek neben die der Kollegen eingestellt wissen will, zu einem anderen Teil sind es Schnappschüsse der eigenen Existenz, die ihren eigentlichen Ort im privaten Photoalbum haben. Wonach also fragt die Frage? Kaum wohl nach der literaturhistorischen Einordnung des eigenen Schreibens. Da ist der Autor immer der falscheste. Aber ist die Frage nach dem Photoalbum denn interessant? Man schaut das eigene, erste Buch mit demselben Cocktail an Gefühlen an, mit dem man alte Photos von sich betrachtet. Man sieht in dem jungen Gesicht dieselbe Mischung aus Mut und Unwissenheit, die man auch beim Wiederlesen spürt. Und man reagiert aufs eine wie aufs andere mit derselben Mischung aus Pein und Neid. Aber das ist eine Erfahrung, die alle machen. Warum also Schriftsteller danach fragen – denn so lautet die Frage ja eigentlich – , was sie empfinden, wenn sie darüber nachdenken, wer sie geworden sind? Und wenn man denn fragt: Warum gleichen sich eigentlich die Antworten nicht? Die Unterschiedlichkeit wundert mich wirklich. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß irgendein Mensch anders als mit jener Melange aus Resignation und Faszination, mit jener Sehnsucht nach der immer verlorenen Heimat, auf das Vergangene blicken könnte. Alle scheitern wir an der Größe und der Reinheit des kindlichen Gefühls. Doch dieses Scheitern ändert nichts an der Dimension dessen, was uns verloren geht. Im Gegenteil. So, wie unser Leben immer öfter daran erinnert, daß wir sterblich sind, bleibt in jenem Scheitern eingeschlossen wie im Bernstein die Erfahrung, daß wir einmal unsterblich – nun ja: – waren. Und ich glaube, dort, wo die Künste einen Anschein von Überzeitlichkeit zu inszenieren in der Lage sind, in jenen Momenten also, wo „Gelingen“ geschieht, haben sie an nichts anderem Teil als an dieser kindlichen Erfahrung der Unsterblichkeit. Das macht die Kunst, im Gegensatz zu den Ewigkeitsphantasien in Politik oder Wissenschaft, per se human. Alles Unsterbliche in ihr muß sterben. Und vergeht doch nicht. Es könnte schon sein, daß sich ein kleines Stück mehr von diesem kindlichen Zugang zum Gelingen in den Anfangswerken von Autoren findet als in unseren Kinderphotos. Wenn ich „Ludwig muß sterben“ einmal wiederlesen sollte, werde ich danach suchen.

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Fahrtenbuch 1993-2007.

  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.

Die Moderne fällt ab von uns wie ein Traum. Durch Bosnien.

 

Am Stadttor Dubrovniks, im Gebäude der ehemaligen Dogana, gibt es einen Raum, in dem unzählige, stark vergrößerte Paßbilder DIE GETÖTETEN VERTEIDIGER DUBROVNIKS präsentieren. Untermalt vom langsamen Satz aus Mahlers 5. Symphonie zeigt ein Plasmabildschirm die Gassen der Altstadt, durch die heute wieder Touristen flanieren, von Trümmern übersät. Plastikeimer mit Trinkwasser an den alten Brunnen, die längst allesamt wieder so tun, als seien sie nichts als kulturhistorische Artefakte. Vier Männer in Uniform, die einen Sarg auf den kleinen Friedhof in der Stadt tragen. Brennende Boote im Hafen. Weggesprengte Dächer, deren Sparren in die Luft ragen.

Nichts davon hat Spuren hinterlassen, alles scheint seit Jahrhunderten fest verfugt und gefügt. Ich gehe umher und frage mich: Hat diese Stadtmauer die Stadt auch im letzten Krieg geschützt? Wo sind die Einschußlöcher aus den Nachrichten? Sind das dort hinten die Berge, von denen herab man feuerte? Trug dieser Kellner die Phantasieuniform der modernen Landsknechte?

Probeweise überblende ich die Reihen der Boote im Hafen mit den Bildern ihrer brennenden Segel, und der alte Zweifel kommt mir in den Sinn, das Leben könne auch ein Traum sein und man selbst ein Schmetterling, der lediglich träume, er sei ein Mensch. Als die Griechen diese Küste entlangfuhren, hat man das wohl zum ersten Mal gedacht, und immer wieder seitdem gewinnt diese Idee Aktualität. Und heute? Glauben wir zu träumen oder wach zu sein? Es scheint, verwundert und zerschlagen sehen wir uns um, gerade noch gefangen im Zwielicht eines Traums, den als Wirklichkeit zu nehmen wir uns selbst überredet hatten. Der Krieg in diesem Land war die erste Insel des Erwachens, die aus unserem Traum der Moderne auftauchte, in dem der Frieden sich von Europa aus über die ganze Welt ausbreitete.

Oskar Terš aus Wien unterrichtet seit ein paar Jahren an der Universität Tuzla und hat schon öfter deutsche Schriftsteller mit seinem Ford Fiesta über Land gefahren. Hinter Dubrovnik überqueren wir die Grenze von Kroatien nach Bosnien-Herzegovina, kommen an den Betonbauten von Titos Seebad Neum vorüber und wenig später erneut an einen Grenzübergang. Der schmale bosnische Küstenkorridor ist zu Ende und wir sind zurück in Kroatien. Dann führt die Bundesstraße einspurig ins Land hinein, folgt dabei der Neretva, dem grünen Fluß, der tatsächlich pistazieneisfarben und baumgesäumt durch ein breites Delta mit Feldern und Bewässerungsgräben eilt, das sich jedoch schnell verengt.

Erste Rast in Poećitelj, einem kleinen Ort über einer Flußschleife. Von der Burg geht der Blick weit ins Flußtal und auf das Dorf hinab, in dem Minarett und Kirchturm dicht beieinander stehen, beide gleich schlank und hoch, und daneben die kupferbelegten Kuppeldächer eines türkischen Bades, das einmal Teil einer Karawanserei war.

Später öffnet sich das enge Tal, das die Neretva in die schräg aufragenden Steinformationen geschnitten hat, dann wieder in eine Ebene. Am Horizont, vor einer noch weiß verschneiten Hügelkette, taucht Mostar auf. Christian Wochele, ein Lektor der Robert-Bosch-Stiftung, führt uns die zerschossenen Häuserfronten der ehemaligen Kampflinie entlang. Der Dauerbeschuß hat den Putz bis weit ins Fleisch der Ziegel abgenagt und die Fensterhöhlen dabei zu unheimlich körperlichen, fast lebendig wirkenden Öffnungen erweitert. Jede der unzähligen Spuren eines Geschosses der Fingerabdruck einer ganz bestimmten Tat. Einer Entscheidung zum Tod.

Die deutschen EUFOR-Soldaten in den frisch renovierten Straßencafés direkt neben überwucherten Ruinen. Die Erinnerung stanzt das Bild der wiederaufgebauten Brücke von Mostar aus dem künstlichen Ensemble pseudoauthentischer Architektur heraus und fügt sie wieder in die Fernsehbilder ein, damals stacheldrahtbekränzt und von unsichtbaren Scharfschützen umlauert. Oskar Terš gemahnt zum Aufbruch, weiter zum zweiten Ort, dessen Name in der Erinnerung klebt wie ein Barcode: Sarajevo.

Die Fahrt geht durch bewaldete Berge. In kleinen Holzbuden am Straßenrand drehen sich ganze Schafe am Grill. Das Fleisch ist frisch, die gehäuteten Kadaver hängen gleich daneben und ihr Blut tropft in den weichen Waldboden. Es regnet. Der Himmel ist ein mattgraues Gewölbe. Als wir in Sarajevo ankommen, zieht die Dämmerung kalt und feucht mit uns in die Stadt ein. Das Goethe-Institut liegt neben der ausgebombten Nationalbibliothek am Rande der muslimischen Altstadt, und nach der Lesung erschreckt mich der laute Ruf des Muezzin. Vahidin Preljević, ein junger Germanist mit langen schwarzen Haaren, erzählt von seiner Mentorin, Frau Professor Šamanek, die als kleines Kind noch das Attentat auf Franz Ferdinand mitangesehen habe. Ihr Vater, ein Arzt, habe den Tod des Erzherzogs festgestellt. Wenn er sie besuche, erzählt Preljević, schenke sie ihm ihre alten Bücher, Grillparzer und Nestroy.

Am nächsten Morgen kommen wir an den Ruinen des olympischen Dorfes der Winterspiele 1984 vorüber. Außer dem hohen Turm mit den fünf Ringen hat sich nichts erhalten, der Hügel ein riesiges Minenfeld, jedes Betreten lebensgefährlich und strengstens verboten. Mitten darin die Wellblechhütten der Roma, die als einzige die Wege durch die Minen zu kennen scheinen und ihre Ziegen und Schafe dort weiden lassen. Immer wieder werden sie von den EUFOR-Soldaten vertrieben, denn die internationale Gemeinschaft kann nicht zulassen, daß man sich selbst gefährdet, sich ansteckt an den noch immer schwelenden Kriegsherden.

Krieg ist nicht distinkt. Er befällt alle Begriffe. Daß die Moderne von uns abfällt wie ein Traum bedeutet: Die Dinge, die uns umgeben, passen sich nicht länger widerstandslos und stumm in jene Mobiles von Bedeutung ein, in die wir alles, was es gibt, hineinhängen zu können glaubten. Träumten. Nun nimmt man die Dinge zur Hand und weiß: Das heißt Krieg. Und jenes Interesse. Und das heißt Macht. Und das ist Hunger. Nichts ferner als die Rede von der Veränderbarkeit des Menschen. Nichts surrealer als der Glaube, alles könne auch ganz anders sein. Im Gegenteil: Alles beginnt auf eine geisterhafte Weise real zu werden, in dem es nur mehr sich selbst gleicht. Jedes Gesicht sich. Jeder Tod einander.

Die Bergstraße nach Tuzla führt durch kleine Dörfer. Olovske Luke heißt soviel wie Bleihafen. Das große Gefühl der Verlassenheit in diesen Orten rührt von der offensichtlichen Zerstörung jeder Tradition her, einer grundsätzlichen und, wie man sofort denkt, unaufhebbaren Zerrüttung jeder Ordnung. Achtstöckige Plattenbauten am Rand einer Dorfstrasse, um die herum Schweine im Wintermatsch wühlen und Kühe in Verschlägen aus Restholzplanken stehen. Eigenversorgung in den Resten einer zerstörten Planwirtschaft. Nichts, denkt man, auf das sich eine Existenz hier stützen kann. Tuzla erscheint, vom Bergkamm aus, über den sich die Straße wirft, zunächst als ein riesiges Ensemble von Kühltürmen entlang eines dürren Flusses. Ist man unten im Tal und steigt aus dem Wagen, nimmt einem der Braunkohlegestank den Atem. Das Kraftwerk versorgt halb Bosnien, die angegliederte Schwerindustrie verfällt.

Das Hotel Tuzla ist ein schmales, in den siebziger Jahren sicherlich prunkvolles Hochhaus in einem Niemandsland aus Park und Bolzplatz, Parkplatz und Supermarkt. Ein Horizont aus Plattenbauten. Im Erdgeschoß führt das Hotel ein Café. Im Keller, erklärt man mir, gebe es ein Theater und eine Pizzeria. „Kennen Sie bosnische Pizza?“

Ich schüttle den Kopf.

„Die ist ohne Tomaten, also macht man Ketchup drauf.“ Admira lacht.

Die Studenten sind Anfang zwanzig. Mehr Mädchen als Jungs. Alle haben sie vier oder fünf Kriegsjahre mit einem Flüchtlingsvisum bei Verwandten in Deutschland verbracht. Admira, die im Taunus in der Nähe von Frankfurt gelebt hat, fragt und fragt, und bei jedem Zögern vor der Antwort sieht man in ihrem Augen die Befürchtung, man könne aufhören, mit ihr zu sprechen. Ivana ist als einzige katholisch. Sie schreibt ihre Abschlußarbeit über Sprache und Stil bei Elfriede Jelinek, von der es in der Bibliothek kein einziges Buch gibt. Oskar Terś hat ihr die meisten aus Wien besorgt. Die rothaarige Dina hat in Ingolstadt gelebt, ihr Deutsch hat einen weichen Akzent, und sie pendelt täglich mit dem Bus aus dem zwanzig Kilometer entfernten Lukavac. Ezra ist die Jüngste, Elmedin der Kleinste. Er hat ein dünnes Bijoubärtchen und gibt mit den wilden Parties an, die man im Studentenwohnheim feiere. Mirsad lebt noch bei den Eltern, obwohl er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Ein großer, schon schwerer Mann mit gegelten Haaren, der lange in Duisburg war.

Nein, zurück will keiner. Aber Heimweh nach München oder Frankfurt haben sie trotzdem. Heimweh? Ja, doch. Trotzdem würden sie niemals aus Tuzla weggehen. Ich nicke und sehe hinaus und kann es nicht verstehen. Mir ist peinlich, daß ich es so furchtbar hier finde. Frage, was sie nach ihrem Diplom machen werden.

Dina lacht. „Oskar sagt immer, wir warten nur darauf zu heiraten und Kinder zu bekommen.“

„Und?“

„Ich glaube, Oskar hat recht.“

Jetzt lachen alle, auch Oskar. Und ich denke: Ich habe keine Geschichte. Ich weiß, daß sich das lediglich dem Zufall verdankt, im Westen Deutschlands lange nach seinem letzten Krieg geboren worden zu sein. Und ich verstehe mit einem Mal, daß die Entscheidung meiner Generation zur Unzuständigkeit, auf die wir uns immer so viel eingebildet haben, einfach aus der Zeit fällt. Unfaßbar, wie wir glauben konnten, niemals in die doch schon biologisch determinierte Position in der Mitte der Gesellschaft einrücken zu müssen. Nie war mir unsere Sprachlosigkeit so beschämend bewußt wie hier, in diesem Kriegsgebiet am Rande des alten Europa.

Tuzla schiebt sich die steilen Hügel hinauf, kleine, schmale Einfamilienhäuser an engen Straßen. Die besten Wohnlagen oben, denn im Tal liegt oft tagelang bleierner Gestank. Im Winter konnte er vier Monate sein Auto nicht benutzen, erzählt Oskar, weil Schnee und Eis nicht geräumt wurden. Es regnet und die Luft ist schwer von der Kohle. Ich höre, wie Hunde im Dunkel bellen. Ezra, die jüngste, erzählt, daß es unmöglich sei, hier deutsche Bücher zu kaufen und ich begreife im selben Moment, daß Literatur für die Studenten hier etwas ganz anderes ist als für mich. „Amazon liefert nicht nach Bosnien“, sagt sie und schiebt sich die Nickelbrille wieder auf ihre Nase und ich weiß nach langer Zeit wieder, warum es Literatur überhaupt gibt. Romane sind transportable Welten. Jeder Roman eine Welt für Orte, wo nichts ist.

Am nächsten, dem letzten Tag der Reise, sind wir in Osijek an der Drau und Professor Babić führt uns die Promenade am Fluß entlang. Osijek ist eine alte österreichische Verwaltungsstadt, mit dem Schiff kam man über die Donau in nicht einmal zehn Stunden nach Wien. Professor Babić lehrte vor dem Krieg in Belgrad, war dort Leiter des Germanistischen Instituts, erzählt von den alten Zeiten, den Tagungen in Deutschland, einer Begegnung mit Szondi, seinen Arbeiten zu Goethe. Als die Bombardements auf Serbien begannen, warf man ihn, den Kroaten, hinaus. Seine Frau ist Serbin. Sie ist in Belgrad geblieben. Die winzige Universität von Osijek ist in einem alten Gymnasium untergebracht.

„In der Drau“, erzählt er, „gibt es Welse von über einhundert Kilo.“

Das letzte Zeugnis des antiken Mursia, dem Hadrian den Status einer Kolonie gab, stammt aus dem Jahr 591 nach Christus. Von da an bis zur ersten Erwähnung des mittelalterlichen Osijek im Jahr 1196 existieren keine Überlieferungen. Sechshundert Jahre schriftlose Zeit. Ich habe keine Geschichte, denke ich. Und: Im Vergessen können alle Träume enden. Es ist keineswegs sicher, daß wir und die Triumphe unserer Moderne in einer Zukunft gewußt werden. Unklar, welche Gestalt die Welt jetzt annehmen wird und damit auch die Vergangenheit, die wir – schon – sind.

Doch noch immer, denke ich, ist der Roman, der in Deutschland nicht zufällig während eines Krieges, nämlich des dreißigjährigen, entstand, die prädestinierte literarische Form, davon zu erzählen. Ein Indiz dafür, wie sehr wir vergessen haben, worauf es in der Literatur ankommt, ist sicherlich, daß unser Begriff vom Roman alle Emphase verloren hat. Viel zu sehr meidet er die Gegenwart, für die er doch einmal entstand. Vielleicht, weil wir selbst sie in einem generationenalten Reflex meiden, noch immer, mit jener geerbten Scham der Faschistenenkel vor dem Mittun, die doch längst nicht mehr die unsere ist. Halb noch im Traum der Veränderbarkeit der Welt gefangen, halb mit schmerzlichem Erwachen beschäftigt, zögern wir noch immer, ob es wirklich an der Zeit sei, zu handeln. Doch die zerbrechende Welt zerbricht zuerst uns.

Im Franziskanerkloster von Dubrovnik gibt es zwischen einem Kruzifix aus dem sechzehnten Jahrhundert und einer goldgrundigen Muttergottes eine sorgsam mit Glas geschützte Stelle, an der, wie die Beschriftung besagt, eine Rakete ins Mauerwerk raste. Jeder Roman schuldet der Welt die Notwendigkeit seiner Existenz. Mit uns, denke ich, der unzuständigen Generation, verhält es sich nicht anders.

Frankfurter Allgemeine Zeitung / 1.8.2008

Kolonialwaren der Seele.

Kurzschlusslichterloh: Thomas Hettches Feuilletons.

Von Ingeborg Harms.

 

Thomas Hettche ist ein methodischer Autor. Was ihn fasziniert, das lässt er so schnell nicht mehr los; hin und her gewendet, taucht es an fernen Stellen wieder auf…

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung


Neue Zürcher Zeitung / 26.2.2008

Ein Meister der Anreise.

Thomas Hettches «Fahrtenbuch 1993–2007».

Von Samuel Moser

 

Auf einer Lesereise durch Bosnien kommt Thomas Hettche 2005 in Tuzla mit jungen Germanistinnen und Germanisten ins Gespräch. Sie erzählen ihm von den schwierigen Studienbedingungen nach dem Krieg. Die Infrastrukturen sind kaputt, Bücher gibt es kaum oder nur für teures Geld. Bei sich denkt er: «Ich habe keine Geschichte.» Doch dann besinnt sich der Romancier auf den Beitrag, den die Literatur leisten kann: «Romane sind transportable Welten. Jeder Roman eine Welt für Orte, wo nichts ist.» Geschichten nähren die Sehnsucht der Menschen, nicht nur in Tuzla. Darin erweist sich die Realität des Kunstwerks. Was Hettche in seinem «Fahrtenbuch», in dem der Bosnienbericht steht, aber umtreibt, ist die Ambivalenz dieser Formel: Auf ihrer Rückseite enthält sie die Fiktionalisierung der Wirklichkeit.

Hettches «Fahrtenbuch» versammelt verstreut erschienene Texte seit seinem Romandébut «Ludwig stirbt» von 1989. Sie sind gruppiert nach Gattungen, die man behelfsmässig mit Zeitbetrachtungen, Kulturkritik, Reisebericht und Ästhetischem bezeichnen könnte. Spannend wird diese Differenzierung, wenn man ihr die Einheitlichkeit des Stils gegenüberstellt: das Miteinander von unaufgeregter Erzählung und messerscharfer Analyse. Das eine übersetzt sich dabei zwingend ins andere – und zurück. Kurze Beschleunigungen des Denkflusses oder umgekehrt die Verlangsamung der Wahrnehmungen markieren jeweils die Übergänge. Der Erzähler Hettche verfügt in hohem Masse über das Handwerk eines erstklassigen Journalisten: Sinn für Zusammenhänge und «Subtexte», eine niemals selbstzweckliche Universalbildung, eine schöpferische Sprache und eine leider selten gewordene Interventionslust. Seine unbestechlichen privaten Wahrnehmungen übersetzt er mit Überzeugungseleganz ins Allgemeine. Sowohl die kürzlich entstandene Venedigreportage als auch der frühe Bericht über die Entstehung der Gartenarchitektur auf der Pfaueninsel sind Beispiele dafür, wie souverän er Geschichte und Gegenwart zusammenbringt.

Hettche ist nicht ein Landschaftsbeschreiber, sondern ein Landschaftserzähler: einer, der Raum in Zeit übersetzt. Dabei beginnt er niemals am Ende, bei den Resultaten, bei den Reisezielen sozusagen. Aufregend ist es, mit seinen Texten mitzufahren, noch ohne zu wissen, wohin sie gehen. Hettche ist ein Meister der Anreise. Wunderbar im Bericht über den Künstlerort Marfa in der texanischen Wüste, aber auch anderswo.

So verschafft er sich Boden unter die Füsse, wenn er hinter dem her ist, was ihn in seinen Forschungen von Augustin über Meister Eckhart bis zum Zwischengas beschäftigt: das Verschwundene. Oder mehr noch das Verschwinden selber. Er sucht nicht einfach ein Original, das wie etwa Piero della Francescas «Madonna del Parto» gerade durch seine Restaurierung verschwunden ist, sondern die Spur der als pornografisch und kannibalisch diagnostizierten Verdrängung der Realität durch die unendliche Kopierbarkeit der virtuellen Welt, deren vorläufigen Höhepunkt er im Attentat auf das World Trade Center sieht.

Als Autor weiss Hettche, in welcher Weise er selber an diesem Prozess beteiligt ist. Die Kritik der «Bildindustrie», die sich unserer Wahrnehmung bemächtigt, sie gar ersetzt, ist ohne Bilder nicht zu leisten. So beendet er den letzten Essay des Bandes mit den Sätzen: «Wenn ich durch Berlin gehe und dabei die Wege meiner Figuren kreuze, ist mir das so unangenehm, als spräche ich auf offener Strasse mit mir selbst oder begegnete Gespenstern.» Doch im Unterschied zur Bildindustrie ist der Erzähler kein Verkürzer, sondern ein Verlängerer: «Geschichten beginnen dort, wo Bilder die Wirklichkeit immer schon amputieren. Erzählen heisst, Arme, Strassen, Rümpfe, Häuser zu verlängern, die der Bildrand abschneidet.» Darin äussert sich der kritische Wahrheitsanspruch der literarischen Imagination.

Die Bildbetrachtung einer monumentalen Gebirgslandschafts-Fotografie von Balthasar Burkhard im Aargauer Kunsthaus beginnt mit einer solchen Verlängerung, mit einer Text-«Anreise». Der Essay trägt den Titel «Der Affe Gottes». Bevor der Autor sich vor die Fotografie stellt, die sowohl den «Nachäffer», wie man den Künstler einst nannte, als auch Gott wegzuräumen scheint (indem Burkhard dem Betrachter die erhöhte, Gott zukommende Perspektive gibt), betritt er einen Dachboden, den es nicht gibt. Hier betrachtet er auf alten Skizzen, die es auch nicht gibt, Bleistiftstriche – die Spuren der Künstlerhand. Mit so geschärftem Blick tritt er dann vor die Fotografie und bemerkt die zwei Rahmen, in die sie aufgeteilt ist, blickt also über deren Bildrand hinaus, entdeckt ihre Endlichkeit, entdeckt das Werk des «Nachäffers» und verlängert es gerade so in die Wirklichkeit. Die Fotografie erwacht aus ihrer «Trauer über die eigene, schöpferlose Schöpfung, die das getreue Abbild unserer säkularen, nicht länger erschaffenen Welt ist». Der Bild-«Erzähler» Hettche gibt dem Kunstwerk seine Aura und der Welt ihre Transzendenz zurück.


Spiegel Online / 11.12. 2007

Die einsame Madonna. Der Affe Gottes, perfekte Tage und betende Frauen – um diese Themen dreht sich alles in Thomas Hettches neuem Buch voller kurzer Notizen und ausgefeilter Essays. „Das Fahrtenbuch“ ist eine Reise durch die letzten 14 Jahre.

Von llka Kreutzträger

 

Die Aufmachung, schlichtes grünes Leinen ohne schmückenden Einband, stapelt tief – so als ob auch die Erwartungen an dieses Buch eher niedrig gehalten werden wollen. Aber das ist gar nicht nötig. Es geht um Kriegsgebiete, den Affen Gottes und die perfekten Tage…

 

Spiegel Online


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Edition Spycher 3.

  Urs Engeler Editor, Basel 2007.

„Hier ist es zu schön, da können wir nicht bleiben“, schrieb Barbara Honigmann einmal. Eine Haltung zur Welt, die denkbar konträr zu jener Arnold Zwahlens steht, dessen Photographien unter dem Motto entstanden sein könnten, daß es hier, wo man lebt, gerade deshalb schön ist, weil man bleiben muß.

Eine unbedingte Städterin und Europäerin, deren Lebenshintergrund sich über dem ganzen Kontinent aufspannt, eine Jüdin, deren Lebensgeschichte von der Historie bestimmt worden ist, und eine Schriftstellerin, die die Länder und die Sprachen wechselte, betrachtet die Photographien eines Mannes, der fast sein ganzes Leben in einem Radius von wenigen Kilometern verbracht hat, und dessen Bilder nichts zeigen als Alltagsleben, das sich in eben diesem engen Radius und um die Stadt abspielte. Und zwar auch zu jener Zeit, als sich im übrigen Europa die Katastrophe des jüdischen Lebens vollzog.

1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete Barbara Honigmann dort nach einem Studium der Theaterwissenschaften als Dramaturgin und Regisseurin unter anderem an der Volksbühne und dem Deutschen Theater. 1984 verließ sie die DDR und lebt seither in Straßburg. Ihr literarisches Debüt, der Roman von einem Kinde, erschien 1986. Sein schmuckloser, scheinbar naiver Duktus sorgte für Aufsehen, denn er machte sofort klar, daß hier eine Autorin einen Ton gefunden hatte, der es ihr auf ganz neue Weise ermöglichte, das Persönlichste als Allgemeinstes, Familien- als Zeitgeschichte zu erzählen, völlig ohne Larmoyanz oder Selbstbespiegelung, dafür aber genau, ironisch, liebevoll.

Auch bei Arnold Zwahlen spielt die Familiengeschichte eine besondere Rolle. 1916 in Leuk zur Welt gekommen, war erst der Großvater im Wallis seßhaft geworden. Zunächst Jagd- und Fischereiaufseher des Barons Leo von Werra, hatte Christian Zwahlen nach dessen Bankrott ein Haus in Leuk gebaut und eine kleine Uhrmacherei gegründet, die der Sohn Fritz 1907 übernahm. Ein Photo zeigt ihn 1917 im Sonntagsstaat mit Uhrenkette in der Weste und weißen Kragen vor dem kleinen Schaufenster des Uhren & Bijouterie-Geschäftes, das auch Nähmaschinen und optische Artikel feilbot, denn seine eigentliche Leidenschaft galt der Photographie. Und obwohl Arnold Zwahlen ihn als Phantasten beschreibt – „Mein Vater hatte die großen Ideen und Mutter reparierte die alten Wecker “ –, teilte er doch bald seine Begeisterung.

Dabei entstanden zunächst Bilder aus dem Militärdienst, für den Arnold Zwahlen sich in Brig seine erste Kamera kaufte, eine kleine Kodak für sechsunddreißig Franken. Das war 1940, etwa zur selben Zeit, als Georg Honigmann im Exil in London Lizzy Kohlmann kennenlernte, emigriert aus Wien. Die Geschichte der Emigration und der Rückkehr nach Ost-Berlin nach dem Krieg, die Geschichte der Hoffnungen und Pläne in jenem Land, das dann die DDR wurde, erzählte die Tochter Barbara Honigmann in Eine Liebe aus nichts. Und später, in Ein Kapitel aus meinem Leben, erzählte sie auch jene verborgene Episode, die ihre Mutter einst mit dem Doppelagenten Kim Philby verband.

Familiengeschichte, die zugleich unser aller europäische Geschichte ist, und die vom Weggehenmüssen und vom Dableibenmüssen handelt. Und vom Fremdbleiben, von dem auch Arnold Zwahlens Leben erzählt: Als jüngster Sproß einer Familie, die nicht aus dem Wallis kam und die zudem nicht katholisch war. Und auch, daß er für die Ausbildung zum Uhrmacher Leuk drei Jahre verlassen mußte, berichtet er, schaffte Distanz. Es bedarf keines Krieges, damit die Selbstverständlichkeit zerbricht. Vielleicht sind seine Photographien deshalb fast immer Porträts – als gelte es, den Menschen seiner Umgebung näher zu kommen. Die Landschaft des Wallis und der Ort, in dem sich alles zugetragen hat, kaum mehr als der im Wortsinn unhintergehbare Hintergrund.

Der Radius beider Arbeit ist so von der Reichweite des eigenen Blicks bestimmt. Radikale Selbstbezüglichkeit im positiven Sinn zeichnet beide aus. In Alles, alles Liebe erzählt Barbara Honigmann die Geschichte junger Theatermacher in der DDR der 70er Jahre. Es ist, natürlich, ihre Geschichte. Und ebenso – man vergißt das leicht, weil Photos per se dokumentarisch zu sein scheinen – ist jeder, den Arnold Zwahlen photographierte, ein Mensch aus seinem Leben. So, wie für Barbara Honigmannn die Unterscheidung zwischen Fiktion und Tatsachenbericht unerheblich ist, ist es es diejenige zwischen Kunst- und Gelegenheitsphotographie für Arnold Zwahlen.

Von allem Anfang an scheint er stattdessen an einem interessiert gewesen zu sein: dem gelungenen Moment. Später billigt er sich selbst „ein gewisses Talent für Schnappschüsse“ zu, und tatsächlich gelangen ihm sofort, als er beschloß, seine Militärzeit zu dokumentieren, höchst zivile Eindrücke vom Leben der Soldaten in Simplondorf. Es sind Photos, die auf eine schwer zu beschreibende Weise gleichermaßen diskret und intim sind. Sie zeigen die Kameraden bei Alltäglichkeiten, beim Mikadospiel und beim Lesen, beim Musizieren und beim Briefeschreiben. Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie etwas von der Seele der Abgebildeten einfangen.

Zurück in Leuk, wurde Arnold Zwahlen ganz selbstverständlich zum Chronisten des Ortes, denn der Besitz einer Kamera war zu jener Zeit so ungewöhnlich, daß ihm nichts blieb, als die Rolle eines Dorfphotographen zu übernehmen, der Taufkinder, Hochzeitspaare, Feste und unerhörte Ereignisse festhielt. Seine Mitschrift des Lebens in Leuk umfaßt exakt zwanzig Jahre, von 1940 bis 1960, und er hat selbst darauf hingeweisen, daß „Uhrmacherei und Fotografie viel gemeinsam haben: Die ruhige Hand, den Sinn für Mechanik und Technik, das grosse Interesse am Zeitphänomen. Der Uhrmacher, der sie einstellt und mißt, der Fotograf, der sie festzuhalten versucht.“

Diese Doppelrolle hat durchaus etwas Unheimliches. Zehrt Porträtphotographie doch immer von der Spannweite zwischen dem festgehaltenen Augenblick, der nirgends lebendiger ist als in den Augen jenes Menschen, der uns heute aus einem Bilder heraus ansieht, und dem Wissen um den Tod, der als Dopplereffekt hinter der Schallmauer des Photopapiers wartet. “Ich wollte Erinnerungsbilder machen“, sagt Arnold Zwahlen. Mit dem ängstlichen Wissen um die Vergänglichkeit und das Vergangene vertiefen wir uns in die Züge der Leuker Bauern und Bürger, der Klosterfrauen und Tagelöhner, der Kinder und der Gäste im Alpenrösli, die Arnold Zwahlens eintausendfünfhundert Bilder verewigen.

Zwei Leben, die auf gewisse Weise von den denkbar entferntesten Punkten des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen, treffen in diesem Büchlein aufeinander. Blicke überwinden Entfernungen mühelos. Barbara Honigmanns Blick auf die Bilder Arnold Zwahlens überwindet auch die Zeit. Ihre eigene und jene, die in diesen Bildern sich aufgespeichert hat. Denn Zeitmesser ist der Photograph ebenso wie die Schriftstellerin. Als eine Arbeit „kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge“ hat Barbara Honigmann einmal ihr Schreiben charakterisiert. Es ist ein Tun, das daran glaubt, es läge ein Sinn darin, wenn wir etwas von unserer Welt bewahren und zeigen. Und in gewisser Weise ist beides wohl auch dasselbe.

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Das mit der Zukunft.

  19.7.2007.

„Ich persönlich mag Harry ja gar nicht. Immer ist er der Superheld.“ Antea, die bald vierzehn wird und sich seit einer Weile zu schminken beginnt, sitzt mir gegenüber und sieht mich gelangweilt an. Als Harry Potter und der Stein der Weisen 1998 auf Deutsch erschien, war sie gerade fünf Jahre alt. Ich versuche mir vorzustellen, wie meine Tochter damals ausgesehen hat, aber es gelingt mir nicht.

„Ron und Hermine mag ich ganz gern“, sagt sie langsam und nachdenklich, aber Sirius finde sie am besten. Ich schüttle den Kopf und sie klärt mich auf: Harrys Patenonkel. Der kommt erst im dritten Band dazu. Er war der beste Freund von Harrys Vater. „Als Sirius im fünften Band gestorben ist, hab ich geheult.“

Ich frage, ob sie denn wirklich alle Bände kenne, und plötzlich verschwindet der gelangweilte Teenagerblick und noch einmal erscheint jene kindliche Ernsthaftigkeit, die ich immer so sehr an ihr mochte. „Ich hab’ alle drei- bis viermal gelesen“, sagt sie mit Nachdruck. Es ist schon sehr schade, daß Kinder erwachsen werden und man nichts dagegen tun kann.

„Und?“, frage ich, „Was meinst du: Wie wird es ausgehen?“

Sie überlegt und während sie sich an das Kinderreich Harry Potters erinnert, fällt mir ein, daß einer ihrer ersten Kinobesuche die erste Verfilmung gewesen sein muß. Das erste Mal Popcorn. Ich weiß noch, wie klein sie im Kinosessel aussah, und wie aufgeregt sie sich umsah. Als es dunkel wurde, nahm sie meine Hand.

„Hogwarts hat ja nun keinen Schulleiter mehr“, überlegt sie laut. „Dumbledore wurde im sechsten Band umgebracht. Ich nehme an, daß jetzt McGonagall Schulleiterin wird.“

„Und Harry?“

„Ich glaube, es wird ganz am Ende zum entscheidenden Kampf zwischen Harry und Lord Volemort kommen, da in der Prophezeiung steht, daß nur einer von denen leben kann.“

„Das ist ja oft in Abenteuergeschichten so, daß am Ende das Gute gegen das Böse kämpft – und daß dann das Gute gewinnt. Ist das nicht langweilig?“

„Klar ist das langweilig!“

„Soll er also dann lieber am Schluß sterben?“

„Nein, natürlich nicht! Aber es muß ja auch kein klassisches Happy End werden.“

„Sondern?“

„Ich glaub’ schon, daß Voldemord am Ende sterben wird. Allerdings wird Harry seiner Zauberkraft beraubt werden.“

„Echt?“

„Echt. Und da er sich im fünften Band von Ginny getrennt hat, weil er Angst bekam, daß Voldemort sich an ihr vergreift, denn Voldemort hat jeden getötet, den er mochte: seine Eltern ganz am Anfang und dann seinen Paten, glaube ich, daß sie ihm am Schluß zu Hilfe kommt. Und daß sie beide dann zusammen die Schule fertig machen.“

„Weil er dann ganz normal ist?“

„Ja. Nicht, daß er alle Kräfte verliert, vielleicht kann er nochmal ein Taschentuch schweben lassen oder so, aber ich glaube, daß er nicht mehr als Zauberer anerkannt ist.“

Noch immer schaut sie mich so ernst an, wie die Kinderwelt nun einmal ist. Dann aber lächelt sie plötzlich und ist wieder fast erwachsen.

„Was wäre denn Dein Liebliingsfach in Hogwarts?“ frage ich und lächle zurück.

„Das mit der Zukunft. In Hogwarts gilt das ja als ziemlich langweilig, aber ich glaube, mich würde es interessieren. Und das mit den Verwandeln fände ich auch cool. Sich selber verwandeln ist ja ganz oben im Internat, das kann McGonagall so toll, die kann sich ja ganz einfach in eine Katze verwandeln.“

 

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Casablanca.

  Zuhause (1): Henriette Fischer. 17.6.2007.

„Ich war Buchhändlerin bei Kiepert in Berlin, am Ernst-Reuter-Platz, da saßen damals Franz Tumler, Johnson und Grass und so. Eine sehr aufregende Zeit war das, Mitte der sechziger Jahre, ich war gerade vierundzwanzig. Und trotzdem: Irgendwann kam ich aus der U-Bahn Sophie-Charlotte-Platz und sah zum Himmel hinauf und da zogen Schwärme von Vögeln nach Norden. Ich hatte plötzlich so eine irre Sehnsucht nach dem Meer. Ich bin in die nächste Telephonzelle und hab in der Sylter Bücherstube angerufen, deren Chefin ich kannte. Und so kam es, daß ich 1966 meinen ersten Sommer auf Sylt verbrachte, und zwar in einer kleinen Buchhandlung in Kampen, direkt am Roten Kliff.“

Henriette Fischer legt die Hände nebeneinander auf die Marmorplatte des Bistrotischchens im Wohnzimmer ihrer kleinen Einliegerwohnung in einem Haus unter Reet, wie die Immobilienmakler das annoncieren, Klinker mit aufgesetzten weißen Sprossen auf den Thermopenfenstern. Vor dem Fenster ein kalter leerer Wintertag. Unter der fest verschnürten Plastikplane neben der Parkbucht erkenne ich die Umrisse eines Strandkorbes. Ein Fasan steht plötzlich im Unterholz, mit langer wippender Schwanzfeder, ist schon wieder verschwundet. Auf dem Fensterbrett liegen die Photoalben und Kartons. Henriette sieht mich an und wartet, bis ich nicke, dann erzählt sie weiter.

„Wir verkauften alles: Schaufeln und Hansaplast und Mützen und Sonnenmilch und Heidschnuckenfelle. Aber auch Hutschenreuthers Zwiebelmuster und das Geschirr Friesische Rose. Und Bücher! Wir hatten ja tolle Kunden, die unendlich viele Bücher kauften. Morgens kauften sie Zeitungen und alles für den Strand und abends, nachdem man sich umgezogen hatte und nochmal zum Sonnenuntergang kam, nahmen sie die gebundenen Bücher mit, die Nolde-Bildbände von DuMont etwa. Hagelstange, Grass, Siegried Lenz waren damals die Besteller. Eine unheimlich spannende Gruppe kam da jeden Tag vorüber. Boleslaw Barlog, Kantorowicz, Inge und Walter Jens, und wenn Axel Springer kam und die Bild-Zeitung kaufte, verschwanden meine Kolleginnen ins Hinterzimmer. Aber das war ein charmanter und aufmerksamer Mann. Ich habe ihm einmal die Bildbände vom Wachholtz-Verlag gezeigt und dann kaufte er dreißig Stück auf einmal. Da konnte ich ja nicht sagen, ich bedien’ den nicht.“

Sie öffnet eine der Kisten und zeigt mir ein Photo von sich als junger Frau, lachend vor einem Strandkorb, mit Jeans und roten Clogs, wie man sie damals trug, im Hintergrund das Schaufenster des Buchladens. Sie war sehr blond und sah sehr gesund aus und man sieht den Wind in ihren Haaren. Schiebt Strandbilder auf dem Tisch hin und her. „Da darfst du nur kurz draufsehen“, sagt sie und zieht ein Nacktphoto wieder weg. Lacht fast genauso wie auf dem Bild, und wird plötzlich ernst.

„Eines Tages, ich werd das nie vergessen, ging eine Frau an der Buchhandlung vorüber, klein und in einem schwarzen Lederanzug. Mit rotem Schal! Und als sie stehenblieb, ging ich hinaus und begrüßte sie: ‚Guten Tag, Frau Gert!’ Ich wußte natürlich, wer sie war. Jeder in Kampen kannte Valeska Gert, die berühmte Tänzerin. Und sofort schrie sie los, wie schrecklich der Kaffee in der Sturmhaube sei, außerdem müsse man Kännchen bestellen, sie wolle aber kein Kännchen. Also sagte ich, sie solle doch morgen wiederkommen, ich würde ihr einen Kaffee kochen. Und tatsächlich: Am nächsten Tag kam sie, zog aus ihrer Jacke ein Tütchen vom Bäcker, darin war eine völlig zerdrückte Napoleon-Schnitte. Ich gab ihr Kaffee und sofort brustete sie los: ‚Bäh, der schmneckt ja genauso schrecklich wie nebenan!’ Also machte ich Tee. Dann saß sie friedlich in ihrem schwarzen Lederanzug in einer Ecke der Buchhandlung auf einem Sessel, der mit einem schwarzen Heidschnuckenfell ausgeschlagen war, und man sah eigentlich nur ihr blasses Gesicht mit dem roten Mund. So haben wir uns kennengelernt.“

Damals war Valeska Gert schon über siebzig. 1892 geboren, war sie im im Berlin der zwanziger Jahre ein Star gewesen. Grotesk-Tanz nannte man, was sie machte, irgendetwas zwischen Pantomime und Veitstanz, mit heftig zuckendem Leib und einer Stimme, die in einem Atemzug vom Gurren eines Tiers über das Jammern eines Kindes zum Röcheln eines Sterbenden wurde. Fast nichts von ihrer Kunst ist erhalten außer ihren Stummfilmrollen, etwa in Papsts Freudloser Gasse. Irgendwann hatte sie sich eine Ferienkate auf Sylt bauen lassen, doch dann war Juden der Zutritt zur Insel verboten und 1939 mußte sie emigrieren. Ihr Karriere brach, wie die vieler Emigranten, im Ausland ab. Sie verfiel schließlich darauf, eine Bar zu eröffnen, in der die Bedienungen tanzten und sangen. Doch so erfolgreich die Beggar Bar in New York war, so wenig funktionierte das Konzept nach ihrer Rückkehr 1947 in der Hexenküche in Berlin.

Also zog Valeska Gert sich in ihr Ferienhaus auf Sylt zurück, eine einfache Kate mit Reetdach, verborgen hinter mannshohen Heckenrosen zum unbefestigten Wulleweg hin, einer Stichstraße, die sich in der Heide verlor. Hier eröffnete sie 1951 den Ziegenstall und wie in einer Zeitkapsel überlebte darin Saison für Saison etwas vom Glamour der 20er Jahre in Gestalt einer alten Frau. Wenn die Gäste im Herbst abgereist waren, lud sie die Nachtspeicheröfen auf und überwinterte mit ihrer Katze vor den Fernseher, während der Wind durch das vermodernde Reet pfiff. Sechsundachtzigjährig, im März 1978, starb Valeska Gert hier, wo ich jetzt sitze.

Henriette Fischer legt den Tisch mit Bildern aus und geht mit mir durch das Lokal, das es nicht mehr gibt. Es sind Photos, die nach dem Tod von Valeska Gert entstanden. Man sieht Staub auf den Tischen und bröckelnden Putz. Niedrige Holztische, Bänke, eine Bar, ein Kühlschrank, Kerzen auf leeren Flaschen, bemalte Spiegel. „Valeska kaufte jedes Jahr einen Eimer roter, schwarzer, gelber und grüner Farbe und bemalte vor der Saison alles neu.“ ICH BIN EINE HEXE … DIE GÄSTEN SIND WIE ZIEGEN, SIE MECKERN UND WERDEN GEMOLKEN. Überall eingeritzte Namen mit Daten an den Wänden, die Getränkekarte auf den Putz gemalt: HENNESSY … DIE WELTBERÜHMTE GULASCHSUPPE – HIER ERHÄLTLICH … LEMON WODKA. Wo befindet sich ein Ort, den es nicht mehr gibt? Henriette Fischer sagt Hier und sieht sich dabei um und deutet nach links oder rechts und meint einen Raum, der vor fünfundzwanzig Jahren abgerissen wurde. Genau hier, sagt Henriette Fischer und man glaubt ihr in diesem Moment, was sie selbst zu glauben scheint: Das eine Verbindung in die Vergangenheit existiert an dem Ort, an dem diese Vergangenheit sich zugetragen hat.

„Das Haus gibt es nicht mehr. Für dich sind wir aber trotzdem jetzt mitten darin?“

„Ja, absolut. Ich könnte es dir sofort aufzeichnen. Das hat sich mir wahnsinnig eingeprägt. Auch, wie man den Weg hier herunterkam, den schmalen Weg, alles zugewachsen.“

„Und was war exakt hier?“

„Hier waren die Heckenrosen, man hat den Neubau ein wenig versetzt.“ Sie sieht sich um und zeigt in eine Zimmerecke: „Und dort war der Eingang.“

„Und was interessierte dich damals an dem Lokal?“

„Ich war fasziniert vom Berlins der 20er Jahre. Und Valeska gehörte für mich dazu, hier in ihrer Bar. Außerdem war es der schrägste Ort in Kampen. Das war so ein Kontrastprogramm zu den schmucken Häusern, den großen Autos und den anderen Lokalen: Dem Gogärtchen und dem Rauchfang. Alles wurde damals immer üppiger, Messing und Panoramafenster und so. Da war eine alte Frau im Lederanzug und rmit ot geschminktem Mund die Verkörperung des Fremden. Ich glaube, in der Saison 1972 war ich jeden Abend hier.“

Sie legt Bild um Bild auf den Tisch. Ich deute auf zwei lachende Blondinnen, die wie die Kessler-Zwillinge aussehen und große Umhänge tragen, auf denen riesige Malteserkreuz prangen.

„Ja, die kamen immer mit Bohlen-Halbach.“

„Arndt von Bohlen und Halbach?“

„Ja. Der tanzte oft hier.“ Sie zieht ein anderes Photo daneben. „Und das ist Carmen Kickhöfer.“

„Wer?“ Das Bild zeigt ein gazellenhaftes, aber irgendwie verrutschtes Gesicht über einem nackten, sehr muskulösen Rücken.

„Eines Tages kam eine Frau den Weg Straße zur Buchhandlung herauf, nur in ein grünes, irgendwie indisches Tuch gehüllt, obwohl es gar nicht so warm war, und barfuß. Mit einer sehr tiefen Stimme fragte sie mich, ob ich wisse, wo sie arbeiten könne. Ich schickte sie zu Valeska. Und da ist sie dann aufgetreten.“

„Und?“

„Ihr Auftritt war eine Sensation. Vorher war der Ziegenstall nicht besonders gut besucht, aber nun war es jeden Abend voll. Sie sang mit ihrer dunklen Stimme und tanzte nach einer indischen Musik, so einer Dschungelmusik. Anfangs war sie richtig zurechtgemacht, mit Perücke und langem Pailettenkleid und falschen Wimpern und Federboa. Doch Valeska sagte: ‚Du brauchst das nicht. Laß das alles weg. Komm, wie du bist.’ Und das stimmte! Sie hat aus den Mädchen im Laufe der Saison immer etwas herausgekitzelt. Weil Valeska die Menschen auf eine gewisse Weise erkannte und ihnen etwas gab. Erstaunlich war diese Freiheitsempfindung, in der sie jeden ganz intim berührte. Diese Frauen veränderten sich plötzlich. Das war faszinierend.“

„Und du?“

„Ich? Ich blieb die Buchhändlerin.“

„Bei dir hat sich nichts verändert?“

Sie sieht mich nachdenklich an. Henriette Fischer wurde 1941 in Werder bei Potsdam geboren. Ihre Mutter floh nach Kriegsende mit den fünf Kindern nach Westen. 1947 kam der Vater aus der Gefangenschaft zurück. Da, sagt sie, war die Freiheit zu Ende. Männer, habe sie als Kind gedacht, würden immer erschossen. Sie hätte gern studiert, doch in die Tochter wollte der Vater das knappe Geld nicht investieren. Mühelos erkenne ich in dem über sechzigjährigen Gesicht die junge Frau, die sie einmal war. Eigentlich ein Wunder, wie wenig ein ganzes Leben so etwas verletzlichem wie einem Gesicht anzutun vermag.

„Ich weiß nicht“, sagt sie leise. „Ich fand das toll. Ich hab immer gedacht, ich will das alles kennen. Hier fand statt, was ich sonst in der Literatur las.“

Sie zögert und überlegt offenbar, ob sie aussprechen soll, was sie gerade denkt. Sie tut es schließlich nicht. Sagt stattdessen: „Am Ende kam Carmen herein wie vom Strand, nur in diesem grünen Tuch, und alle hielten den Atem an.“

„Weil sie so schön war?“

„Auch.“

Sie sieht mich einen Moment lang schweigend an.

„Ich verstehe nicht.“

„Früher einmal hieß sie Horst und war Friseur“, erklärt Henriette Fischer leise, und als sie mein Erstaunen sieht, beeilt sie sich, schnell weiterzusprechen. „Sie hat mir erzählt, wie es war, sich operieren zu lassen. In Casablanca, glaube ich. Und in jenem Sommer kam sie wohl gerade aus Indien, braungebrannt von Kopf bis Fuß, und voller Drogen. Und eigentlich sehr unglücklich.“

„Warum?“

„Weil sie nicht bekam, was sie suchte. Jetzt, da sie endlich eine Frau war, wollte sie einen Mann, aber die Männer trauten sich nicht. Sie wurde für ihren schönen Körper bewundert und für den Schritt, den sie getan hatte, aber sie konnte kein normales Leben leben. Stattdessen stellte sie sich zur Schau. Ich habe gehört, daß sie später in München in die Psychiatrie gekommen ist.“

„Weißt du, ob sie noch lebt?“

„Nein, sie ist tot. Das weiß ich. Weiß auch gar nicht, ob sie das Geld aus dem Erbe von Valeska noch erhalten hat.“

Henriette Fischer wischt die Bilder auf dem Tisch zu einem Stapel zusammen. „Einen schöneren Menschen“, sagt sie, „habe ich nie gesehen. Die schmalen Hüften, diese ganz geraden Beinen, und die schönen Schultern. Sie hat die Haare nach vorn geschmissen und nach hinten, hat sich unglaublich bewegt und irgendwann hat sie dann das Tuch gelöst und stand da in ihrer ganzen Schönheit. Und einmal hat sie auch gepinkelt, damit alle sehen konnten, daß sie wirklich eine Frau ist.“

„Nein!“

„Doch. Aber das war gar nicht so, daß man sich wunderte. Sie stand einfach nach ihrem Tanz da mit ihrer ungeheuren Grazie. Und dann hockte sie sich hin und pinkelte.“

Henriette Fischer lächelt mich an und ich nicke. In einem Interview sagte der Fernsehjournalist Werner Höfer damals, Valeska Gert sei für ihn eine Kontaktperson. Er habe Greta Garbo, Sergei Eisenstein, Tennessee Williams und James Joyce leider nicht kennenlernen können, doch über Valeska Gert habe er Kontakt zu jener vergangenen Kultur. Höfer war oft Gast im Ziegenstall. NSDAP-Mitglied seit 1933, hatte er als Feuilletonist bis zum Kriegsende einen Kulturbegriff propagiert, für den Künstler wie Valeska Gert entartet waren. Ob sie ihn gefragt hat, was er zwischen dreiunddreißig und fünfundvierzig getan hatte? Ob er ihr davon erzählt an, an jenen Abenden, an denen er der letzte Gast im Ziegenstall war?

Henriette Fischer zuckt die Schultern. „Höfer brachte sie in Talk-Shows und das hat ihr gefallen. Plötzlich bekam sie eine Rolle in Fellinis Julia und die Geister, Volker Schlöndorff machte einen Film über sie und Werner Herzog war hier.“

„Und dafür hat sie ihm das Haus vererbt?“

Henriette Fischer zieht einen Zettel hervor, oft gefaltet und glatt gestrichen, und breitet ihn aus. In einer großgeschwungenen Handschrift steht da: Hiermit vererbe ich der Henriette Fischer den Anbau meines Hauses in Kampen. Sie mag darin wohnen oder eine kleine Buchhandlung eröffnen. „Diesen Zettel habe ich aufgehoben. Auf der Beerdigung in Berlin hat Werner Höfer dann erklärt, er sei ja nun Erbe des Hauses von Valeka Gert. Und da hab ich gesagt: ‚Und ich bin die Erbin des Anbaus!’ Da entgleisten Herrn Höfer dann doch die Gesichtszüge. Damit hatte er nicht gerechnet. Na ja, auf jeden Fall begann dann eine längere Auseinandersetzung, bei der am Ende der Abriß des Hauses stand.“

„Warum Abriß?“

„Höfer wollte es unbedingt. Und wahrscheinlich war es auch richtig, obwohl es mir sehr weh tat. Der Dachstuhl war morsch, im Reet nistete der Dachs und die wunderbaren Wandbemalungen bröckelten von den feuchten Wänden.“

Henriette Fischer kramt aus einer Kiste bunte Putzreste hervor, die sie vorsichtig auf den Tisch legt wie Erinnerungstücke der Berliner Mauer. Ein Haus, das es nicht gibt, ist in Kampen nichts ungewöhnliches. Der ganze Ort ist ein Geisterort. Es fällt schwer, das Alter der Häuser zu schätzen, denn obwohl ständig abgerissen und neu gebaut, sind die Vorgaben seit langem restriktriv: Friesengiebel, Reet, ein bestimmter Abstand von Haus zu Haus sind vorgeschrieben. So hat man immer die klebrige Empfindung, daß es all das woanders genauso gibt. Kaum ein Ort denkbar, an dem es absurder wäre, etwas bewahren zu wollen, dessen Zeit vorüber ist. Und  keiner, an dem die Sehnsucht danach größer sein könnte.

„Ich weiß noch“, erzählt Henriette Fischer, „als ich Valeska einmal zum Zahnarzt brachte, hatte sie so einen Beutel dabei und der klapperte ständig. Und als ich fragte, was in dem Beutel sei, winkte sie erst ab, doch als ich nachfragte, sagte sie leise und irgendwie schüchtern: ‚Da sind meine alten Zähne drin.’ Ich mußte so lachen! Und zwischen den ganzen alten Zähnen war ein Photo, das sie aus einer Illustrierten ausgeschnitten hatte, mit Rex Gildo oder so jemandem, der ganz breit lachte mit ganz weißen Zähnen.“

„Und solche Zähne wollte sie auch?“

„Genau. Das hat sie dann dem Zahnarzt gezeigt. Andere wären wahrscheinlich schreiend weggerannt. Ich fand das herzerfrischend.“

 

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Auf keiner Stätte zu ruhn.

  Zur Plastik des sterbenden Kriegers im archäologischen Museum von Agrigent. 02/2007.

Was sehen wir? Wieviel Ignoranz gehört dazu, Gefallen an diesem Marmor zu finden? Was wissen wir denn? Das Verzeichnis der Bücher, welche bei der Verlassenschaft des in Tübingen gestorbenen M. Hölderlin sich in Nürtigen vorgefunden haben, listet antike Autoren von Aischylos bis Vergil in den lateinischen und den griechischen Originalen auf. Im Nachlaß welches deutschen Schriftstellers finden sich heute die Quelltexte unserer Kultur noch unübersetzt? Wenig an dem, was wir über die Antike wissen, ist noch Wissen, das sich in der Rekonstruktion einer verlorenen Welt wie in einem Spiegel selbst zu erkennen in der Lage ist. Was sehen wir also?

Einen Kopf, einen Torso, das Stück eines Oberschenkels, zusammengefügt wie zur Probe. Den Kopf, erläutert die Hinweistafel im Archäologischen Museum von Agrigent, fand man im Bereich des Heraklestempels, den Torso und den Schenkel beim Tempel des Zeus. Entstehungszeit um vierhundertachtzig vor Christus. Ein Betonsteg verbindet Hals und Schulter, die Bruchline zwischen Leiste und rechtem Oberschenkel ist schmerzhaft sichtbar. Die Arme dicht an der Achsel abgetrennt. Keine Hände, keine Schenkel, keine Füße. Der Kopf spitz behelmt, um das linke Ohr der Marmor so dunkel, daß man unwillkürlich an eine verkrustete Wunde denkt, denn zweifellos sehen wir einen Krieger. Und dieser Krieger ist nicht nur tatsächlich zerstückelt, sondern offenbar auch symbolisch, d.h. in seiner eigenen Realität.

Der angesetzte rechte Oberschenkel deutet ein gebeugtes Knie an, man muß sich das rechte Bein angewinkelt vorstellen und einen Schild in der linken, nach hinten emporgereckten Hand. Kraftlos müht der Soldat sich, seinen Rücken zu schützen. Eine letzte Verteidigungsanstrengung. Er erwartet den letzten, den tödlichen Schlag.

Geht man um den Torso herum, sieht man an der rechten Schulter den Ansatzpunkt des fehlenden Arms, ein klaffendes Loch, als sei er aus dem Gelenk gedreht, und begreift die Dynamik, mit der dieser Krieger sich aufbäumt gegen die Erde, auf die sein blickloser Blick doch längst hinabstarrt. Die Oberschenkel auseinandergestemmt und die Schultern zusammengenommen. Beinahe schmerzhaft spürt man die Gewalt, die diesem Leib hinterrücks droht. Dabei hat er nichts von jenen Kriegsprofis, die unsere moderne Ikonographie tradiert. Zwar trainiert und durchaus muskulös, ist sein Leib doch mit sozusagen vorsichtigem Audsruck versehen. Er taugte mindestens ebenso für die Liebe wie für jenen längst vergessenen Krieg, dessen Opfer er jetzt, in diesem Moment, in dem wir ihn betrachten, immer noch wird.

Auch, wenn man in seinem Gesicht nach dem Ausdruck sucht, weiß man nicht, was man sieht, ob Leiden oder stoische Ruhe. Man weiß nur sofort: Das ist kein Held. Niemand, dessen Ruhm die Musen jemals sangen. Ein junges Gesicht, wohlgeformt zwar, doch mit eher breiten, ausdruckslosen Lippen. Blicklose, etwas geschlitzte Augen. Schwere Kiefer.

Doch was ist, damals, überhaupt Schönheit? Schön nannte man den Menschen, der für das Fest der Götter vorbereitet wurde. Schön das Opfer, das man brachte. Und das Opfer war nackt, so nackt wie der Krieger. (Erst das Gewand, erst die Mode, betont Hannelore Schlaffer, deutet das Opfer/Objekt um zum Subjekt.) Was aber ist das Opfer? Ist nicht, da er im Gegensatz zum Tier die Unsterblichkeit zu denken in der Lage ist, die Sterblichkeit des Menschen selbst sein Opfer? Sein größtes. Was also dann ist dieser Krieger sich selbst? Und was ist seine Erwartung? Was sind ihm jene Götter, deren Namen wir kennen? Wie begreift man die Welt hinter dem Marmor?

Gleich im ersten Gesang der Ilias erscheint dem größten Krieger der Griechen, dem mutigen Renner Achilleus, Athene. Was Homer in Voß klassischer Übertragung von 1793 so schildert: Hinter ihn trat sie und faßte das bräunliche Haar des Peleiden, / Im allein sich enthüllend; der anderen schaute sie keiner. / Staunend zuckte der Held und wandte sich: plötzlich erkannt er / Pallas Athenens Gestalt.

Zunächst verwundert die Zärtlichkeit, die sich im Griff der Göttin ins Haar des Kriegers ebenso zeigt wie in der Diskretion, sich ihm allein zu offenbaren. Und auch im Staunen Achills, das ja durchaus kein Erschrecken ist. Bruno Snell erläutert diese überraschende Intimität so: Selbst der größte Held, der schönste der Menschen, dessen Schicksal noch die Götter bewundern, ist im Verhältnis zu diesen vor allem eines – sterblich. Die Götter, schreibt Snell, sind die Leichtlebenden; ihr Leben ist besonders lebendig, da das Dunkle und Unvollkommene ihnen fehlt, das der Tod den Menschen bringt. Das erklärt ihre Zärtlichkeit gegenüber dem Todverfallenen.

Denn der Tod ist in jener homerischen Welt, in die hineinschaut, wer die  Statue dieses Kriegers betrachtet, jener Moment, in dem die Gottähnlichkeit eines Menschen endet. Indem er sein Schicksal lebt, wetteifert der Held mit dem Gott, gewinnen jedoch kann er nicht. Tragisch ist der Mensch, weil alle Schönheit und aller Mut nicht verhindern, daß er am Ende zurücksinkt ins Nichts. Daraufhin wenden die Götter sich ab. Mit Bedauern vielleicht, aber immer endgültig. Doch uns ist gegeben, heißt es in Hyperions Schicksalslied, Auf keiner Stätte zu ruhn, / Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Faszinierend ist nun, daß das, was hier bei Hölderlin sein modernes Echo findet, einen ganz bestimmten historischen Ort hat. Bruno Snell führt aus, es könne sich jener apollonische Glaube von der Leichtlebigkeit der Götter, der jede Verbindung mit den Chthonischen abgestreift hat, erst in Magna Graeca entwickelt haben, in den Kolonien und im Denken von Kolonisten, die von den uralten Kultplätzen ihrer Heimatgemeinden abgeschnitten waren. Sie ersetzten ihre alten Erdgötter durch den hellen, globalisierten Glauben an den Himmelsgott Zeus, der ohne Verwurzelung in einer Landschaft Trost in der Fremde zu spenden vermochte.

Und tatsächlich richtet sich die Reihe der Tempel des heiligen Bezirks von Agrigent – nach Syrakus die wichtigste griechische Kolonie auf Sizilien – ganz offenbar zur Nulllinie des Meeres aus. Das flirrende Licht auf den Wellen zieht den Blick zwischen den Säulen hindurch. Ich war schon einmal ein junger Mann, eine junge Frau, ein Gebüsch, ein Vogel und ein feuriger Fisch aus der Salzflut, heißt es bei Empedokles, über dessen Tod Hölderlin ein Stück schrieb und der ebenso von hier stammt wie jener Krieger, dessen Tod wir betrachten. Und wir ahnen dabei: Auch uns bleibt kein fester Ort, nachdem wir einmal uns aufmachten in die Welt. Und auch unsere Götter sind Luftgeister. Und im Tod werden sie ebenso wenig bei uns sein wie die seinen bei ihm, während er sich bereit macht zu sterben.

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Chausseestraße.

  19.11. 2006.

Wie bei frühen Photographien, auf denen man weiße Schemen und Umrisse für Tote und Geister hielt, die das neue technische Medium aufgestöbert haben sollte, hört Geräusche aus einer Geisterwelt, wer heute „Chausseestraße 131“ in den Player schiebt. Denn Wolf Biermann – 1967 bereits so berühmt wie verboten – mußte seine zweite Platte notgedrungen bei sich zu Hause aufnehmen, und zwar mit einem ungeeigneten, auf Umwegen in den Osten geschmuggelten Mikrophon. Und so hört man, noch bevor die Musik beginnt, Autos vorüberfahren und hupen, hört eine Straßenbahn, sehr leises Vogelgezwitscher, Windgeräusche in Bäumen, hin und wieder das Kläffen eines Hundes. Und es dauert recht lange, bis sich Biermanns Stimme über all diese Geräusche legt.

Geisterhaft ist es auch, heute vor jenem Haus in der Chausseestraße zu stehen, in dem die Aufnahme entstand. Viele der damaligen Passanten, denkt man, werden gestorben sein. Die Straßenbahnen hat man längst ersetzt und die Schienen erneuert. Die Autos sind verschrottet, und mit ihnen der Staat, der dafür sorgte, daß diese Schallplatte auf eben jene Weise entstand. Schließt man die Augen, klingt alles anders. Man hört amerikanischen Slang, auch arabische Stimmen, und wummernde Bässe aus den Autos an den roten Ampeln. Und wenn man die Augen wieder öffnet, ziehen junge Frauen mit dünnen Hüftjeans und sehr spitzen Stiefeln ihre rosa Häkelschals am Tag von Biermanns siebzigstem Geburtstag enger um den Hals.

Die Chausseestraße 131 liegt an der Ecke zur Torstrasse. Eine braune, unrenovierte Fassade, die Risse im Putz notdürftig mit grauem Zement gekittet. Im Erdgeschoß neben einem Schlecker-Drogeriemarkt und dem „Malete“ – alle Coctails 4 € – eine Szeneboutique. „Products for Woman and their admirers“ hat man in rosa auf den weißen Putz getüncht. Im Schaufenster, desssen hölzerne Fensterrahmen durch unzählige Farbschichten pockig geworden sind, liegen neben bunten Ringelsocken Plastikbehältnisse für Wattestäbchen in Form kleiner Schafe.

Überhaupt ist man wieder gepflegt ungepflegt. Junge Männer tragen wieder Bärte und Armeejacken wie in den Siebzigern, Koteletten und klaffende Unterhemden. Käme der junge Biermann heute aus der Tür so, wie er sich für das Cover von „Chausseestraße 131“ photographieren ließ, er paßte sich mit seinem noch ganz frischen Schnäuzer und dem zu langen Fransenpony problemlos in das aktuelle Publikum von Berlin-Mitte ein. Und auch anderes wäre ihm vielleicht auf seltsam-fremde Weise vertraut. Etwa die Werbeparole für eine neue Krimi-Serie auf VOX, die er von den Fenstern seiner alten Wohnung auf einer haushohen Plakatplane jenseits des Platzes lesen könnte: SAG, DIE WAHRHEIT. Neben dem Text das ebenfalls haushohe Gesicht einer Schauspielerin. Unverwandt starrte sie zu ihm herüber, Tag und Nacht, lebte er noch dort. Möglicherweise erinnerte sie ihn an jene auf ihn von der Stasi angesetzte Schauspielerin, die hier in der Chausseestraße einmal klingelte, Einlaß bekam zu Tisch und Bett, und sich dann in den Liedermacher verliebte. Der hochprofessionellen Schönheit von VOX wäre solche Sentimentalität wohl nicht zuzutrauen.

Was nicht heißt, daß die Zeiten sich geändert hätten. Zwar steht Biermanns Name nicht mehr an der Tür, doch am linken der beiden Eingänge des Hauses Chausseestraße 131, hin zur Hannoverschen Straße, liest man dafür am Klingelschild seiner Wohnung im zweiten Stock: Harnisch. Und das tat der Liedermacher auch, als er 1991 zum ersten Mal nach seiner Ausweisung wieder vor dieser Tür stand. Obwohl die DDR seinen Mietvertrag nie gekündigt hatte, wohnte seit den Wendewirren ein junger Schiftsteller dort: Hanno Harnisch. Die Stasi führte ihn als „IM Egon“. Im Jugendradio DT-64 moderierte er „Das Gedicht am Dienstag“, war später Presssprecher der PDS, und ist heute Feuilleton-Chef des Neuen Deutschland. Jene Zeitung, in der Biermann die Verlautbarung seiner Ausweisung lesen mußte.

Es verwischen die Zeiten. In dem Gebäude fünfzig Meter die Hannoversche Straße hinunter, das heute das Forschungsministerium beherbergt und irgendwann einmal als Kaserne gebaut wurde, befand sich vor dem Mauerfall die Ständige Vertretung der BRD. Bis zu Biermanns Ausweisung im November 1976 konnte Günter Gaus ihm von dort in die Fenster schauen. Ein seltsamer Ort ist dieser Platz. Es läßt sich hier abschreiten, was diesem Land geschah. Ein Ort wie ein Scharnier. Nicht zufällig ändert die Straße, die ihn durchläuft, gerade hier ihren Namen.

Außerstädtisch ist es die Chausseestraße und man geht auf ihr nur zweihundert Meter bis zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Dort finden sich nicht nur die Gräber Bechers und Brechts, sondern inzwischen auch das von Günter Gaus und diejenigen Stephan Hermlins und Heiner Müllers und noch anderer, die damals die Protestpedition gegen Biermanns Ausweisung unterzeichneten, die für die Künstler und Intellektuellen der DDR so viel veränderte. Doch während der Friedhof sich seitdem ziemlich gleich geblieben ist, ragt gegenüber das hochaufprunkende Verwaltungsgebäude Borsigs, dessen Berliner Lokomotivenproduktion hier begann, frischrenoviert empor, als gelte es, das Quartier nach eine historischen Episode wieder in Besitz zu nehmen.

In die andere Richtung wird die Chausseestraße am ehemals alten Tor zur Friedrichstraße. Schnell öffnet sich linkerhand die Oranienburger mit dem Blick auf die goldene Kuppel der Synagoge, dem Funkturm dahinter und dem Tacheles davor mit seinem abgestandenen Wendekitsch. Ampelmännchen-Shirts von Größe 104 bis XXL und Postkarten mit Originalmauerstückchen in The Word of Gifts. Die neue Residenz der Ullstein Buchverlage in einem aufwendig restaurierten alten Kontorhaus. Dann die pompöse Plattenbauarchitektur des Friedrichstadtpalastes und die ihn umgebenden, noch immer von kleinbürgerlichem Ost-Mief beherrschten Wohnanlagen.

Kaum fünfhundert Meter sind es so von Biermanns Wohnung bis zur Weidendammer Brücke, in deren Geländerdekor er sich damals selbst erkannte, im gußeisernen Adler der Hohenzollern den preussischen Ikarus. Mit ganz leichtem Schwung wirft sich die Brücke über die Spree. Steht man auf ihr, sieht man linkerhand das Bodemuseum und rechts lugt hinter dem Bahnnhof Friedrichstraße das Emblem der Deutschen Bahnzentrale am Potsdamer Platz hervor. Geisterhaft sind nicht nur die Geräusche eines verschwundenen Landes auf jener Platte Biermanns, geisterhaft ist heute auch vieles von dem, was Biermann damals sang. „So  – oder so, die Erde wird rot. / Entweder leben-rot – oder todrot! Wir mischen uns da bißchen ein / – so soll es sein … / – so soll es sein … / so wird es sein.“

Es läßt sich der Zustand eines Landes daran bestimmen, wie es mit seinen Geistern umgeht. Mit den Geräuschen von Straßenbahnen, die es nicht mehr gibt. Mit Spitzeln in den Wohnungen von Dissidenten. Mit Liedern, die ausgerupft wurden von der Zeit. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort für einen solchen Umgang als Berlin. Schließlich liegt hier, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, das Grab Heiner Müllers direkt demjenigen Schinkels gegenüber. Ist es bei Müller eine rostrote Eisensäule, in die man seinen Namen wie mit einer Schreibmaschine eingeschlagen hat, so leuchtet die Vignette mit Karl Friedrich Schinkels Profil golden auf einer klassizistisch schmalen Stele.

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Woraus wir gemacht sind.

  52 Beste Bücher. Schweizer Radio DRS 2. Gespräch und Redaktion Hans Ulrich Probst. Sendedatum: 22.10.2006.
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10/2006.

  Deutscher Buchpreis Frankfurt am Main. Photo Peter Peitsch / www.peitschphoto.com
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Woraus wir gemacht sind.

  Studio LCB. Aus dem Literarischen Colloquium Berlin. Mit Ursula März und Elmar Krekeler, Moderation Denis Scheck. 29.07.2006.
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Woraus wir gemacht sind.

  Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.

 

»Liz?«

Niklas Kalf schmiegte sich von hinten an Liz und streichelte ihr langsam über die Schultern und den Nacken. Den Kopf in die andere Hand gestützt, sah er dabei hinaus in die Nacht. Das Excelsior, ein altes Emigrantenhotel mit engen, verwinkelten Gängen, in deren tiefen Teppichen jeder Laut versickert, liegt fast am Central Park, und ihr Zimmer im neunten Stock ging nach hinten, zur 82. Straße West. Vom Bett aus sahen sie über mehrere Blocks niedriger Town Houses hinweg, deren Dächer zumeist zu Terrassen umgebaut waren, mit Pflanzenkübeln und niedrigen Holzpalisaden, Tischen und Stühlen. Dahinter ragten hölzerne Wasserspeicher in den Himmel. In der Klimaanlage unter dem Fenster drehte sich mit einem blechernen, schabenden Geräusch langsam der Rotor. Es schien, als lasse nun die Anspannung endlich nach, die den ganzen Tag über der Stadt gelegen hatte.

Liz hatte, bevor sie den Flug buchten, lange gezögert, ob sie an diesem Tag wirklich in New York sein wollte. Das ist ein magisches Datum, hatte sie gesagt, egal was geschehen wird. Es gibt keine magischen Daten, hatte er geantwortet, auch wenn das, wie er wußte, falsch war. Am Morgen beschlossen sie dann, den Tag im Bett zu verbringen, kaum, daß er einmal aufstand und im Deli um die Ecke Pastrami-Sandwiches holte und Bier. Er war verrückt nach Liz, seit sie schwanger war, und immer wieder taten sie an diesem Tag so, als machten sie ein Kind.

Liz drehte sich nach ihm um und strich ihm mit der Hand durchs kurze Haar. Einen Moment lang schien sie ihn sehr genau zu mustern, bevor ein Lachen sich in ihrem Gesicht ausbreitete.

»Es ist nichts passiert«, sagte sie grinsend.

»Ich glaube nicht.« Er grinste zurück.

»Küß mich, Nico!«

Sie schloß die Augen. Ihr Mund war eher klein und auch nach all der Zeit noch schüchtern. Seit vierzehn Jahren waren sie zusammen, und Niklas Kalf hatte dabei zugesehen, wie das Netz kleiner Falten sich in den Jahren rund um ihre Augen ausgebreitet hatte. Ihre Zunge tastete vorsichtig nach seiner.

Außer jenem Abendessen mit Snowe hatten sie die vier Tage, die sie jetzt in New York waren, allein verbracht, waren einfach herumgelaufen, einmal den ganzen Broadway hinab und die Park Avenue wieder hinauf, waren über die Brooklyn Bridge spaziert und durch Chinatown und mit der Fähre nach Staten Island hinübergefahren. An die vibrierende Hitze der Stadt hatten sie sich bald gewöhnt und, verschwitzt und müde, kaum eine Pause auf ihren Streifzügen gemacht.

Im Kino liefen My Big Fat Greek Wedding und Bloodwork, und Liz hatte sich zu One Hour Photo überreden lassen. In der New York Times hatte Niklas Kalf den Nachruf auf Kim Hunter gelesen, die mit neunundsiebzig hier in der Stadt gestorben war. Das Bild neben dem Text zeigte sie als Stella in Endstation Sehnsucht mit Marlon Brando, für die sie ihren Oscar bekam. Aldwin, Astronaut von Apollo 11 und zweiter Mann auf dem Mond, war in Los Angeles beim Verlassen des Beverly Hills Hotel angegriffen worden. Ein Filmemacher, der seit Jahren zu beweisen versuchte, daß die Mondlandungen nie stattgefunden hatten, habe Aldwin aufgefordert, eben dies auf eine Bibel zu schwören, mit der er den Astronauten attackierte.

Überall sah man die Vorbereitungen, gleichermaßen wohl für die Gedenkfeiern wie für eine mögliche Bedrohung. Viel Polizei war auf den Straßen, während die U-Bahnen immer  leerer wurden. Es schien, als verlasse, wer konnte, vor dem elften September die Stadt. So etwas wie der Geruch der Stille zog in Manhattan ein, und als sich dann vor Sonnenaufgang Dudelsackpfeifer aus allen fünf Boroughs auf ihren stundenlangen Weg nach Ground Zero machten, konnte man ihre Musik überall in der Stadt hören. Sie drang auch in ihre Träume, denn das Excelsior liegt nicht allzuweit vom Broadway entfernt, den die Dudelsackpfeifer hinabgingen, doch erst die Gedenkminute um acht Uhr sechsundvierzig, als ein Jahr zuvor das erste Flugzeug die Twin Towers getroffen hatte, jene plötzliche, unheimliche Unterbrechung des Lebens, als silence settled over Lower Manhattan, weckte sie auf. Für einen Moment dachten beide, die Stadt vor dem Fenster wäre verschwunden.

Später hörten sie die Glocken, die an den Einschlag des zweiten Flugzeuges erinnerten, dann die Nebelhörner der Schiffe auf dem Hudson, als um zehn Uhr neunundzwanzig der zweite Turm kollabiert war. Den ganzen Tag lauschten sie auf die schreienden und jammernden und sich räuspernden Sirenen, die ständig irgendwo in den Straßen unter ihnen auftauchten und wieder verschwanden. Und auch, als Liz längst schlief, starrte Kalf noch über sie hinweg in den rosaschwarzen Himmel hinein, gegen den sich die alten Wasserspeicher abzeichneten, hölzerne Fässer auf Eisenkonstruktionen mit jeweils drei Beinen, hoch auf den Dächern ehemaliger Fabrikgebäude verankert.

Daphne Abdela, wiederholte er den Namen der jungen Mörderin, von der Albert Snowe erzählt hatte. Auf eine merkwürdige Weise verband ihn ihre Geschichte nun mit New York, und er malte sich aus, wie er das, was er über diese junge Frau wußte, in wenigen Tagen mit nach Deutschland nehmen würde. Und er mußte daran denken, wie Liz ihn, als sie das Manuskript seines ersten Buches gelesen hatte, angesehen und dann einen Satz gesagt hatte, der ihn traf, als habe sie ihm die unabweisbare Zukunft aus der Hand gelesen. Du bist Biograph, Nico! Sie hatte recht damit gehabt, auch wenn er zunächst nichts entgegnet und sie nur blinzelnd gemustert hatte, als müsse er diesen Gedanken erst noch anprobieren. Doch als Gegenstand seines zweiten Buches ergab sich wiederum ein fremdes Leben. Nun, mit vierzig, war die Promotion längst vergessen, und er schrieb an seiner dritten Biographie. Daphne Abdela, dachte er schon im Halbschlaf, ging ins Bad, legte sich wieder zu der tief und gleichmäßig atmenden Liz und schlief, weit nach Mitternacht, endlich ein.

Einmal, als es schon dämmerte und das Hotelzimmer voll kühlem Grau stand, spürte er ihren Arm auf seinem Bauch, doch als er am Morgen aufwachte, sehr spät und trotzdem noch immer müde, lag Liz nicht mehr neben ihm. Der Radiowecker neben dem Bett zeigte zehn Uhr neununddreißig, und der Fernseher lief leise, obwohl er sich ganz sicher war, ihn nicht eingeschaltet zu haben. Und während er sich schläfrig und ohne Argwohn nach Liz umsah, registrierte er auf dem Bildschirm den amerikanischen Präsidenten, der die Stufen zu einem Podium hinaufstieg, hinter sich eine hohe Wand aus schwarzem Porphyr. Im Scheinwerferlicht über Bush leuchteten die weißen Haare Kofi Annans, der die Hände faltete, ohne den Blick vom Präsidenten zu nehmen.

»Mr. Secretary General, Mr. President, distinguished delegates, and ladies and gentlemen: We meet one year and one day after a terrorist attack brought grief to my country, and brought grief to many citizens of our world.«

Das ist hier! schoß es ihm durch den Kopf. Das ist die UN. Das geschieht exakt jetzt. Und während er Bush zuhörte, wartete er zugleich darauf, daß Liz aus dem Bad kommen würde. Doch sie kam nicht.

Nach ein paar Minuten stellte er den Ton ab und ging nachsehen. Dann stand er ratlos in der Mitte des Zimmers und schaute sich gründlich nach einer Nachricht von ihr um, musterte Taschen und Kleider daraufhin, ob sich etwas verändert hatte, doch alles war an seinem Platz. Nur Liz war nicht da.

Obwohl er sich sagte, daß sie sicherlich gleich mit Milchkaffee und Muffins an die Tür klopfen würde, überlegte er doch, an der Rezeption nachzufragen, ob sie weggegangen war. Oder sollte er selbst sofort hinab und hinaus auf die Straße, um sie zu suchen? Er beschloß, noch eine Weile abzuwarten, und stellte den Ton des Fernsehers wieder an. »In cells and camps, terrorists are plotting further destruction, and building new bases for their war against civilization.«

Der Redetext wurde über zwei Teleprompter beidseits des Pults eingespielt. Keinen Moment ließ Bush die Delegierten aus den Augen, sein Blick schweifte wie der eines wachsamen Tieres von links nach rechts und wieder zurück. Wie die gelben Augen eines Wolfes, dachte Kalf und bemerkte zum ersten Mal dieses winzige, hechelnd-bleckende Lächeln bei allem, was Bush sagte. Wie er sich gefiel. »And our greatest fear is that terrorists will find a shortcut to their mad ambitions when an outlaw regime supplies them with the technologies to kill on a massive scale.«

Bei diesem Satz begann das Telephon zu klingeln. Er war sich sicher, daß es nicht Liz sein konnte, und zögerte noch ein weiteres Klingelintervall, wie man sich in einem Traum bewegt, dann erst nahm er den Hörer auf, und eine sanfte Stimme fragte: »Nick?«

»The United States has no quarrel with the Iraqi people!«

»Ja. Wer spricht?«

Die Stimme einer Frau.

»A regime that has lost its legitimacy will also loose its power.« Ein Krieg, dachte er, wird beschlossen. Hier, wo ich bin.

»Liz geht es gut. Du kannst ganz beruhigt sein. Alles Weitere hängt allein von dir ab.«

Der Schreck durchfuhr Niklas Kalf. »Was meinen Sie damit? Wer sind Sie? Und wo ist Liz? Und was hängt von mir ab?«

»Keine Polizei. Verhalte dich heute abend so, als wäre nichts geschehen. Dann findet sich alles.«

»Was soll das? Ich versteh nicht.«

»Alles hängt von dir ab«, sagte die sanfte Stimme noch einmal, dann wurde aufgelegt. »We must choose between a world of fear and a world of progress.«

Er hielt den Hörer noch einen Moment an das Ohr und wartete, daß die Stimme wiederkommen würde. Das kleine, wölfische Lächeln des Präsidenten schwenkte durch das Auditorium. Kofi Annan hatte die Spitzen seiner langen, dünnen Finger vor dem Gesicht aneinandergelegt und hielt seinen Kopf mit den großen, müden Augen etwas schief.

»We must stand up for our security, and for the permanent rights and the hopes of mankind. By heritage and by choice, the United States of America will make that stand.« Der Präsident machte eine Pause und zog seinen kleinen Mund zusammen wie zu einem gehauchten Kuß. Krieg umgab ihn wie Unsterblichkeit. Noch einmal schweifte sein Blick durch den Saal, den er gleich, doch nicht mehr als Politiker, verlassen würde. »And, delegates to the United Nations, you have the power to make that stand, as well. Thank you very much.«

Die roten Ziffern des Digitalweckers neben dem Bett zeigten exakt elf Uhr vier. Erst jetzt realisierte Niklas Kalf wirklich, daß Liz verschwunden war, und dieses Wissen flutete ihn, kalt und schwarz schäumte es durch all die Räume seiner Erinnerung und Selbstgewißheit, nichts als brackige, ölschlierige Angst, die ihn lähmte und in der er widerstandslos und still ertrank, bis noch jener feine, leuchtende Punkt an der Spitze der Zunge, mit dem man »Ich« sagt, einfach verlosch. Seine Hand strich über ihr Kissen, bis nichts mehr darin war vom Abdruck ihrer Gestalt.

Die Zeit / 5.10.2006

Im Abgrund der Bilder.

Kleine Verteidigung des neuen Romans von Thomas Hettche gegen seine großen Kritiker.

Von Ulrich Greiner.

 

Der Schriftsteller Thomas Hettche macht sich gerne sichtbar. In seinen Beiträgen als Juror des Klagenfurter Wettbewerbs, in seinen Äußerungen zum Literaturbetrieb, in seinen literarischen Essays wie auch in seinen Romanen und Erzählungen zeigt er sich als eloquenter, theoretisch versierter Mann, der Ehrgeiz und Kompetenz zu verbinden weiß. In der mittleren Autorengeneration (er ist Jahrgang 1964) gilt er als eine der wichtigsten Stimmen, und mit seinem Roman Der Fall Arbogast (2001) errang er den Beifall der Kritik wie des Publikums. Sein neuer Roman Woraus wir gemacht sind steht an der Spitze der Bestenliste des Südwestfunks und ist einer der Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.

Es konnte nicht ausbleiben – und es nutzt übrigens dem Gespräch über Literatur –, dass sich dieser Erfolgsgeschichte Widerspruch in den Weg stellte, was jetzt in Gestalt eines gründlichen Verrisses des neuen Romans geschehen ist, verfasst von Thomas Steinfeld, Literaturchef der Süddeutschen Zeitung. Er kritisierte die seiner Ansicht nach missglückte Melange aus trivialer Unterhaltung, intellektuellem Anspruch und poetischer Qualität und fand vor allem »metaphysische Gemeinplätze«. Er nannte das Buch eine »Prahlerei« und zitierte einige Sätze, die, isoliert betrachtet, in der Tat etwas schräg wirken. Wenige Tage später nannte Gerrit Bartels in der taz das Buch gleich dreimal »abstrus«.

Die Erfahrung lehrt, dass man mit solcher Sprachkritik nicht unbedingt sehr weit kommt. Die ausgefallene Wendung, das ungewöhnliche Bild geraten schnell unter kritischen Verdacht, während es doch einzig darauf ankommt, wohin eine solche Sprache den Leser führt. In diesem Roman führt sie ihn zu einer Grenzerfahrung, nämlich zu der beunruhigenden Tatsache, dass wir uns selber nie ganz sicher sein können, dass wir uns zuweilen verlieren und nicht genau wissen, woraus wir gemacht sind.

Niklas Kalf, der Held der Geschichte, macht diese Erfahrung, indem er in eine extreme Situation gerät, die ihn nahezu aus der Bahn wirft. Er ist von Beruf Schriftsteller, Verfasser zweier erfolgreicher Biografien und befindet sich zusammen mit seiner schwangeren Freundin auf einer Reise durch Amerika. Er hat den Auftrag, die Lebensgeschichte des deutschen Emigranten und Physikers Eugen Meerkaz aufzuschreiben, und trifft in New York seinen Verleger und seine Übersetzerin.

Wenige Tage nach dem gemeinsamen Abendessen wacht er eines Morgens im Hotel auf und findet das Bett neben sich leer. Während er noch glauben will, die Freundin sei Kaffee holen gegangen, blickt er verschlafen auf den Fernseher, wo George W. Bush zum Jahrestag des Angriffs vom 11. September jene Rede hält, die den Irak-Krieg vorbereiten wird. Da klingelt das Telefon, und eine weibliche Stimme sagt ihm, man habe seine Freundin entführt, es gehe ihr gut, und man werde sie ihm zurückgeben, wenn er bereit sei, seine Kenntnisse über die geheimen Forschungen des Eugen Meerkaz preiszugeben.

»Die roten Ziffern des Digitalweckers neben dem Bett zeigten exakt elf Uhr. Erst jetzt realisierte Kalf, dass Liz verschwunden war, und dieses Wissen flutete ihn, kalt und schwarz schäumte es durch all die Räume seiner Erinnerung und Selbstgewissheit, nichts als brackige, ölschlierige Angst, die ihn lähmte und in der er widerstandslos und still ertrank, bis noch jener feine, leuchtende Punkt an der Spitze der Zunge, mit dem man ›Ich‹ sagt, einfach verlosch.«

Ich kann nicht finden, dass dies schlecht geschrieben ist. Thomas Hettche verfügt über eine suggestive, hoch bewegliche Sprache, die an den Rand des Zuträglichen geht und manchmal darüber hinaus (da hat Steinfeld Recht), aber das ist mir zehnmal lieber als diese schreibschulmäßige Ausgewogenheitsprosa, die man jetzt überall findet.

Es passiert nun aber etwas überaus Seltsames: Niklas Kalf, von seinem Verleger davor gewarnt, die Polizei einzuschalten, macht sich auf eigene Faust daran, die von den unbekannten Entführern geforderten Erkenntnisse herauszufinden, und kommt dabei in eine Kleinstadt irgendwo in Texas. Dort versackt er mehrere Monate in einer träumerischen und zugleich höchst aufmerksamen Apathie, beobachtet die Landschaft, freundet sich mit einigen Menschen an, hat kurze Affären, bricht ab und zu in Tränen aus, scheint Liz aber fast zu vergessen und kommt am Ende eher zufällig auf eine Spur, die ihn zur Lösung des Rätsels führt und schließlich zu seiner Freundin zurück.

Das Merkwürdige daran ist der extreme Tempowechsel. Der Roman geht so schnell und präzise los, dass man sich in einem Thriller wähnt, wird dann aber so langsam, dass man die Geduld verlöre, besäße Hettche nicht die Gabe, diese traumwandlerische Selbstvergessenheit des Helden so zu schildern, dass sie einem nahe geht. Wir sehen, wie sich dieser Mann ohne besondere Eigenschaften selber abhanden kommt, wie er sich auflöst in der endlosen Weite der Prärie, sich verliert in Bildern, die uns irgendwie bekannt vorkommen.

Es sind Kinobilder, es sind Einstellungen wie aus einem Film von Jim Jarmusch oder Wim Wenders, wo eine Totale plötzlich mehr bedeutet als die Geschichte, die erzählt werden soll, wo eine Begegnung scheinbar ganz wegführt von der Handlung, wo zuweilen eine Stille entsteht, die poetische Kraft besitzt, ohne dass wir zu sagen vermöchten, worin ihr Sinn genau liegt.

So auch hier. Dass Hettche dabei immer wieder den zeitweise quasi vergessenen Plot in Erinnerung bringt, dass er am Ende die Geschichte wieder rasant beschleunigt, gehört zu seinem kinomäßigen literarischen Verfahren. Es gibt blutige Zweikämpfe, wilde Verfolgungsjagden, die aber im Wesentlichen keinen anderen Sinn haben, als die Illusionsmaschine in Gang zu halten. Es kommt dabei auf die kriminalistische Glaubwürdigkeit der Konstruktion gar nicht an, so wie in Raymond Chandlers Roman The Long Goodbye das Handlungsgerüst immer unsichtbarer wird – oder wie Jim Jarmuschs Ghost Dog oder Dead Man nicht deshalb große Filme sind, weil sie eine plausible Handlungsabfolge böten. Sie bilden eine Welt aus eigener Kraft.

Das Schöne, auch Beunruhigende an Hettches Buch ist dieser phantasmagorische Reigen der Bilder, die dem Leser im Gedächtnis bleiben. Sie haben mit dem zu tun, was wir alle sehen und gesehen haben, ohne dass wir es uns immer bewusst halten könnten: die Bilder vom 11. September, die eingesickert sind in unsere Träume; die Vorstellungen vom amerikanischen Mythos, wie sie uns das Kino, die Werbung, auch eigene Anschauung vermittelt. Niklas Kalf ist einer, den der Zufall hinabwirft in diesen Abgrund der Bilder, bis er kaum mehr weiß, was Liebe ist, wer er selber ist – und noch die glückliche Heimkehr gleicht ja eher einem Traum als der Realität. Wobei wir eigentlich wissen könnten, dass wir von einem Roman Realität am wenigsten dann erwarten können, wenn er scheinbar realistisch daherkommt. Dieser Roman ist eine Versuchsanordnung, ein intelligentes, ein lehrreiches Spiel. Hettche kann was.


Die Welt / 29.09.2006

Deutsch in der Fremde.

Thomas Hettche packt in „Woraus wir gemacht sind“ eine Roadnovel, einen Amerikaroman, eine Spukgeschichte, eine Verschwörungsgeschichte, einen Wissenschaftsthriller und vieles mehr. Seine Hauptfigur Niklas Kalf muss in seinem intellektuellen Kinderzimmer aufräumen und wird erwachsen.

Von Elmar Krekeler.

 

Bevor wir in den Kulturkrieg ziehen, sollten wir doch erst einmal ein paar grundlegende Fragen zu klären versuchen. Warum wir sind, wie wir sind, zum Beispiel. Wie wir zusammengesetzt sind, aus welchen Puzzleteilen. Was an uns europäisch, vielleicht deutsch ist. Wie innere und äußere Welt voneinander abhängen. Bevor wir uns zu den Großen setzen dürfen, müssen wir aufräumen in unserem intellektuellen Kinderzimmer.

Wir, das allerdings muss hinzugefügt werden, gehören einer Generation an, für die es keine Außenwelt gab. Die dachte, Politik würde in ihrem Leben keine Rolle mehr spielen. Die staunend und ein bisschen scheu am Zaun stand und den anderen beim Leben zusah. Einer Generation zwischen den Stühlen, nicht mehr sehr berührt vom Welterklärungswahn der 68er, noch nicht angekränkelt vom Weltwirtschaftswahn der Golfianer. Wir haben die Vierzig soeben überschritten und merken gerade, dass wir mit unserem feinen, aber auch ein bisschen feigen Lebensentwurf nicht recht weiterkommen in einer aus den Fugen geratenen Welt. In Thomas Hettche haben wir unseren Autor gefunden. Das ahnten wir spätestens nach dem „Fall Arbogast“. Nach seinem neuen Roman wissen wir es.

Und dass wir Niklas Kalf sind. Dass sein Name an das englische Wort für Kalb erinnert, ist wie jeder Satz, jedes Motiv, jeder Faden in Hettches Erzählgeflecht kein Zufall. Denn Hettche packt in seinen vergleichsweise schmalen Roman zwar eine Menge Romane eine Roadnovel, einen Amerikaroman, ein Angstbuch, ein Emigrationsbuch, einen Heimkehrerroman, eine Spukgeschichte, eine Verschwörungsgeschichte, einen Wissenschaftsthriller, eine Faustvariation, einen Bildungsroman -, vor allem aber ist „Woraus wir gemacht sind“ die Geschichte eines Erwachsenwerdens, eines Erwachsenwerdens mit Vierzig.

Niklas Kalf ist also einer von uns. Wässrige Augen hat er, blass ist er und blond. Er ist fast durchsichtig. Und die Kunst, sich unsichtbar zu machen, hat er zur Perfektion getrieben. Ein Leben hatte er eigentlich nicht, er beschreibt Leben. Er ist kein Schriftsteller das zu sein lehnt er ab -, er ist Biograf.

Hettche nimmt diesen falben Helden, der immerhin zu wissen glaubt, wer er ist, und schickt ihn ins Fegefeuer. Gründlich schlägt er Niklas Kalfs Welt entzwei. Es ist der erste Jahrestag des 11. September. Seit einem Jahr ist die Welt nun von einer Drift erfasst, und niemand weiß, was von ihr bleiben wird. In den Nachrichten, die sich wie ein Tickerband durch den Roman ziehen, sieht man den wölfischen George W. Bush die Zähne blecken und in den Krieg ziehen. Zu allem Überfluss wird Niklas auch noch Vater, was das Leben und Denken des lebensuntüchtigen Randautisten zusätzlich durcheinander bringt. Und er ist zum ersten Mal im Zentrum seiner Welt gelandet, im Land seiner Jugendträume, in jenem Land, das er bewohnt hat mit den Augen, in Fernsehserien, in Fernsehnachrichten in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Kaum ist er angekommen, kaum hat er mit seinem amerikanischen Verleger zu Abend gegessen, sich über sein neues Projekt ausgelassen die Biografie eines nach Amerika geflüchteten deutsch-jüdischen Physikers namens Eugen Meerkaz und seltsame Geschichten gehört, da tut ihm Hettche den entscheidenden Tort an: Kalf wacht auf und seine schwangere Frau ist weg. Entführt. Die Entführer wollen kein Geld. Die Entführer wollen Material über ein finsteres Geheimnis im Leben des Eugen Meerkaz. Material, das Kalf nicht hat.

Und dann geht es los, das Aufräumen im intellektuellen Kinderzimmer des Niklas Kalf. Hettche schickt ihn durch einen post-austerschen Verschwörungsplot, dem man vielleicht nicht unbedingt mit den Regeln der Logik kommen sollte (Raketenantriebe spielen da eine Rolle, deutsche Kriegsgefangene in der texanischen Wüste, Anhänger einer okkulten arischen Sekte mit Weltraumambitionen, die eine kalte, aber schöne Killerin auf Kalf loslassen usw. usf.).

Hettche schickt Kalf zum Teufel (einem alten Tankstellenwärter, der fabelhafterweise alle zwei Sätze das Gesicht eines anderen Helden anziehen kann von William S. Bourroughs bis Robert de Niro), und er schickt ihn durch die Wüste. Unter einem leeren Himmel im leeren Zentrum der neuen Welt reibt Kalf sich wund an seiner Unfähigkeit zu handeln. Und er lernt. Dass ein Leben ohne Politik nicht mehr denkbar ist. Was den Unterschied zwischen Rom und Amerika ausmacht. Wie man Deutscher in der Fremde wird. Wie die äußere und die innere Welt in eins gefallen sind. Wie es kam, dass Kalfs Generation sich derart aufs Ästhetische kaprizierte (um die Differenz zwischen amerikanischen Serien und westdeutscher Realität auszuhalten, so Kalfs Vermutung). Wie man handeln muss.

Kalf wird erwachsen. Der Erzähler Thomas Hettche wird es gleich mit, und zwar endgültig. Was Hettche, einem der klügsten Schriftsteller nicht nur seiner Generation, bisher kaum gelungen war, nämlich die Balance zu finden zwischen Poetologie und Prosa, zwischen Denken und Erzählen, das gelingt ihm hier. Sein Roman lässt sich wie eine Zwiebel häuten. Unter jeder Schicht steckt eine neue, jede hängt mit jeder zusammen, jede ist ein Abenteuer. Nicht nur eines des Denkens, auch ein Abenteuer des Lesens.

Und woraus sind wir nun gemacht? Lesen Sie selbst. Unbedingt.

 

Die Welt


Spiegel Online / 15.9.2006

Ein Schlaukopf haut rein.

In Thomas Hettches neuem, für den Buchpreis nominierten Roman ist alles drin: Juden und Nazis, Sex und Crime, Geister und Teufel und jede Menge Zitate aus der alten und neuen Welt. Das ist der Stoff „Woraus wir gemacht sind“.

Von Jan Brandt.

Intellektuelle, die in eine für sie missliche Lage geraten, kommen meistens darin um, weil Survivaltraining während der Ausbildung nicht auf dem akademischen Lehrplan steht. Sie bieten zwar alles auf, was sie gelernt haben, aber Worte erweisen sich eben als wenig hilfreiche Werkzeuge im Kampf gegen die Natur – oder gewalttätige Idioten.

Literarisch sind diese Verzweifelten sehr ergiebig: Ihr qualvoller Untergang ist immer für eine tragisch-komische Geschichte gut. In seinem neuen Roman „Woraus wir gemacht sind“ zeigt der Autor Thomas Hettche jedoch, dass es nicht zwangsläufig zur Katastrophe kommen muss und Intellektuelle durchaus fähig sind, mit aller Härte zurückzuschlagen…

 

Spiegel online


Neue Zürcher Zeitung / 12.09.2006

Auf eigene Faust und Rechnung.

„Woraus wir gemacht sind“ – Thomas Hettches Roman ist auch eine Liebeserklärung an Amerika.

Von Roman Bucheli.

 

Der Mann hat in seiner Jugend ganz entschieden zu viele amerikanische Filme gesehen. Hilf dir selbst, oder es hilft dir keiner: So mag seine unausgesprochene Lebensdevise lauten, für die ihm Hollywood die Vorbilder geliefert hatte. Doch das allein würde den Wahnsinn nicht erklären, auf den sich Niklas Kalf in Thomas Hettches neuem Roman „Woraus wir gemacht sind“ eingelassen hat: Ein halbes Jahr lang jagt er quer durch die USA hinter einem Phantom her, um seine von Erpressern entführte schwangere Frau zu befreien. Ebenso sehr beigetragen zu diesem Alleingang hat der unwiderstehliche Sog, den das Land auf Niklas Kalf ausübt: Amerika erscheint ihm, auch wenn es wir schreiben zu Beginn der Handlung den 11. September 2002 auf halbem Weg zwischen einer Katastrophe und einem Krieg steht, wie das verheissene Land. Denn hier fügen sich die Dinge zu den Namen, die ihm seit frühester Jugend in den Ohren klingen.

Diesem Zauber hat Kalf zumal in der Verzweiflung nichts entgegenzusetzen. Dass er die Polizei nicht aufsuchen soll, muss man ihm nicht lange sagen. Aus Filmen weiss er, dass in diesem Land jeder sich selbst der Nächste ist. Auf eigene Faust und Rechnung muss ein Mann hier tun, was ein Mann zu tun hat. Am Ende, nach mehreren tausend Kilometern, nach zwei überstandenen Mordanschlägen und einer langen Suche nach mysteriösen Papieren, geht dann freilich alles sehr schnell, es ist bezeichnenderweise lediglich eine Frage der punktgenauen Imagination: Niklas steht ganz dicht vor seinem Peiniger, bereit, ihm mit einem finalen Fausthieb das Nasenbein weit in den Kopf zu treiben. „Er überlegte noch, dass es wahrscheinlich bei einem solchen Schlag darauf ankäme, das Ziel imaginär hinter die Grenze der Haut, also in den Kopf hinein zu versetzen, um zu vermeiden, vor dem Schmerz des Schlages zurückzuzucken.“ Der Erfolg ist im Wortsinn durchschlagend und zur Befreiung der Frau und des inzwischen geborenen Kindes sind es dann gerade noch ein paar Schritte.

Man sollte Thomas Hettches Roman nicht zu sehr an den Kriterien der Plausibilität messen wollen. Sein Held steht gleichsam ausserhalb solcher Erwägungen, denn im Augenblick, als er im Land seiner stillen Sehnsucht ankommt, gerät er in einen Ausnahmezustand. Was er fortan tut, steht jenseits rationaler Begründung. „Jeder betritt Amerika in seinen Träumen zuerst“, weiss Kalf. So führt denn sein naiver Glaube an die inneren Bilder, die sich in der Wirklichkeit ihre Erfüllung und Bewährung suchen, fortan Regie; dass ihm von dort auch das Rettende naht, kann er da noch nicht einmal ahnen.

Thomas Hettche hat einen durchaus drastischen Thriller geschrieben, der die Leser in rasendem Stillstand quer durch die USA, von New York nach Los Angeles, führt. Doch der Roman um Niklas Kalf, der eine Biografie des vor den Nazis in die USA geflüchteten und dort bei Experimenten mit einem neuartigen Raketenantrieb zu Tode gekommenen Physikers Eugen Meerkaz schreibt, erzählt neben dem eigentlichen Plot noch einmal eine ganz andere Geschichte. Und diese handelt von der Sehnsucht nach einem Land, das sich die jugendliche Vorstellungskraft einst als Traumlandschaft erschaffen hatte. Es erweist sich jedoch, dass die Wirklichkeit weit hinter der Imagination zurückbleibt. Doch nun geschieht das Verblüffende: Gerade dies die Ernüchterung stärkt die Zuneigung zu dem Land der einstigen Träume.

Thomas Hettches Thriller ist denn vor allem eine Liebeserklärung an das verwirrende, das vielfältige und wandlungsfähige Amerika. Denn jenseits der aus der Vorstellung gewonnenen Bilder entdeckt Niklas Kalf eine Welt, die ihm auf eine irritierende Weise zugleich fremd und vertraut ist. Und so gelingt es Thomas Hettche, einen Amerika-Roman voll innerer Bewunderung und stiller Zuneigung zu schreiben in einer Zeit, da es gerade in Europa wieder einmal sehr chic geworden ist, mit einem gewissen Geschichtsdünkel auf Amerika hinunterzuschauen.

Niklas Kalf ist nicht frei von solchen Anwandlungen; doch hat bei ihm das Klischee noch nicht die Form der Herablassung angenommen, sondern eher eine biedere Naivität bewahrt. Zwar wetterleuchtet es gewaltig hinter den Kulissen des Romans. Amerika mobilisiert seine Streitmacht, und Kalf kann einem damals geläufigen Denkbild, das Amerika mit dem römischen Imperium verglich, nicht widerstehen. Doch zuallererst und jenseits der Politik, für die er sich dann doch wenig interessiert, haben es ihm die Weite und die Leere der Landschaft angetan; sie sind ihm ein Reflex der angeblichen Geschichtslosigkeit des Landes. Rom oder Barcelona mit ihren archäologischen Ablagerungen vor Augen, erscheinen Kalf die aus dem Nichts erbauten Städte in Texas oder die unberührten Landschaften gänzlich unbelastet von jeglicher Geschichte.

Dass dann Kalf gerade hier, in Marfa, Texas, in Form eines einstigen Kriegsgefangenenlagers aus dem Zweiten Weltkrieg einen Ausläufer der deutschen Geschichte (und zuletzt auch die von den Erpressern gesuchten Papiere) findet, ist eine ironische Pointe in Thomas Hettches Roman, mit der die Wunschvorstellung einer Geschichtslosigkeit des Landes auf brutale Weise Lügen gestraft wird. Thomas Hettches Roman ist daher auch ein kluger Kommentar zu der weitverbreiteten, wohlfeilen Amerika-Feindlichkeit, die im Grunde auf einer enttäuschten Liebe beruht: Man hatte gehofft, in Amerika das bessere Selbst zu finden, und trifft daselbst doch nur auf eine kriegführende Nation und also auf eine Wiederholung der (eigenen) Geschichte.


Frankfurter Allgemeine Zeitung / 19.08.2006

Im Inneren des Imperiums.

Liebe und Absturz in Amerika: Thomas Hettche erzählt die Geschichte einer Entführung.

Von Heinrich Wefing.

Nein, eigentlich sei er kein Schriftsteller, erklärt Niklas Kalf, der seltsam durchsichtige Held von Thomas Hettches neuem Roman „Woraus wir gemacht sind“, gleich zu Beginn des Buches seinem New Yorker Verleger. Er sei „Biograph“. Einer, der sich in fremdes Leben einnistet, in die Haut eines anderen schlüpft, ein Profi, der schon dank weniger Details Witterung aufnimmt für eine unbekannte Identität….

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung


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Was liest...

  18.9.2006.

Zu erklären, warum ich mich momentan ausgerechnet für John Parsons interessiere, würde zu weit führen. Sagen lässt sich jedoch, dass es sich bei dem 1914 in Pasadena geborenen John Whiteside Parsons um jemanden handelt, für den der Begriff «Schillernde Figur» erfunden worden sein könnte: ein Chemiker, dessen Fachgebiet Sprengstoffe waren, der über Raketenantriebe forschte und sich 1952 bei einer mysteriösen Explosion in seiner Villa in die Luft sprengte. Eine Lebensgeschichte aus der Anfangszeit des «Jet Propulsion Laboratory», das in den ideologisch etwas unsicheren Zeiten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg noch zum «California Institute of Technology» gehörte. Als ich Judy R. Goodsteins Buch über die mutmaßlich reichste Universität der Welt endlich bekam, wunderte ich mich zunächst, dass Parsons dort kaum erwähnt wurde.

Erst später begriff ich, warum Frau Goodstein als Bibliothekarin der Caltech nicht allzu gut auf ihren ehemaligen Kollegen zu sprechen ist, nach dem zwar ein Krater auf dem Mond benannt ist, aber auch ein Konvolut des FBI. Denn auch wenn es auf der FBI-Homepage heißt, «the investigation developed no indication that Parsons was acting on behalf of another country», führt eine Recherche über das Leben Parsons’ doch direkt in die Halbwelt des Pulp. So trägt ein Buch über ihn im Original den schönen Namen «Sex and Rockets», was mit «Raumfahrt, Sex und Rituale» im Deutschen etwas matt wiedergegeben wurde, auch wenn der eher abseitige Hadit Verlag damit durchaus klar macht, dass man sich auf der Spur Parsons’ ins Spannungsfeld von Raketentechnik und Okkultismus begibt. Dort begegnet man um Parsons beispielsweise einem Kreis von Science-Fiction-Autoren, zu dem auch Ray Bradbury und Robert Heinlein gehörten. Und, wie man verblüfft feststellt, auch der damals noch sehr junge L. Ron Hubbard, der sich als Schriftsteller versuchte, bevor er Scientology gründete.

Der Geheimbündler und Drogenfreund Aleister Crowley – auf den Parsons große Stücke hielt – war in diesem illustren Kreis eine Autorität. Man munkelte, wie üblich in solchen Fällen, von blutigen Ritualen und jungfräulichen Medien. Doch wenn man sich heute durch die Internet-Sites zu Parsons klickt, versteht man schnell, dass der Okkultismus längst von der Paranoia beerbt wurde, deren Hallraum noch immer Thomas Pynchons Roman «Gravity’s Rainbow» («Die Enden der Parabel») bildet. Will man indes konkreter wissen, auf welche Weise die sehr besondere kalifornische Verquickung von Zukunfts- und Mysterienglaube sich bildete, lese man «City of Quartz», Mike Davis’ Untersuchung der Geburt der kalifornischen Mythen aus dem Geist der Wüste.

Wenn man lange die Fotos betrachtet, die es von Parsons gibt, einem echten Smart Guy mit Menjou-Bärtchen und Gel im Haar, nimmt man sich vielleicht nach langen Jahren wieder einmal Kenneth Angers «Hollywood Babylon» vor und verliert sich eine Weile in Anekdoten, die wie die Bebilderung des Lebenslaufs meines momentanen Helden wirken. Auch Arturo Bandini könnte einem dann wieder in den Sinn kommen, das Alter Ego John Fantes. Ich selbst war jedenfalls nach einer Weile überzeugt, dass es letztlich nur ein sehr kleiner Schritt vom Devil’s Gate Dam oberhalb Pasadenas, wo Parsons seine Raketenexperimente durchführte, zu den trostlosen, abgedunkelten Wohnzimmergeschichten Charles Bukowskis ist. Dessen Helden spähen zwischen zwei Schluck Bourbon und einem nassen Kuss durch die Jalousie hinaus in den Himmel über L. A., dessen gnadenlose Bläue nichts verdient als Rausch und Raketen.

Der Tisch hatte sich gefüllt. Hinter den Bücherstapeln, auf dem Bildschirm, bunte blinkende Schriftzüge auf der Website eines amerikanischen Verschwörungstheoretikers. Joan Didion fehlt noch, dachte ich, und ging noch einmal zum Regal hinüber.

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07/2006.

  Photo Herlinde Koelbl.
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Saisonende.

  6/2006.

Die Halle ist von gedämpftem Stimmendurcheinander erfüllt. Die Hotelgäste kommen vom Skifahren zurück, an der Rezeption sieht man noch einige verschwitzte, im Sportdress etwas verkleidet wirkende ältere Herrschaften, doch in der Halle ist man bereits frisch geduscht und umgezogen, mit rosa Poloshirts und Cordhosen und blauen Hemden. Kleine Mädchen, die eben noch mit einem Helm auf dem Kopf herumstapften und Skistöcke hinter sich her zogen, schieben nun hölzerne Kinderwagen, mit Spitzen und Bordüren besetzt, in denen Puppen liegen mit Köpfen aus kostbarem Bisquitporzellan.

Vor der Reihe hoher Fenster, die sich als sanfte Apsis in die Natur hineinwölbt, ziehen die kahlen Lärchen und einige schmale Tannen ihre senkrechten Linien zum Himmel, während man Tee trinkt und die Urlaubslektüre auspackt. Die Damen lesen Nadolny oder aus aktuellem Gedenktaganlaß Siegfried Lenz. Die Großeltern spielen mit den Enkeln. Und wo ist der Papa? Telephoniert er mit der Firma? Schießt er ein letztes Mal für diesen Tag den Hang hinab? Gewiß ist: Zum Abendessen wird er wieder dabei sein. Doch jetzt fehlt er, während Sohnemann blondgelockt am Tischchen steht, das er kaum überragt, und ihm die Mutter ein Glas SCHWAPPEL hinhält, die ökologische Apfelsaftschorle von Möhl.

Alles ist an seinem Platz. Nur ich bin es nicht. Ich sollte nicht hier sein, nicht im Hotel Waldhaus in Sils Maria, sondern irgendwo in St. Moritz, dem Grund meiner Reise. Zwei Stunden, hatte man mir versichert, gehe man von einem Ort zum anderen, ein Spaziergang die Seen entlang. Doch leider sind die Seen verschwunden. Und mit ihnen das ganze Tal. Und als ich mich zu jenem Gedenkstein aufmache, der die Stelle markiert, an der Nietzsche im Sommer 1881 die Idee mit der Ewigen Wiederkehr hatte, wird mir schnell klar, daß ich die berühmten Notiz in ECCE HOMO ernster hätte nehmen sollen, die 6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit überschrieben ist. Kaum bin ich durch den Wald einen verschneiten Weg hinab, bei dem ich überlege, ob es sich nicht um die Rodelbahn handelt, die der Hotel-Prospekt erwähnt, erwischt mich ein gnadenloser Wind, der kalt und scharf über die Hochebene pfeift und sein Tuch dichten Schneegestöbers ausbreitet.

Einzig ein baumbestandener Hügel erhebt sich aus dem Weiß, den ich gern als jene berühmte Halbinsel identfizieren würde, die Nietzsche so sehr mochte, wenn sich nur die Lage des Sees bestimmen ließe. Da und dort ragen Rettungsringe aus dem Schnee. Verlassene Langlaufloipen kreuzen. Bei einer der scheinbar wahllos verteilten Bänke, die sich zu keiner Küstenlinie fügen wollen, bleibe ich entmutigt stehen und ziehe den Kragen meines dünnen Mantels über Ohren und Nase. S’BÄREBÄNKLI steht eingeschnitzt auf der hölzernen Rückenlehne.

 

Entenleberterrine mit Vanillemuffin. Danach eine Rindskraftbrühe. Fritiertes Hechtkotelett mit Konfit von Biozitronen, kleine Ofenkartoffel und Blattspinat. Ein Trio vom Isola-Zicklein – gebratener Schlegel und Rücken und kleine hausgemachte Wurst – , Maisgnocchi mit geschmolzenem Käse, glasierte Karotten und Pastinakenstäbchen. Warum ausgerechnet Pastinaken? Unweigerlich muß ich an Dagobert Duck denken, der in der deutschen Übersetzung von Erika Fuchs einmal, als Inbegriff der Gräßlichkeit, Pastinakenpudding vorgesetzt bekommt.

Als Nachtisch ein Timbale von Quarkmousse mit Zitrone und Broumbeermousse, Kirscheis, Feingebäck und Pralinen. Was St. Moritz ausmache, frage ich nach dem Abendessen in der Bar den Zürcher Anwalt, der mir erklärt hat, er logiere seit zwanzig Jahren mit Familie im Waldhaus.

„Das fahrplanmäßige Schönwetter, die grandiose Alpenkulisse, der berechenbare Schneefall und die Champagnerluft auf eintausendachthundert Metern Höhe.“ Doch alles habe sich verändert.

Was er meine?

Früher war man mehr unter sich. „Damals sind die Leute doch nicht einfach ins Palace gelaufen. Das Palace war früher wie ein Bankgebäude, da gab es Schwellenangst.“

Und heute?

Ach, heute. Die knochige Dame mit den Altersflecken auf den sehr dünnen Händen, die ein Portweinglas neben ihrem Gesicht balanciert, winkt ab.

„Grand Hotels gehören heutzutage Mäzenen!“ Als Spielzeug. Für’s Renomee. Das Palace den Amerikanern, den Arabern das Carlton, das Kulm der griechischen Reederfamilie Niarchos.

„Ist einer von denen nicht mit Paris Hilton befreundet?“

Die alte Dame schließt leicht angewidert die Augen. „War“, sagt sie, „war!“

„Und die Gäste?“

Die Leute von früher seien alle noch da. „Aber man entzieht sich der Demokratisierung des Luxus, verstehen Sie.“ Sie sieht mich eindringlich an und nimmt einen winzigen Schluck Port. „Der Jet-Set der sechziger Jahre, der sich mit dem Boulevard verbündet hatte, ist schuld daran, daß der wirkliche Reichtum sich heute unsichtbar macht.“

Wie das gehe, will ich wissen.

„Sie sind alle nicht mehr in den Hotels“, erklärt sie.

„Und wo denn?“

In ihren Villen. Am Suvretta Hang. „Ich sehe hundert Milliarden Dollar, wenn ich diesen Berg hochschaue.“

„Hundert?“ mischt sich der Anwalt ein. Zweireiher mit goldenen Knöpfen. Einstecktuch mit goldenen Muscheln darauf. „Da ist der Topf ja schon voll, wenn Bill Gates landet.“

 

Die Fenster meines Zimmers öffnen sich ins Tal in Richtung St. Moritz, doch man sieht nichts, nicht die berühmten Gipfel, nicht Seen und Land. Das Licht der Bergstation quillt aus Schnee und Nebel hervor, der Talboden eine weiße, wabbernde Fläche. Nietzsche schreibt an seine Mutter: Ich sehe nach dem Thermometer im Zimmer: 8 Grad Réaumur. Dabei schneidende Winde, und das unbeständigste Wetter, welches auch den Engadinern unangenehm und nachtheilig ist. Ich liege im Bett und denke: Was für ein schönes Wort – nacht-heilig. Es dauert lange, bis ich das th von Teil begreife. Um zu wissen, was die Termperaturangabe bedeutet, muß ich nur das Büchlein zur Seite legen, aus dem Bett schlüpfen und das Thermometer neben dem Fenster betrachten, das wie vor hundert Jahren beide Skalen aufweist, Celsius und Réaumur. Nietzsche hatte es gut, denke ich, und schlafe ein.

Am nächsten Morgen schneit es noch immer. Das Licht ist diffus. Ich lasse mir das Frühstück ans Bett bringen und lege Nietzsche beiseite. Stattdessen beginne ich einen Roman aus der Hotelbibliothek mit dem vielversprechenden Titel SONNE VON ST. MORITZ, ein schöner Ullsteinband mit Jugendstilschmuck von 1910. Morgens, gleich nach zehn Uhr, lese ich, blitzte drüben links neben dem gewaltigen Schneekegel jenseits vom See ein Lichtpunkt auf, gleich darauf stand das Tal zwischen Silvaplana und Campfér im strahlenden Sonnenlicht, die breite goldene Flut rollte näher und näher, erfaßte den Rundbau des neuen Segantini-Museums und die ersten Villen des Dorfes, übergoß die im Schnee schlafende Sommerstadt, das Bad, erreichte die majestätischen Winterhotelkasten, das Palace-Hotel, oben den Kulm – und endlich auch die hellgelbe Fassade des siebenstöckigen Grand Hotel. 

Die Sonne drang Zug um Zug in alle vierhundert Fenster und weckte die letzten Langschläfer. Tiefblau der Himmel, bläulich weiß die zackigen Alpenhäupter, nirgends ein Wölkchen, die Nachtkälte löste sich über dem Talgrund in weißliche Dunstschleier, die weite, weiße Schneelandschaft, in der nur die freigeschaufelte Rennbahn unten auf der gleichmäßig verschneiten ebenen Fläche die Umrisse des darunter liegenden dick vereisten Sees verriet, war in Sonnenlicht gebadet. Klingelnde Gespanne entführten ganze Züge von Rodlern und Rodlerinnen, die auf ihren kleinen Schlitten hockend, sich unter Lachen und Kreischen die großen Serpentinenwege nach Belvoir ziehen ließen. Die Eisbahnen hinter den Hotels, die im Sommer als Tennisplätze dienten, füllten sich mit Kunstläufern und fleißig übenden Laien jeden Alters. Auf den Straßen nach Campfér, nach dem Bad und der Ober-Alpina tauchten Skiläufer auf.

Anders als im Roman von Paul Oskar Höcker ist jetzt Anfang April und keine Saison in St. Moritz. Ende März schließt alles und sofort beginnt der Umbau. Drei Monate hat man Zeit bis zum Beginn der Sommersaison. Im Suvretta Hause, hört man, sollen zwanzig Millionen Franken verbaut werden. Das Kulm Hotel feiert einhundertfünfzigjähriges Bestehen. In den letzten fünfzehn Jahren hat man weit über einhundert Millionen Franken investiert.

Der Niederschlag kann sich nicht zwischen Schnee und Regen entscheiden, und der Himmel denkt gar nicht daran, aufzuklaren. Die großen Hotels ankern als stumme, blinde Kästen im schwindenden Winter. Neben dem Turm des Palace wird gerade ein Kran montiert. Alle Straßen sind von den Vans der Kaminbauer und Schwimmbadtechniker zugeparkt, die Schaufenster der Via Serlas, in der Saison der Laufsteg des Ortes, leergeräumt und die Bilder der Galerien längst zurück in Zürich. Nur die Apotheken sehen jetzt noch aus wie Juweliere. Kleine grüne Kästen mit der Bezeichnung Robidog. Und auch, wenn St. Moritz so schmutzfrei ist wie Singapur, ist doch in den Straßenschluchten dieses Dorfes, wie die Weltwoche einmal voll Abscheu schrieb, der Modergeruch von Tunnels zu schnuppern.

Dennoch stapfe ich zum Hotel Kulm hinauf und zu den Resten der Eisbahn nach Celerina hinab, warte vergeblich auf Blondinen im Pelzmantel an der Pralinentheke bei Hanselmann und schlittere über pappigen Schnee zur verhängten Drehtür des Palace. Ich suche die Chesa Futura des Sir Norman Foster, das Segantini- und das Berry-Museum, steige zum Suvrette House hinauf und gehe nach St. Moritz Bad hinunter, wo ich die Ausverkaufsauslagen der Geschäfte mustere. Die Säulen in St. Borromäus sind aus Scheiben und Trommeln kostengünstig zusammensetzt wie ein Anker-Baukasten. Hotelarchitektur, die eine frühchristliche Basilika camoufliert. Ich stehe im Windfang einer Bushaltestelle und sehe den Hang hinauf, über den der Schneeregen hinweggeht. Nichts von dem, wie das Dorf einmal war, ist noch zu erkennen. Das Licht ist stumpf und der Himmel steht tief über dem Tal.

Während der Rückfahrt im Bus geben mir die Touristen in Overall und Helm das Gefühl, als seien wir alle Astronauten und in einem Shuttle zur Startrampe unterwegs. Die Scheiben ringsum so mit dynamisch stürzenden, hüpfenden, springenden, jubelnden Figuren beklebt, das man kaum einen Blick nach draußen erhascht. Mühsam schaufeln die Scheibenwischer den schweren, nassen Schnee zur Seite. Um die Füße der Astronauten bilden sich Pfützen auf dem schwarzen Noppenboden. Nächste Haltestelle Champfèr Guardalej. Tschamfair Ladaläi. Tscham Fair La Daläi. Tschamfairladaläi. Die Ansage eine Beschwörungsformel von solch sanfter Weicheit, daß selbst die Automatenstimme sie nicht zu zerstören vermag. Wohin geht der Flug?

 

Der Barmann stellt zwei langstielige Schnapsgläser auf die Theke.

„Wie siehts’s aus? Geht man noch ins Palace?“, frage ich ihn. „Sie müssen sich doch auskennen!“

„Doch, natürlich“, sagt er leise. Immer. Das Publikum habe sich in den letzten vier, fünf Jahren allerdings sehr verändert.

Inwiefern? Die Russen! „Ach ja?“

Er nickt ernst. „Zuerst“, sagt er, „kam die Halbwelt. Jetzt kommt eine breite Schicht neuen Geldes aus Rußland. Sehr gute Gäste.“

„Was heißt das?“

„Sie geben mehr aus. Und darum geht es ja bei Touristen.“

„Es geht hier nur ums Geld.“ Der schwäbische Architekt, den ich an einem der letzten Abende kennengelernt habe, beugt sich vor, während er seine Zigarre über meinen Kopf hält. „Fragen Sie nach der Villa Böhler! Sie müssen nach der Villa Böhler fragen, wenn Sie verstehen wollen, wie geldgierig und korrupt das Engadin ist.“

Sein Atem, der mir gegen das Gesicht schlägt, riecht sehr stark nach Obstschnaps. Sehr gutem Obstschnaps. Er hebt eines der beiden Gläser und prostet mir zu.

„Was meinen Sie denn?“ frage ich abwehrend.

Er glotzt so spöttisch und gleichgültig, wie es nur Betrunkene können.

„Die Villa Böhler kennen Sie?“ Er wartet meine Antwort nicht ab. „Eine Inkunabel der Moderne! 1917 von Heinrich Tessenow gebaut. Ganz reduziert, ganz einfach.“ Er biegt den mächtigen Schädel zurück und bläht seine Wangen mit dem Rauch der Zigarre auf. „Einfach wunderbar!“

„Und?“

„Und? Das Haus hatte das Pech, neben dem Neubau von Freddy Heineken zu stehen zu kommen, dem holländischen Bierbrauer, der sie kaufte und abreißen wollte.“

„Und weiter?“ frage ich noch einmal.

„Denkmalschutz, Verhandlungen, Hin & Her, aber Heineken läßt nicht locker. Schließlich kommt es zu einer Volksabstimmung.“

„Und?“

„Und? Die St. Moritzer entscheiden, daß das Gebäude keinen denkmalschutzmäßigen Wert darstelle.“

Nein!“

„Doch. Noch in derselben Nacht rücken die Bagger an.“

Ich nicke und leere das andere der beiden Gläschen mit der ballonförmigen Ausstülpung über dem langstieligen Fuß, während der Architekt mit seiner Zigarre schon den Barmann herbeiwinkt.

 

Wo ich hier sitze, ist es 1892 Meter über dem Meeresspiegel, und das äußert sich so, daß man vollständig berauscht ist von der Luft und aller Erdenschwere ledig. Wie wennste schwebst. Es ist in der Art, mecht ma sprecha, das Antipodium von Kampen, aber in der Qualität genau dasselbe. Das einzige, was man mir nach Kampen überhaupt offerieren konnte. Siegfried Jacobsohn, Herausgeber der Weltbühne, an seinen Autor Kurt Tucholsky. Der freundliche Kellner füllt die Etagere auf dem kleinen Tischchen vor meinem Sessel mit Gebäck.

Adorno und Benjamin, Benn und Celan, Frisch und Hesse, Thomas Mann, Proust und Bloch – die Liste der Autoren, die über das Engadin geschrieben haben, ist lang. Doch je mehr ich über St. Moritz lese und mich dabei dem Rhythmus des Hotels überlasse mit seinem immer gleichen Tagesablauf und dem Wechsel zwischen Zimmer und Speisesaal und Leseraum und Halle, um so mehr verliere ich St. Moritz aus dem Blick. Es wird, vom Waldhaus aus betrachtet, zu einem gänzlich ungreifbaren, künstlichen Phantasma. Und nichts, was ich dort auf meinem Spaziergang gesehen habe, macht es realer.

Ich lese von Nijinskis letztem Tanz im Speisesaal des Suvretta House im Winter 1918. Der Krieg war gerade zu Ende. Nijinski habe zunächst einfach nur dagesessen und sein Publikum angesehen, bis man unruhig zu werden begann. Das kleine Pferd ist müde, habe er dann gesagt. Und getanzt. Am nächsten Tag diagnostizierte Professor Bleuler in Zürich unheilbare Schizophrenie. Ich lese ein Gedicht von Karl Kraus über eine Fahrt ins Fextal und einen oft zitierten Brief Rilkes, in dem er schreibt, es komme ihm so vor, als hätte die Bewunderung unserer Groß- und Urgroßeltern (…) an diesen Gegenden mitgearbeitet. Hier gäbe es alles – und zwar in Pracht-Ausgaben.

Manches aber von dem, was es gibt, wird nur selten in den Prachtausgaben zitiert. Stefan Zweigs Text von 1916 etwa, der den Titel Bei den Sorglosen trägt, und in dem er angewidert die Vergnügungen der Hotelgäste während des Weltkrieges schildert. Man horcht zwischendurch auf die Worte. Französisch, deutsch, italienisch, englisch – sie haben keine Heimat, die Sorglosen, sie sind von überallher. Und sie haben keine Väter, keine Brüder, keine Gatten, die sterben – man sieht es an ihren leichten Lippen. Aus welcher Warte soll man diesen Ort betrachten? Ich lese bei Benjamin: Manchmal frage ich mich, wenn ich so die Berge sehe, wozu überhaupt noch die ganze Kultur da ist. Ich lese jenen Brief Georg Kaisers aus dem zweiten Weltkrieg, der den Kurgast Jesu imaginiert. Es ist erschütternd, wie Jesus, der mit den durchnagelten Schuhen nicht gehen kann, im Rollstuhl in die Hotelhalle gefahren wird. Seine Hände stecken in weißen Handschuhen. 

 

„Die Gefahr besteht, daß man sich solche historischen Hotels wie das unsere nur mehr zu besonderen Anlässen einkauft.“ Urs Kienberger, Direktor des Waldhauses in der dritten Generation, lächelt verhalten.

Der Großvater Oskar hat das Hotel bald nach der Gründung 1908 übernommen und bis in die fünfziger Jahre geführt. Unter ihm gab es 1924 die erste Wintersaison. Sohn Rolf baute 1970 das Schwimmbad, beließ es aber ansonsten bei vorsichtigen Renovierungen. So profitiert man heute von der Begeisterung des Publikums für eines der wenigen, weitgehend original erhaltenen Fünfsternehäuser aus der großen Zeit der Grand Hotels. Urs Kienberger spricht leise, wenn er davon erzählt, wie er und seine Geschwister im Hotel als Kinder spielten. Und welche Etikette für sie galt. Niemals durch den Haupteingang. Sich nicht bedienen lassen. Er erzählt, in welcher Ecke der Schaukelstuhl stand, in dem er sich lesend vor den Gästen verbarg.

Und in seinem Gesicht bleibt das Lächeln stehen, während er sich mit seinen hellen Augen in der Halle umsieht. „Zu Hochzeiten und ähnlichen Gelegenheiten sucht man sich dann einen solchen Rahmen, um damit etwas Repräsentatives zurückzuholen für kurze Zeit, eine verlorene Bürgerlichkeit. Aber wir wollen, daß man hier man selbst ist. Ein Gefühl von zu Hause hat.“

Aber warum sollte man zu Hause Ferien machen wollen? In die Ferien fährt man doch, um dem normalen Leben zu entkommen. Oder stimmt das etwa gar nicht? Fährt man in die Ferien, um bei sich anzukommen? Sozusagen in einem Zuhause zweiter Ordnung? Und macht vielleicht gerade das jenes Faszinosum Nietzsche in Sils aus, das nicht verschwinden will – die Anwesenheit von einem, für den es körperliche und geistige Notwendigkeit war, hier zu sein. Es atmet diese Landschaft, wie Adorno schreibt, keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz Nietzsches, der dort sich versteckte. Noch jeder Sommerfrischler liebäugelt mit dem Gang über die Baumgrenze und selbst das Waldhaus probt ein bißchen die konservative Revolution.

Ich versinke in der Sessellandschaft der Hotelhalle, als wäre ihr plüschiges Rosa und Eisblau der Wasserspiegel eines warmen Bades, in dem die Gäste bis zu den Schultern sitzen, im gedämpften Gespräch oder einfach nur darüber nachsinnend, wie die Zeit vergeht. Da ist die Mittvierzigerin wieder, die immer Stiefel trägt. Man hört ihren harten Schritt, noch bevor man sie sieht. Immer ist sie schulterfrei unter wechselnden Jacken und schon kenne ich die Geste, mit der sie irgendwann ihr Jäckchen abwirft und ihre Schultern entblößt wie ein Matador, der seine ganze Körperspannung in die Waagschale des Todes wirft. In guten Momenten will man ihr glauben. Registriert ihren ernsten Blick und die tiefen Falten um den Mund. Die schmerzhaft gebräunte Haut. Die Haut ihrer Armkugeln ist weich und älter als die ihre Gesichts.

Oder der Mann dort mit der Jungenfrisur. Er ist um die fünfzig. Halsnaher dunkelblauer Pullunder, der nur gerade den ebenso dunkelblauen Krawattenknoten freigibt. Einer dieser breithüftigen Männer. Der Mund ein kleiner eingesunkener Krater. Neben ihm seine Frau. Schwarzes, sehr dichtes Haar, das sie mit einem schwarzsamtenen Haarband nach hinter trägt. Eine breite Perlenkette, ebenso halsnah wie sein Pullover. Sie reisen mit ihrer Mutter, die immerzu spricht, während ihr Sohn und seine Frau sich nicht ein einziges Mal ansehen. Hier, in der Hotelhalle, fand die Gesellschaft der Belle Époque ihren utopischen Ort. Hier konnte sie sich Egalität leisten, weil die Exklusionsstrategien des Grand Hotels im Fluchtpunkt des Oberengadins so perfekt funktionierten.

Immer wieder habe ich über die berühmte Sommersaison 1911 gelesen. Neunundzwanzig Grad über Wochen hinweg. Die Fremdenlisten, die damals alle Hotels stolz veröffentlichen, verzeichnen einen Querschnitt der besseren europäischen Gesellschaft. Man beschließt, aus Sicherheitsgründen einen Geheimpolizisten anzustellen. Dann der Kriegsausbruch 1914. Die Gäste reisten überstürzt ab. Das Fremdenblatt schreibt: Wir müssen Abschied nehmen für diese Saison, frühen, wehmutsvollen Abschied, das Herz voll Sorge und Kummer, aber auch voll Unmut und Scham über den Zusammenbruch der vielgerühmten Zivilisation des alten Europa.

 

Woher aber kommt die Beharrlichkeit, mit der St. Moritz seitdem nicht aus der Mode kommen will? Das ST. MORITZ PRESSE-BULETTIN des Tourist Boards berichtet, die Zahl der Direktflüge von Privatjets zwischen Moskau und St. Moritz haben in der letzten Wintersaison um fünfundsechzig Prozent zugenommen. Laut Flughafen Samedan erreicht die Ausfuhr der in St. Moritz gekauften Luxusgüter erkleckliche Ausmasse. Capri und St. Moritz planen eine strategische Allianz, denn seit mehr als einem Jahrhundert hätten beide Ferienziele eine ähnliche Gästeschaft. In der chinesischen Boomrovinz Shenzhen entsteht gerade die St. Moritz City. Was ist es, was die Menschen hier finden? Die Nähe des Himmels? Den Schnee, die Kälte, die Stille, die Klarheit der Luft? 1856 Meter über dem Meer? Oder ist es die Ahnung des eigenen Verschwindens?

Das Unberührte jenseits der Baumgrenze, schreibt Adorno, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend den Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht. Ich liebe dieses schon. Es reißt uns in die Weltallkälte hinaus. Das, was uns blüht, ist in diesem schon avisiert, und uns blüht nicht die Alpenwiese. Denn die gängige Imago von Natur ist begrenzt, bürgerlich, eng, geeicht auf die winzige Zone, in der geschichtlich vertrautes Leben gedeiht. – Eine andere Natur, ließe sich einwenden, wäre uns eben nicht Natur, sondern etwas gänzlich anderes. Doch es ist klar, was Adorno vor Augen steht und er setzt nach: – Der Feldweg ist Kulturphilosophie.

Dessen Gemütlichtlichkeit aber wirkt hier im Engadin tatsächlich unglaubwürdig. Womit ja möglicherweise zusammenhängt, daß St. Moritz eigentlich nicht schön ist. Und es nie war. Ich sitze im Café Hauser und trinke einen Männer-Tee. Früher, habe ich gelesen, paradierte hier die gute Gesellschaft des Ortes. Heute gibt es Männer-Tee und Frauen-Tee. Männer Tee enthält Sarsaparillawurzel, Karob, Ingwer, Zimt, Gerstenmalz, Daminablätter, Tragantsüßholz, Stevia, Fenchel und Pfeffer. Frauentee enthält Zimt, Ingwer, Orangenschale, Fenchel, Löwenzahn, Nelken, Süßholz, Pfeffer, Kardamon.

Die geistige Agonie über Jahrzehnte, in die St. Moritz als Lebensform mit dem Ende der Idee des  Grand Hotels fiel, war erst vorüber, als der Schah von Persien, selbst eine der Ikonen des sogenannten Jet-Sets, sich entschloß, aus dem Grand Hotel auszuziehen. Erst mit den Villen am Suvretta Hang oberhalb fand St. Moritz wieder eine neue gesellschaftlich durchgebildete Struktur, in sich heute architektonisch ebenso eindeutig ein Gesellschaftsentwurf verkörpert wie seinerzeit im Grand Hotel. Doch die Via Brattas oder die Via Dim Ley an jenem Hang, der längst durchlöchert ist mit Atombunkern, Schwimmbädern, Squashhallen, Privatkinos und Garagen, sind keine Straßen für Flaneure. Diese neue Wirklichkeit von St. Moritz öffnet sich nur für Fitneßtrainer, Nannis und die Lieferanten der lokalen Feinkostler Glattfelder oder Geronimi.

 

Wie gierig sich die Begeisterung an der Landschaft des Oberengadins und seiner Preziose St. Moritz berauscht, läßt einen nur so lange mißtrauisch werden, bis man versteht, daß sie sich an einer sehr besonderen Dialektik von Natur und Menschenwerk entzündet. Die fieberhafte Emphase verdankt sich zum einen der Eigentümlichkeit einer Kunstlandschaft, die ganz Natur zu sein vorgibt und doch zugleich eine der ältesten touristischen Naturinszenierungen in den Alpen ist. Und zum andern hat sie wohl damit zu tun, daß der Besucher hier nicht nur einer menschenfeindlichen, doch zugleich menschengemachten Natur gegenübersteht, sondern zugleich dem menschenfeindlichsten Attribut des Sozialen: dem Reichtum. Das Grand Hotel ist selbst der ferne Gletscher, auf dem man in einem Tagtraum glücklich vergeht.

In jener Auflage des Baedekers SCHWEIZ NEBST DEN ANGRENZENDEN THEILEN VON OBERITALIEN, SAVOYEN, UND TIROL, die Friedrich Nietzsche bei seinen Aufenthalten im Engadin mit sich führte, heißt es über das ENGADINER-KULM, es sei ein ausgedehnter Gebäudecomplex am obern Ende des Dorfs, mit schöner Aussicht und allem Comfort, im Winter Centralheizung, gut geführt, aber nicht billig, viel Engl. u. Amerik., P. von 10 1/2 fr. an, Z. im Winter 1 – 7, im Sommer 3 – 10 fr. Der Wirth besitzt u.a. eine alte ital. Copie nach Raffael’s Sixtinischer Madonna, die er Wochentags 2- 3 Uhr zeigt. Doch derlei Zerstreuungen sind nur die eine Wirklichkeit des Ortes. Die andere, dunkle Seite dieser Landschaft, deren Witterung Adorno sofort aufnahm, hat zwar auch mit dem  Grand Hotel zu tun, aber nicht mit seinem Luxus.

Das OBERE FLUGIHAUS, wie das Stammhaus der alteingesessenen Familie v. Flugi einst hieß, war schon Quartier der Kurgäste, als es noch keine anderen Unterkünfte in St. Moritz gab. Später firmierte es als Pension Faller, bevor Johannes Badrutt es kaufte und in Hotel Kulm umbenannt, weil es sich an der Kulmination – dem höchsten Punkt – des alten San Murezzan befand. Und letztlich macht nur das seinen Ruhm aus. Denn von dort stürzten sich erstmals 1885 Engländer in ihren Schlitten bäuchlings bergab. Besessen von nichts als der Idee der Beschleunigung.

Ich erinnere mich gelesen zu haben, daß das TOURIST BOARD der Gemeinde St. Moritz aus dem ST. MORITZER CURVEREIN  hervorgegangen ist, der wiederum seinen Vorgänger in einer 1864 gegründeten Kommission zur Verschönerung und Vergrößerung des Friedhofs hatte. Die Gespenster des Jet Set gehen mir nicht aus dem Kopf. Auf der Homepage des St. Moritz Bobsleigh Club ein Bild des greisen Gunter Sachs, der bei der Einweihung einer nach ihm benannten Kurve der Bahn als pale ryder im bodenlangen weißen Pelzmantel in den Bob steigt. Bobbahn und Cresta sind älter als die Eisenbahn, deren Viadukt über sie hinwegführt. Ich erinnere mich an ein Bild des Captain Henry Pendell, hochdekorierter Veteran des Burenkrieges, der 1907 verblutete, als es ihn beim Cresta Run aus der Bahn trug.

Der Jet-Set ist dieser Region insofern eingeschrieben, als Geschwindigkeit das natürliche Maß einer Landschaft der Leere ist. Und damit der Tod. Mir scheint, seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist der englische Sportler das Phantasma, das St. Moritz bestimmt und der Wiedergänger, der es belebt.

Indem die ersten angelsächsischen Touristen in den Alpen aus Langweile den Wintersport erfanden, erfanden sie eine tatsächlich vollständige neue Figur im europäischen Naturraum. Anders als der Bergführer, der Wildschütz, der Jäger, opfert sich der Sportler, der auf dem Schlitten das Abenteuer der Geschwindigkeit sucht, nicht für andere, sondern agiert für sich allein. Das einzige, was er sucht, und was von ihm bleiben wird, ist der Rekord. Er ist bei aller aristokratischen Attitüde immer Demokrat. Oder Autist, wenn man so will. Junggeselle im emphatischen Sinn. Denn was, was er aufs Spiel setzt, ist – in jener Gesellschaft zumal, aus der sich die Klientel dieses Ortes rekrutiert – die Genealogie. Er ist der Heros, der auf Fortpflanzung verzichtet. Den Sexappeal, der darin liegt, erkannte und reaktivierte noch der Jet-Set der sechziger Jahre, der ja nicht umsonst eine Bewegung von Söhnen war.

Und während ich beobachte, wie die vom Skifahren heimkehrenden Jugendlichen im Waldhaus von ihren Eltern erwartet und empfangen werden, scheint es mir plötzlich tatsächlich vorstellbar, einer Art von Probe beizuwohnen. Einer Initiation, die der eigentliche Grund sein könnte, warum man immer wieder hierher kommt, an die Baumgrenze, seit über hundert Jahren. Wegen der Erfahrung, für Momente an der Freiheit des Helden zu partizipieren, dessen Phantasma diesen Ort so sehr erfüllt. Das, denke ich, könnte es sein, was die Väter ihren Söhnen hier zeigen. In die Eiseskälte eines kostbaren Moments von Freiheit pilgern sie zurück wie die Lachse zum Ort ihre Zeugung.

Auch in dieser Nacht schneit es. Und wie vor jeder Abreise schlafe ich schlecht. Stehe lange am Fenster und sehe den flackernden Lichtern zu, die schütter durch den fallenden Schnee dringen von weit oben herab, wo die Raupenfahrzeuge nächtliche Hänge für den nächsten Tag präparieren. Selbst noch die Künstler, denke ich und starre in die Nacht, sehnen sich nach der Gefahr. Die Engadiner Maler wie Segantini oder Berry etwa, der sich im Herbst die Leinwand auf den Julierpaß schaffen und dort fest verankern ließ, um dann im Winter zu malen und im Hospiz zu leben. Indem er sich festband im Schneesturm, bildete er den Kontrapunkt zum rasenden Skiläufer und hoffte etwas zu erfahren, das dem Sportler im wahrsten Sinne immer wieder entgleitet.

 

Felix Dietrich, der Schwager Urs Kienbergers und zweiter Hotelier des Waldhauses, schüttelt mir am nächsten Morgen die Hand und wünscht eine gute Fahrt. Für einen kurzen Moment hat es aufgehört zu schneien. Unwirkliches Licht über dem Silser See. Die Bergspitzen in weißem Dunst. Gern hätte ich die römischen Säulen am Julierpaß gesehen. Doch für dieses Mal geht es hinaus aus dem Schneeregen und dem Nebeltal, schon stürzt sich der Postbus ins Bergell hinab, kopfüber in den Frühling, und sofort reißt der Himmel auf.

In Soglio, im Palazzo Salis, ein Mittagessen im tiefen, leeren Saal. Bei der schlechtgelaunten Bedienung, schwarzhaarig, dünn und mürrisch, spüre ich zum ersten Mal, was ich oft noch empfinden werde: Wie sehr mir das Waldhaus fehlt. Ein Blick noch in den kleinen winterlichen Barockgarten, in dem Rilke einen Sommer verbrachte, dann zu Fuß den Weg durch die Kastanienwälder hinab nach Castasegna, unzählige Steinstufen durch den dichten Wald, moosbewachsen und feuchtdunkel. Die weißen Berge bilden den hohen Horizont hinter den grünen Wäldern des Tals. Alte Frauen grüßen lächelnd. In ihren Vorgärten die hellrosa Spitzen hüfthoher Magnolienbüsche. Es riecht nach verbranntem Holz. In den mauergegürteten kleinen Gärten Palmen. Katzen auf den sonnigen Steinen und zierliche Balkone über dem Pflaster der Straße in Reichweite der Arme, wenn man sich streckt.

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Edition Spycher 2.

  Urs Engeler Editor, Basel 2006.

Die Künste haben ein unterschiedliches Verhältnis zum Raum. Unterwirft die bildende Kunst sich ihren Ort wie etwa Leonardos Madonna mit dem Hermelin das Muzeum Narodowe in Krakau oder Bellinis Elephant die ganze Piazza della Minerva in Rom, so haftet der Musik in den Gehäusen ihrer Aufführung immer etwas Gespenstisches an, weil hinter jedem Klang schon die Stille lauert. Und noch in jeder Abbildung eines Kunstwerkes ist die Gravitation des Ortes zu spüren, an den es gehört, und noch jede Tonkonserve verweht den Hörer in ihren leeren Raum.  Und die Literatur? Weder so körperlos und leicht wie die Musik, noch mit der Hoheit über den Ort versehen wie die Kunst, wird das Buch zum höchst zerbrechlichen Gefäß ihrer Dauer und der Kopf des Lesers zum fragilen Hallraum ihrer Aufführung.

Und: So wenig seßhaft wie die Bücher sind wir selbst. Sie ziehen mit uns mit und teilen unsere Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit ebenso wie die nach dem flirrenden Verwehen. Zwitterhaft wie wir selbst sind Bücher und wenn es eine literarische Form gibt, die dieses Halbseidene, Sehnsüchtige einfängt, dann ist es die Laudatio. Für einen Moment vernäht sie die Literatur mit einem Ort, bindet die unbehausten Texte an einen Leser, fesselt das Wort an einen bestimmten Moment.

Anders als Lesungen oder die Verkörperung von Texten auf dem Theater ist die Laudatio dabei aber immer Stellvertreter, insofern sie auf das, was sie preist, als auf etwas Abwesendes verweist. Eine angewandte Form, die einen bestimmten Zweck erfüllt, bewegt sich die Laudation allerdings insofern in einem prekären Zwischenreich, als sie nur gelingr, wenn sie ihren eigenen Rahmen sprengt. Funktional für einen bestimmten Anlaß, gewinnt sie doch erst Leben, wenn sie sich von diesem Anlaß löst. Und damit auch von ihrem Gegenstand. Und zwar nicht selten auf seine Kosten. Genau das ist ihr Wagnis und ihr Reiz.

Der Spycher: Literaturpreis Leuk hat das große Glück, in den fünf Jahren seines Bestehens immer wieder derartige Kabinettstücke provoziert zu haben. Texte von solch eigener Dignität, daß die Entscheidung, sie in einen Band der Edition Spycher zusammenzufassen, weniger mit den Preisträgern zu tun hat, mit denen sie sich beschäftiten, als mit der Tatsache, daß sei selbst nicht wenig dazu beigetragen haben, aus Leuk einen Ort der Literatur zu machen. Einen Ort in den Wolken, seitdem Andrea Köhler diese als Zeugen der ersten Preisträger herbeirief und als Aufgabe für die literarische Phantasie aller weiteren.

Außer ihrer, der ersten Laudatorenstimme des Preises, versammelt dieser Band der Edition Spycher diejenigen von Christian Döring, Michael Maar, Marion Graf, Roman Bucheli, Hubert Spiegel, Iso Camartin und Dieter Bingel. Sie alle sind zu jenen Wochenenden im Frühherbst, an denen traditionell die Preisverleihung stattfand, ins Wallis gereist und durch Leuk spaziert, haben vom Turm des Schlosses auf die Rhone hinabgesehen und sind bei einer Raclette und einem Wein mit den Literaturbegeisterten der Stiftung Schloß Leuk und des ganzen Städtchens ins Gespräch gekommen, denen der Spycher: Literaturpreis Leuk seine Existenz verdankt.

Es ist so gekommen, wie Christian Döring es sich 2002 gewünscht hat: Der ‚Spycher’ füllt sich mit Sprachen, mit Stimmen, der Literatur-Preis wird zum Sprachstimmenspeicher. Im Echo, daß diese Stimmen in den Texten finden, die hier versammelt sind, läßt sich besonders gut ermessen, wie groß Raum der Literatur heute noch ist.

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Tauschwert.

  „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff. 1.12. 2005.

Vor Lieblingsmärchen fürchtet man sich. Hat Angst, weil man mit ihnen nicht zu einem Ende kommt. Meidet jenes Moment der Unendlichkeit, die alles, und auch den Zuhörer, in ihr Spiegelkabinett einzuschließen droht. Alle Märchen von Wilhelm Hauff spielen mit diesem Schauer, ob in der Wiederholung des schicksalhaften Verhängnisses, wie sie das Gespensterschiff vorführt oder in der beklemmenden Ausweglosigkeit, in die Kalif und Großwesir geraten, weil ihnen das Mutabor nicht mehr einfallen will. Das Hauff-Märchen aber, dessen Unheimlichkeit für mich als Kind unübertroffen war, weil es nicht nur eine Szene, sondern den ganzen Text bestimmt, ist „Das kalte Herz“. Fleischerhunde und Sonntagskinder, Uhrmacher und Glasbläser, Flößer und Kohlenbrenner, ein Beschwörungsvers – „reime, dummer Peter, reime“ – und das „Knöcheln“ der Spieler, das den Tod assoziiert. Eine Geschichte, so unheimlich wie das Geld, das darin seine quecksilbrige Rolle als Katalysator des Glücks ganz unverstellt spielt wie in kaum einem anderen Märchen. Immer klimpert es in den Taschen und Börsen, vermehrt sich und verschwindet, als Gold und in Silber, als Rollen und eingepackte Batzen. Peter Munk, der nach sozialem Aufstieg gierende Köhlersohn, ist ihm ganz und gar, und damit der Macht des Symbolischen, verfallen. Und so verschleudert er erst sein Glück, indem er einem der beiden willfährigen Geister nur Tanzkunst und Geld zum Glückspiel abbittet, und verkennt anschließend auch noch sich selbst, indem er der Metapher glaubt, sein Herz sei eine Uhr: „Gebt mir den Stein und das Geld, und die Unruh könnet ihr aus dem Gehäuse nehmen!“ Jedes Handeln in diesem Märchen ist symbolisch und real zugleich. Es folgt darin dem zwittrigen Charakter des Geldes selbst. Im Griff in die Brust, der das Herz herausnimmt, kulminiert diese bedrohliche Obszönität des Tausches. Schaudernd begreift schon das Kind die beinöde Moral, die schließlich die Geschichte beruhigt, als erstarre alles in Aspik: Wer einmal dem Tausch verfallen ist, hat sein Seelenheil verloren. „Peter, schaff dir ein wärmeres Herz!“

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Edition Sypcher 1.

  Urs Engeler Editor, Basel 2005.

Literatur ist der Landschaft immer sehr nahe. Kein Kino- oder Konzertsaal schottet sie ab, der Leser blickt einfach vom offenen Buch auf, die Augen stellen von Nah- auf Fernsicht um, und die Welt, die er für eine Weile vergessen hat, ist wieder da. In diesem Fall: Berge, der Himmel, der Blick hinab ins Tal der Rhone. Für dieses Wunder braucht es keine Apparate und keine Vorbereitung ausser der, die Buchstaben auf dem Papier in Bilder verwandeln zu können. Dem Schriftsteller ergeht es, umgekehrt, ebenso. Eine Bewegung, so einfach und selbstverständlich wie das Atmen. Der Blick verlässt die Landschaft und wird unscharf, er konzentriert sich auf das Blatt, den Bildschirm, und man beginnt, die inneren Bilder in Buchstaben zu übersetzen.

Die Verbindungen von Landschaft und Literatur, die dabei unvermeidlich entstehen, müssen dennoch nicht unbedingt in den Texten selbst greifbar sein, sondern sind oftmals, wenn man Autoren danach fragt, solche der Atmosphäre und des Lichts, unbestimmt und vage. Und doch sind sie zugleich so real, dass es zu allen Zeiten Gegenden gab, die Schriftsteller – und Leser – in besonderem Masse angezogen haben. Es könnte sein, dass das Wallis dabei ist, ein solcher Ort zu werden. Denn seit die Stiftung Schloss Leuk vor fünf Jahren beschloss, einen Literaturpreis auszuloben, ist das mittelalterliche Leuk, das hoch über dem Rotten thront, wie die Rhône hier noch heisst, zum bevorzugten Schreibort einer ganzen Reihe von Schriftstellern geworden.

Es ist die ausdrückliche Absicht des Spycher: Literaturpreises Leuk, Schriftsteller auszuzeichnen, die als Mittler zwischen den Sprachen und literarischen Formen agieren und sich daher in der Topographie des Wallis zu Hause fühlen könnten, die selbst eine des Durchgangs und des Austauschs ist. Jeweils auf fünf Jahre gewährt der Preis uns Gastrecht. Und nachdem diese Zeitspanne nun erstmals zu Ende geht und mit Durs Grünbein und mir die ersten beiden Preisträger den Kreis der Spycher-Autoren wieder verlassen, lässt sich sagen, dass wir alle auf verschiedene Weise in Leuk heimisch geworden sind. Was nicht schwer war, denn eine Region, die von jeher Scharnier und Durchgangsort nicht nur zwischen der französisch- und der deutschsprechenden Schweiz, sondern auch zwischen Italien und Nordeuropa war, ist für Schriftsteller ein vertrauter Ort. Deren Existenz ist, anders, als das Klischee von Dichterklause und Stubenhockern es will, oft eine ziemlich nomadische: Die meiste Zeit des Jahres unterwegs zwischen Wohn- und Stipendienorten, auf Lesereise mit dem letzten oder auf Recherche für das nächste Buch, als Dozenten für creative writing an Universitäten oder eingeladen auf Buchmessen, Literaturfestivals und Tagungen. Die Idee, neben all diesem Trubel einen Rückzugsort zu bieten, an den man verlässlich wiederkommen kann, mitten in Europa und doch mit einem anderen Takt, der der beherrschenden Natur, dem besonderen Klima und den Menschen geschuldet ist, die hier leben, hat sich als höchst erfolgreich erwiesen.

Es ist dem Spycher: Literaturpreis Leuk nicht nur gelungen, mit Durs Grünbein, Michael Hofmann, Lavinia Greenlaw, Daniel de Roulet, Martin Mosebach, Felicitas Hoppe, Marcel Beyer einen ganz besonderen Kreis von Schriftstellern an diesen Ort zu binden, der in diesem Jahr noch durch Barbara Honigmann und Adam Zagajewski ergänzt wird. Über die Jahre sind auch interessante Texte an diesem Ort und für diesen Ort entstanden.

Die Stiftung Schloss Leuk hat sich entschlossen, diese Texte in einer eigenen Edition zu versammeln, für die sie mit Urs Engeler einen renommierten Verleger jüngerer Literatur gewinnen konnte. Die Edition Spycher versteht sich als dezidiert mehrsprachige Reihe, was zum einen der Bilingualiät des Wallis Rechnung trägt und zum andern die Sprachen der Autoren des Spycher repräsentiert. Eine Reihe, die sich aber auch anderen Autoren und Texten öffnen wird, die etwas zu dem literarischen Gespräch beitragen können, das hier, im Wallis, begonnen wurde.

Der vorliegende erste Band ist dafür, wie ich finde, ein wunderbarer Anfang: Jedem der hier versammelten Texte merkt man die Lust an, sich unbekanntes Terrain anzueignen. Sie ist in der Vorwegnahme Marcel Beyers spürbar, der das Wallis, bevor er es noch kennt, als ornithologischen Sprach-Raum entwirft, und in der Erzählung Martin Mosebachs, der einen realen Ort so sehr in den Kokon seiner Erfindung einspinnt, bis er von dem zu erzählen beginnt, was unausgesprochen bleibt. Für Durs Grünbein öffnet sich das Rhônethal in die Geschichte, Martigny ist ihm das antike Octodurus. Daniel de Roulets Essay nähert sich der Topographie Leuks sichtlich aus der diametral entgegengesetzten Richtung wie meine kurzen Naturbeobachtungen, obgleich wir beide am selben Ort schrieben. Und beides wird in dieserm ersten Band der Edition Spycher wiederum konterkariert durch die britische Gelassenheit, mit der Lavinia Greenlaw auf die Berge schaut.

In aller Verschiedenheit sind diese Texte doch alle auch Protokoll der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ort, der erkennbar wird. Die Stiftung Schloss hat diese Auseinandersetzung ermöglicht, ihr gebührt der Dank. „Die Berge sind mir fremd“, schreibt Felicitas Hoppe in ihrer vorsichtigen Annäherung an das Wallis über den Umweg der Reiseführer ihrer Tante. Das scheint mir ein guter Anfang. Nichts ist so produktiv wie das Fremde.

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Standard.

  Downtown L.A. und der Phantomschmerz der leeren Mitte. 17.3. 2005.

Es ist ein perfekter Tag. Der Himmel dunkelblau und so tief, daß ich das Gefühl habe, als pulsiere er, wenn ich mich auf dem niedrigen Polster zurücksinken lasse und nach oben starre. Noch kreist die Sonne um die Dachterrasse des Standard Downtown und bestrahlt die Hochhäuser ringsum. Manchmal legt sich eine Boing in eine enge Bahn und zeigt ihren Bauch. Langsam verschwindet sie hinter einem schwarzen Turm aus dunkel mattiertes Glas, die Ecken marmorne Einkerbungen von der Farbe alten Elfenbeins. Ruhig glitzert der schmale, vielleicht zwanzig Meter lange Pool in der Nachmittagssonne. Es dauert unendlich lange, bis das Flugzeug hinter dem Hochhaus wieder erscheint.

Nichts ist in L.A., wo irgendwo im Stadtteil Watts noch immer die erste Ölquelle von Paul Getty sprudelt, dauerhafter als das Geld, das sich auf eben dieses Öl gründet. Nur konsequent, daß der Hotelier André Balazs für sein Business-Hotel die ehemalige Firmenzentrale der Superior Oil Co. kaufte. Das zwölfgeschossige, Anfang der 50er Jahre vom damaligen Star-Architekten Claude Beelman errichtete Hochhaus steht mitten im Banken- und Geschäftsviertel von Los Angeles, jener Gegend mithin, die lange Zeit geradezu synonym für Verslumung stand. Doch Balazs, der zuvor mit dem Standard Hollywood auf dem Sunset Boulevard reüsssierte und nebenan auch noch das legendäre Château Marmont übernahm, vor dem letzthin Helmut Newton starb, hat ein sicheres Gespür für die Wendungen des Zeitgeists. Als das Vertrauen in die offene amerikanische Gesellschaft nach 9/11 mehr denn je gestört war, verstand er es, sein Standard Downtown ganz mit dem geborgten Fortschrittsglauben einer anderen Zeit aufzuladen. So zeigt eine alte elektrische Uhr neben den Liftschächten in schönstem Alu-Design mit grün hinterlegten Klapp-Täfelchen nicht nur die Zeit von Los Angeles, sondern gleich auch noch die von Denver, Houston, Chicago, New York, Caracas, Rio de Janeiro, London, Teheran, Calcutta, Hong Kong, Tokyo, Sydney und Honolulu.

Seit seiner Eröffnung vor zwei Jahren ist das Standard Downtown das angesagteste Hotel von Los Angeles. Im amerikanischen modernism, dessen Weltläufigkeit es ausstrahlt, erkennt die Klientel des Hotels das Ideal der eigenen pureness wieder. Denn mit den Status-Symbolen der 60er und 70er hat dieser jetset nichts am Hut, viel aber mit Sportmode und destilliertem, mit Vitaminen angereichertem Wasser, und das findet sich denn auch nebst Gesichtscreme aus Kaktusfrüchten und Kondomen in sechs Geschmacksrichtungen in der Minibar. Wichtigstes Designmerkmal der Zimmer aber ist das offene Bad, bei dem die Dusche vom Bett nur durch eine Glaswand getrennt oder eine riesige Wanne mitten in den Raum gestellt wurde. Indem es seine Klientel auf den gemeinsamen Nenner des Narzißmus bringt, gelingt dem Hotel das Kunststück, unter der Woche eine Herberge für Geschäftsleute zu sein und sich am Wochenende für eine globalisierte Jugendkultur zu öffnen, deren Ikone die DJ-Kanzel in der Lobby ist.

Kaum verschwindet die Sonne, werden auf dem Dach die Gasflammen der Heizpilze angezündet, die in regelmäßigem Abstand inmitten der grauen Polsterlandschaft auf dem rotem Teppichboden stehen. Vorbereitungen für die abendliche Party. Schnell setzt die Dämmerung ein und die Lichter in den Hochhäusern ringsum gehen an. In den oberen Stockwerken Fensterfolgen, deren Beleuchtung vermuten läßt, es könnte sich um Wohnungen handeln. Kann man Kerzenlicht von hier unten erkennen, oder ist das nur das Flackern des Lichts in athmosphärischen Trübungen? Ich stelle mir Wohnungen in den Hochhäusern vor, die ihrerseits so groß sind wie Häuser, mit Treppen und Kellergewölben, Terrassen und Eingangshallen, voller Schränke und Kammern und Fluren für das Dienstpersonal, wie Baumhäuser mit den Jahren einfach hinaufgewachsen in den achtundvierzigsten Stock, zusammen mit all den Überbleibseln der Zeit, den dunklen Hölzern und dem feinen Linnen, den alten Photos und den gelben Rosen.

Denn macht man sich einmal von der Silhouette der Hochhäuser los und späht über die Brüstung, sieht man auf den Country Club L.A. hinab, einen hundertjährigen Ziegelsteinbau, der das alte Herz der Stadt markiert. Hier ist Los Angeles gegründet worden. Hier steigt die Flower Street zum Bunker Hill hinauf, der noch bis Ende der vierziger Jahre mit viktorianischen Villen bestanden war, in denen Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe ermittelte. Doch mit der Verbreitung des Automobils verließ man, wie überall in Amerika, auch in Los Angeles das alte Zentrum der Macht und es begann zu verfallen. So entstanden und belebten sich die großen Boulvards, Sunset und Hollywood und Wilshire und Pico und die Melrose Ave. Straßen waren hier immer wichtiger als Plätze und so wurde Bevery Hill hip und Pacific Palisades schließlich Malibu. In den fünfziger Jahren ließ dann die Community Redevelopment Agency die alten Herrensitze auf Bunker Hill abreißen und den business district errichten, eine Skyline aus Banken und Büros, wie ein Schmuckstück gehalten in einer Fassung aus drei, jeweils achtspurigen und immer verstopften Freeways.

Das alte Geld von Los Angeles verdiente gut mit dem Verkauf seiner Grundstücke, die Familien Otis und Getty und Hammer, doch zugleich zerstörten sie damit das Zentrum der Stadt. In Schüben hat L.A. es seitdem abwechselnd zu vergessen oder neu zu erfinden versucht. Gerade erlebt die Stadt eine massive Phase der Neuerfindung aus dem Geist der Architektur. Denn obwohl von Bunker Hill nur mehr die Erinnerung unter Hochhäusern, Tiefgaragen, Rampen und Erschließungsplätzen geblieben ist, entstehen überraschenderweise mit dem ernsthaften Versuch, hier den zentralen kulturellen Ort der Stadt zu schaffen, die alten Wege wieder neu. Wie eine Art Geisterzug bewegen sich die Touristen zu Fuß in den unsichtbaren Spuren der gewesenen Stadt. Einer der Ausgangspunkte dieser Erkundungen ist das Museum of Contemporary Art von Arata Isozaki, von dem aus der Weg auf der einen Seite die Bunker Hill Steps hinabführt zu Bertram Grosvenor Goodhues Central Library aus den zwanziger Jahren. Auf der anderen Seite gelangt man zu der endlich fertiggestellten Walt Disney Concert Hall.

Keine schlechte Idee, daß Frank Gehry hinter der Front glitzernder Metallplatten, die die Konzerthalle umgeben wie Blütenblätter den Fruchtstand, schmale Gänge gelassen hat, auf denen man fast um den ganzen Bau herum- und hinaufsteigen kann. Von oben sieht man auf Downtown hinab, linkerhand die City Hall, ein siebenundzwanzigstöckiges Art-Deco-Juwel aus der alten Zeit, das man letzthin renoviert hat, und einige Blöcke weiter südlich der brandneue Hochhaus-Riegel der Caltrans, entworfen vom ortsansässigen Architekten Thom Mayne.

Es ist, als markierte die Disney Hall den Punkt, von dem aus der alte WASP-Adel der Stadt jenes Zentrum zurückzuerobern versucht, das er einst so leichtfertig aufgab. Doch während man auf die Konzertbesucher hinabsieht, die unter den wachsamen Blicken der in regelmäßigen Abständen positionierten Polizisten ins Konzert strömen, wogen plötzlich tiefe Glockenschläge heran und man weiß, das diese funkelnd-neue Bastion auf Bunker Hill gleichwohl aus einer vergangenen Zeit stammt.

Die Cathedral of our Lady of the Angels des Architekten Rafael Moneo, gerade erst für einhundertfünfzig Millionen Dollar fertiggestellt, findet mit ruhigen Schlägen ihre mexikanische Klientel. Es ist sehr eindrucksvoll, am Sonntagmorgen den Gottesdienst in der dicht gefüllten, riesigen Halle zu besuchen und dabei die Gesichter der Mütter zu betrachten und die Kinder auf den Schultern ihrer Väter. Die Konjunktur von Downtown verdankt sich auch der besonderen Verbundenheit mexikanischen Einwanderer mit ihrer neighborhood. Man möchte, auch wenn man zu Geld gekommen ist, weiterhin leben, wo man aufgewachen ist. Und der Boom ist spürbar. Jahr für Jahr werden mehr ehemalige Fabrikgebäude zu Lofts, Brachen, die jahrzentelang Parkplätze waren, werden neu bebaut. Es ist hip, downtown zu wohnen.

L.A. ist eine mexikanische Metropole und deren Leben findet auf dem Broadway statt, den es nicht nur in New York, sondern auch downtown Los Angeles gibt und der einmal, in den zwanziger Jahren, die meisten Uraufführungskinos der Welt zählte. Davon sind die weit in die Straße ragenden Neonreklamen etwa des Roxie oder Rialto übriggeblieben, die Säle selbst aber – vom wunderbaren, manchmal für Theateraufführungen genutzten L.A. Theatre abgesehen – sind längst zu billigen Kaufhäuser umgebaut worden. Doch gibt es hier, zwei Blocks östlich des business districts, die Bürotürme und das Standard im Rücken, noch andere Überreste alten Glanzes.

Zwischen Flower und Hill Street, zwischen 1th und 8th Street, wo man noch vor fünf Jahren lieber nicht zu Fuß unterwegs war, ragen zwischen parking lots und den verlassenen garment fabrics alte Büro- und Fabrikbauten aus der glanzvollen Vorkriegszeit auf, deren wildes cross over von Art deco und missions style eine höchst zeitgemäße Verschmelzung der verschiedenen Ästhetiken der Westküste darstellt. Die meisten dunkel und unbewohnt, glänzend grün oder gelb gekachelt vom Bürgersteig bis zu den Penthousespitzen, andere phantasievolle Orgien in Stuck, zusammengesetzt aus zurückspringenden, burgähnlichen Pavillons, über denen sich immer ein Zentralbau erhebt, oft mit Antennenspitzen versehen, erinnern sie an alte Science-Fiction-Filme oder stalinistische Architektur. Das Bradbury-Building von 1893, in dem seinerzeit der Film „Blade Runner“ spielte, der den Ruf der Stadt als verlorene Megapolis zementierte, ist längst ein sorgsam renoviertes Kleinod, das unter Denkmalschutz steht.

Doch wenn die Büros schließen, veröden die Straßen des business district und auch mit der Lebendigkeit des Broadway ist es vorbei. Außer einigen wenigen, äußerst zwieliechtigen Tabledanceschuppen hat man kaum Optionen für das Nachtleben. Noch immer sind die spannenden Clubs der Stadt in West Hollywood und Santa Monika. Hier gibt es lediglich die Bar des Standard und einige Business-Restaurants, von denen das Traxx wegen seiner Lage in der wunderbaren Wartehalle von Union Station zu empfehlen ist Und das Patina in der Disney Hall. Der Österreicher Theo Schönegger bietet hier die überzeugenste Küche von Downtown zur Zeit. Ansonsten ist es wie überall die Kunstszene, die die disparaten Räume der Stadt zusammenbindet. So finden sich in China Town einige interessante einige Galerien für aktuelle Kunst, vor allem aber in der mexikanisch geprägen Alameda Street im Südosten. Zwischen Kühlhäusern und stacheldrahtbewehrten Parkplätzen hat sich die Cirrus Gallery angesiedelt und ganz in der Nähe die Post Gallery, mit der etwa 2003 die Galeristin Jette Rudolph aus Berlin kooperierte.

Wenn man so von einem Quartier des multikulturellen L.A. zum nächsten switcht, kann man zu dem Eindruck gelangen, daß die Stadt vor allem durch positive Segregation funktioniert, durch das Nebeneinander idyllisierter Andersartigkeit. China Town, Little Tokyo, Little Corea – alle Minderheiten scheinen von der Nachfrage nach der goutierbaren Fremdheit zu profitieren. In jedem Viertel gibt es Visitor Information Centers und Einkaufspassagen für die Touristen. Und die mexikanische Minderheit verfügt mit dem Avila Adobe von 1818, dem ältesten Gebäude der Stadt, und der Olvera Street sogar über den historischen Nukleus der Stadt selbst. Sie besetzt ihn so forciert, daß man auf die Idee kommen könnte, die Trennung der ethnischen Minderheiten habe sich nicht historisch entwickelt, sondern infolge einer ingeniösen PR-Strategie.

Doch dieser Eindruck verkennt, daß die Gettoisierung in der Stadt selbst als beängstigend zentrifugal empfunden wird. Tatsächlich gibt es nur einen Punkt, an dem die verschiedenen Lebenswelten sich berühren, und das ist Downtown. Downtown ist, auch in der Selbstwahrnehmung der Angeleros, der Ort, an dem Los Angeles tatsächlich Amerika ist. Das dies weniger eine tatsächliche Realität bescheibt, als vielmehr einen, für das soziale Gleichgewicht dieser Stadt eminent wichtigen Aspekt des Selbstbildes, zeigt der deprimierte Alltag vieler Schwarzer in Downtown. Als einzige ethnische Gruppe haben sie hier, im Zentrum der Stadt, kein eigenes Quartier, doch drogensüchtig und obachlos bestimmten viele von ihnen die öffentlichen Plätze, die Kreuzungen und Bügersteige im Windschatten des Booms.

Die besondere Attraktivität der Roofbar des Standard rührt daher, daß sie hoch genug über der Stadt schwebt, um den Blick für alle Imaginationen zu öffnen. Dem entspricht eine Situation, die sich ganz auf die visuelle Sensation kapriziert. Die Musik blendet aus, was die begeisterte Wahrnehmung der Hochhausfronten mit ihren schimmernden Flächen stören würde, nicht einmal Windgeräusche sind zu hören. Einzig die leicht muffelnden Plastikgläser, in denen aus Sicherheitsgründen der Wein serviert wird, lassen noch einen Gedanken an die Möglichkeit aufkommen, mit dem Straßenniveau in Kontakt zu treten. Ansonsten spiegelt sich der blau glitzernde Pool in dem Metallpaneelen der Bar, während die Kostümparty langsam auf Touren kommt. Der Aufzug spuckt Gäste aus, als würden sie herbeigezaubert. Zwei Gorillas, einer in zottig braunen, einer in schwarzem Fell, kontrollieren unter dem lila Neonlicht der Aufzugsüberdachung die blauen Armbändchen, die den Zutritt erlauben.

Viele Asiaten drängen herauf, viele blondiert, mehr Männer als Frauen, merkwürdigerweise kaum Latinos. Ein Typ mit blauem Pailetten-Cowboyhut, dessen Partnerin weiße Handschuhe trägt. Der Schwarze mit der zierlichen Blondine, die ihm knapp bis zur Achsel reicht. Die Bedienungen tragen Uniformen der Highway Patrol aus Latex und verspiegelte Brillen, in der sich die erleuchteten Fenster der umliegenden Hochhäuser blinken. Der Reißverschluß auf dem Hintern einer Corsage. In der Damentoilette spricht eine Frauenstimme beschwörend auf einen brummenden, jammernden Mann ein. Er sei stark und großartig und er solle keine Angst haben. Der braune Gorilla schaut herein und murmelt durch seine Maske, die Herrentoilette sei gegenüber. Noch ist niemand im Pool, doch in den Cabañas rundum, rot leuchtenden Séparées mit Wasserbett, wird getuschelt und gelacht. Bei den jüngsten Gästen dominieren schräg aufgesetzte basecaps und tief ins Gesicht gezogene Wollmützen über fusseligen Bärten, die traurige Assoziationen an Kirchentage aufrufen.

Wer angesichts dessen lieber wieder einmal unter Erwachsenen sein möchte, hat es nicht weit. Nur drei Blocks vom Standard entfernt findet sich das Hotel, das in Downtown L.A. schon seit fast hundert Jahren wirklich den Standard setzt: das altehrwürdige, 1925 eröffneten Biltmore Hotel, in dem einst nicht nur die Oscar-Verleihungen stattfanden und J.F. Kennedy seine Wahlkampfzentrale hatte, sondern wo auch die „schwarze Dahlie“ aus James Ellroys gleichnamigem Roman zuletzt lebend gesehen wurde. In der gelassen prunkvollen Lobby des Biltmore gibt es natürlich kein DJ-Pult und es gibt auch keinen Pool auf dem Dach, dafür aber gleich zwei schöne Bars: die etwas dunkle Grand Avenue Sports Bar und die Gallery Bar mit einer wunderbar langen Theke. In beiden werden die Drinks nicht in Pastikgläsern serviert.

 

 

Hotels

 

The Standard Downtown

550 South Flower Street

 

The Standard Hollywood

300 Sunset Boulevard

 

Château Marmont

8221 Sunset Boulevard

 

www.standardhotel.com

 

Millenium Biltmore Hotel

506 South Grand Avenue

 

Restaurants

 

Patina

141 Grand Ave (in der Walt Disney Concert Hall)

 

Traxx

800 North Alameda Street (in der Union Station)

 

R-23

923 East 3rd Street

 

Water Grill

544 S Grand Avenue (im Pacific Building)

 

Cicada’s

617 S Olive Street (im Oviatt Building)

 

Gebäude und Kirchen

 

Bradbury-Building

304 S Broadway

 

Cathedral of Our Lady of the Angels

555 West Temple Street

 

The Los Angeles Theater

615 South Broadway

 

Walt Disney Concert Hall

111 South Grand Avenue

 

City Hall

200 North Main Street

 

Bunker Hill Steps

Zwischen 5th Street und Hope Street

 

Central Library

630 West Fifth Street

 

Caltrans

100 South Main Street

 

Avila Adobe

10 Olvera Street

 

Union Station

810 North Alameda Street

 

Museen und Galerien

 

Museum of Contemporary Art (MOCA)

California Plaza, 250 South Grand Avenue

 

MOCA The Geffen Contemporary

152 North Central Avenue

 

Cirrus Gallery

542 South Alameda Street

 

Post Gallery

1904 East 7th Place

 

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Manchmal, nicht oft, plötzlich.

  19.2.2005.

Der Pferch neben dem Haus war nicht sehr groß und an seinem Ende stand ein Pferdeanhänger, dessen Luke herabgeklappt und ebenso mit Stroh belegt war wie das Innere des Wagens selbst. Manchmal, bei Regen oder wenn der Wind nachts besonders kalt wurde, hörte ich, wie der Mustang langsam dort hinauftrottete, doch nie für sehr lange. Zumeist stand er zwischen dem Anhänger und einem vertrockneten Baum, drei Meter hoch und ehemals mit einer dichten Krone, nun aber völlig entrindet, der seine weißen Äste fingrig in den schwarzen Nachthimmel krampfte. Unter diesem Baum, der vor nichts schützte, hatte der Mustang meist seinen Platz und dort konnte ich ihn von dem kleinen Fenster am Bett des Wohnwagens aus beobachten. Was ich oft tat. So lange, bis er vor zur Straße trottete, zum Gatter des Korrals, das wie der Zaun aus Metallelementen bestand, T-Eisen von jeweils ungefähr drei Metern Länge, an einbetonierten Rohren und aneinander mit Draht befestigt. Irgendjemand hatte das Metall vor langer Zeit einmal farbig gestrichen, die Streben waren abwechselnd rot, gelb und blau, und obwohl die Farbe längst abgeblättert war und der Rost den Rest verschlang, erinnerte mich der Zaun doch an eine bunte Kirmesstellage meiner Kindheit, an die Einfassung eines alten Autoscooters oder einer Geisterbahn.

Man hatte die Vollblüter der englischen Siedler mit Indianerponys gekreuzt, die sich wiederum aus Arabern und Berbern entwickelt hatten, den Tieren der spanischen Konquisatoren. Das Ergebnis war ein Pferd von großer Sprintstärke, kein Mustang, ein Quarter Horse, ideal für die amerikanischen Pferderennen, die man, da es keine richtigen Rennstrecken gab, erzwungenermaßen auf den Hauptstraßen der Orte austrug, woraus sich schließlich die Standarddistanz der Viertelmeile entwickelte.

Es war nicht zu groß, kurz und kompakt, und mit einer überaus kräftigen Schulter und Hinterhand, gut für die Arbeit auf einer Ranch. Sein Fell war von einem tiefen satten Braun. Es hatte einen schwarzen Schweif und schwarze Fesseln und auch seine Nüstern waren schwarz, doch schimmerte die weiche, immer feuchte Haut etwas grünlich und hatte jene kleinen hellen Flecken, wie sie auch Hunde an den Lefzen haben. Wenn ich am Gatter stand und dem Pferd eine Möhre hinhielt oder einen Salatkopf, öffneten sich die Nüstern erst weit wie kleine Rüssel, die nach allen Seiten witterten, bevor das Pferd dann bleckte und mit seiner tastenden Unterlippe die Möhre zwischen die langen, an den Hälsen schwarzen Zähne zog.

Es war eine Stute, ein wunderschönes Tier, klein und muskulös und völlig ohne die überdehnte Eleganz eines Vollblut. Die wie ein alter Autobug gewölbte Stirn mit den großen, seitlich stehenden Augen schien auf den ersten Blick robust und genügsam, und die prall hervorquellenden, in gezackten Verläufen dicht unter der Haut mäandernden Blutgefäße zeigten die ganze Kraft des Tieres. Ich hatte mir das breite Muskelbett der Hinterläufe eines Pferdes noch nie so genau angesehen wie, wenn es im Korral hin und herschritt und ich mir vorstellte, welchen Antritt und welche Ausdauer diese Muskeln auf die so schmalen Fesseln zu bringen imstande waren. Vor allem die zögernden, tänzelnden Hufe ließen mich die die Zeit vergessen und stundenlang dabei zusehen, mit welch übergroßer Vorsicht die Stute noch jeden Schritt auf den doch völlig ebenen und ewig gewohnten sandigen Boden setzte. Und manchmal nickte sie dabei mit dem Kopf, als stimme sie einem unsichtbaren Gesprächspartner zu.

Überhaupt hatte ich, während ich auf dem Bett lag und sie beobachtete, oft das Gefühl, in ein fremdes, unsichtbares Reich zu schauen, von dem gerade nur dieses Tier für mich sichtbar war. Wie es dastand, beispielsweise, verstand ich nie. Wie ausgestopft, so völlig regungslos, und den Kopf nicht etwa entspannt, sondern in einer Haltung gestreckter Starre, die Beine exakt parallel, und nur der lange Schweif wischte abwechselnd nach links und rechts und wieder nach links. Obwohl da oft überhaupt keine Fliegen waren. Und gerade, wenn ich wieder nicht wußte, ob ich einen Ausdruck von Gelassenheit sah oder den unerträglichen Stumpfsinns, nickte die Stute, drei, viermal zumeist, und dann erstarrte sie wieder. Nur, daß sie einen Hinterhuf, einen Moment lang, anwinkelte.

Am meisten aber mochte ich, wenn sie sich im Staub wälzte. Sie legte sich nicht oft am Tag hin, ein halbes Dutzend Mal vielleicht, und dann auch nur für wenige Minuten. Zuerst beugte sie abwechselnd die beiden Vorderläufe, als müsse sie erproben, wie das Hinlegen gehe, dann beugte sie die Hinterläufe, und dann ließ sie sich zögernd erst vorn auf die Knie und dann hinten herab. Zumeist blieb sie in dieser sitzenden Haltung, nur für Minuten lag sie ganz auf die Seite so, daß der lange Hals ganz entspannt war und der Kopf ruhig auf dem Boden. Dann erst sah man, wie massig dieser Leib war, alle Eleganz mit einem Mal verschwunden und dieses Pferd, wie jede Kuh, auch nur ein Grasfresser. Doch bald schon richtete es sich wieder auf, um Schwung zu holen und sich ganz auf den Rücken zu werfen, die Hufe, leicht angewinkelt, nach oben gestreckt wie ein Spielzeugtier. Mehrmals rollte es mit Schwung von einer auf die andere Seite und rieb dabei seinen Rücken im Staub. Wenn es sich danach, unter großer Anstrengung, wieder auf die Hufe gewuchtet hatte, schüttelte es sich ausgiebig, schüttelte den ganzen Körper, als gelte es nicht nur, den Staub loszuwerden, sondern auch die in der ungewohnten Haltung verschobenen inneren Organe wieder an die rechte Stelle zu rücken. Dabei machte es sich ganz steif, streckte den Hals so weit, wie es ging, nach unten, bleckte die Zähne und schnob. Pferde schienen mir glücklicher als Menschen zu sein.

Es wunderte mich, wie viel Zeit das Pferd mit Fressen verbrachte. Fast immer stand es an dem Ballen Heu, den man ihm über das Gatter warf, und zermalmte die Halme. Und auch in der Nacht, wenn die Pfiffe der zwei Lokomotiven des Güterzuges mich gegen zwei Uhr weckten, während seine fünfzig Containerwagen mit dumpfem Rumpeln langsam den Ort durchquerten, hörte ich schließlich, wenn der Zug als geisterhaft leuchtendes Band in der Prärie verschwunden und alles wieder still war, als erstes das mahlende Geräusch der Pferdekiefer.

Manchmal stellte die Stute sich mit dem Kopf an eine Ecke des Hängers, so, als ob sie einmal die Augen verbergen wolle. Dann vielleicht, wenn wir das Gesicht in die offenen Hände legen. Sonst immer: Der offene Blick der riesigen Augenkuppeln, die glänzten, als könne man die Schlieren der Tränenflüssigkeit darauf sehen, wie auf Seifenblasen die schwerelose Bewegung der regenbogenbunten Lauge. Und noch im Einschlafen stellte ich mir den lässigen, etwas schleppenden Gang der Stute vor, bei dem die Bewegung Schritt für Schritt aus dem gesenkten, wippenden Kopf in den Körper zu fließen scheint, mit der großen Gleichgültigkeit des Kopfes unter der Mähne und mit diesem leeren, lidgesenkten Blick. Ihr fettiges, kurzstoppeliges Fell, dessen Haare bei jedem Streicheln an der Hand blieben. Der Geruch nach Pferdeäpfeln und der hochgehobene Schweif beim Kacken, die durchgedrückten Hinterläufe beim Pissen und der gelbe, dicke Strahl. Die große Frucht ihrer schwarzsamtsäumigen Möse.

Und wie das Pferd manchmal, nicht oft, plötzlich aus dem Stand zum Galopp ansetzte, kaum mehr als eine polternde Schrittfolge war in dem engen Pferch möglich, schon mußte es am Gatter wieder abbremsen und fiel in einen Trab, der so schnell war, wie die Enge es eben zuließ, für zwei Runden oder drei, blieb mit einem Mal dann wie erstarrt stehen, als warte es nun auf das Ergebnis seines Kraftausbruches. Und seltsam: Wenn ich ihm dabei zusah und die Starre dieser Erwartung spürte, dachte ich selbst manchmal, jetzt werde irgend etwas geschehen.

 

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Alpine Garnelen.

  In: BRAENTSCHU. Tre racconti inediti di Thomas Hettche. Otto incisioni all'acquaforte e all'acquatinta di Saskia Niehaus. Prato 2005.

Was ich als Kind schon einmal gesehen, aber dann wieder vergessen haben muss, weil es solche Winter wie hier in deutschen Mittelgebirgen nicht mehr gibt, ist, wie Schnee, wattig leicht gefallen, zunaechst matt daliegt und stumpf wie ein luftiges Gewebe an der Sonne, die ihn dann aber einsinken laesst und glasiert wie eine Crème brulée, und wie, wenn es kalt bleibt, aber die Sonne weiter auf diese lackierte Oberflaeche trifft, deren Konturen irgendwann nicht mehr harsch und windschnittig um die Dinge stehen, sondern weich wie fast erstarrender Gips werden, der in traegen Wellen zu fliessen scheint, bis er schliesslich unter dieser karamellisierten Schicht langsam wegschmilzt, dabei eine ganz filligrane Haut zuruecklassend, wie von einer gehaeuteten Schlange so leicht, doch fester in der Substanz, durchsichtig und duenn wie Chitin, wie die verlassenen Panzer seltsamer Schalentiere, alpiner Garnelen, die man dann an den wenigen Stegen und tropfenden Pfeilern, die sie noch mit der Schneeschicht darunter verbinden, abbrechen kann und einen ganz kurzen Moment festhalten und befuehlen, bevor die fremde Haut einem in der Hand zu nichts zerschmilzt und von den Fingern tropft, als habe man im Meer umsonst nach einem chimaerenhaften Fisch gegriffen. Ein wenig bitter riecht der Schnee, frisch und bitter, und ganz leicht nach Nuessen.

 

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Mein Lieblingsbuch.

  Cormac McCarthy: „All die schönen Pferde.“ 3.8.2004

„Cormac, ich langweile mich!“

„Was soll das, Gott? Ich habe doch gerade erst Verlorene geschrieben. Genügt Dir das nicht?“

„Doch, doch, das war schon ganz gut.“

„Aber?“

„Na ja“, sagte Gott, „ich dachte da an einen Roman, der es zunächst einmal mit diesem neumodischen Zeug aufnimmt, das ihr Kino nennt. Du kennst das doch: Diese Geschichten mit Cowboys und Indianern und so.“

Cormac McCarthy nickte. „Kenn ich. Was noch?“

„Außerdem sollte es ein Roman sein, der nicht einfach nur eine Geschichte erzählt.“

„Was meinst Du denn damit?“

„Na ja … Du weißt schon.“

„Hm.“ Cormac nickte wieder.

„’Tschuldigung?“

„Was gibt es denn?“ Gott drehte sich ziemlich ungehalten nach mir um.

„Verzeihen Sie bitte“, sagte ich schüchtern, „eine Frage nur: Warum gerade er?“

„Warum wohl – wegen seines Stils natürlich!“

Ich glaube, ich starrte ihn recht lange an.

Gott seufzte. „Stil, verstehen Sie, junger Mann, ist nicht einfach die Handschrift eines Schriftstellers. Das wollen einen nur die Hersteller edlen Schreibgeräts glauben machen. Stil ist auch keine Pirouettenkunst, wie die Sportreporter unter den Feuilletonisten gern behaupten.“

„Sondern?“

„Jeder Stil ist ein besonderes Gefäß für die Welt.“

„Ach“, sagte ich, doch Gott hatte sich schon wieder abgewandt.

„Und eins noch, McCarthy!“

„Was denn noch?“ Der Schriftsteller sah ihn gequält an.

„Ich finde, daß ihr anfangt, meine Natur etwas sehr zu vernachlässigen. Letzten Endes kommt ihr doch nicht um sie herum.“

„Verstehe.“ Der Schriftsteller runzelte die Stirn und dachte kurz nach. „Was hälst du von Texas?“

„Find‘ ich ok.“

Cormac McCarthy nickte. Und als Gott gegangen war, setzte er sich hin und schrieb All die schönen Pferde. Und vielleicht, weil er die Stimme Gottes noch im Ohr hatte, legt sich in diesem Roman die Sprache Cormac McCarthys so perfekt um die Dinge, die sie erschafft.

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Marfa, TX.

  25.3. 2004.

Alle Straßen enden im Nichts. Wer nachts einmal glaubt, weg zu müssen, steigt in seinen Wagen und fährt zwei oder drei Blocks, schaltet die Zündung aus und läßt die Räder bis dorthin ausrollen, wo der Asphalt endet. An dieser Kante bleibt er stehen und löscht die Scheinwerfer. Dann verschwindet die Welt.

In RAY’S BAR, der einzigen am Ort, erzählen jene, die auch nicht schlafen können, gern die Geschichte, wie damals im Sommer 1883 der erste Zug der GALVESTON, HARRISBURG & SAN ANTONIO RAILWAY hier gehalten habe, um Wasser aufzunehmen. Welchen Namen die neue Station bekommen solle, hätten die Eisenbahner überlegt. Marfa, habe schließlich die Frau des Ingenieurs gesagt und wieder in ihr Buch gesehen. Was ist das denn für ein komischer Name? wollte ihr Mann wissen. So heißt jemand in dem Roman, den ich gerade lese, habe sie nur gesagt. Dabei sei es geblieben.

Marfa liegt im äußersten Winkel von Westtexas. Von Houston oder Dallas ist man mit dem Auto zehn Stunden unterwegs. Die nächsten Städte sind El Paso im Westen und Midland im Nordosten, beide ziemlich genau dreihundert Kilometer entfernt. Wenn man von El Paso kommt, verläßt man die vergleichsweise glamouröse Interstate 10 mit ihren Motelketten und Burgerbuden, den riesigen Masten mit Neonwerbung und den Billboards nach etwa drei Stunden bei der Wüstenstadt Van Horn und hat dann noch fünfundsiebzig Meilen auf dem sehr einsamen Highway 90 vor sich.

Die nur mehr einspurige Straße verläuft zumeist schnurgerade parallel zur Eisenbahnlinie neben hölzernen Strommasten her, auf denen porzellanene Isolatoren blinken. SIEBZIG MEILEN KEIN SERVICE! mahnt ein Schild. Der Sendersuchlauf des Radios eilt unermüdlich durch das Frequenzband, ohne noch auf ein Signal zu stoßen. Kein Kondensstreifen markiert den riesigen Himmel, oft ist man der einzige Wagen bis zum Horizont. Wenn man anhält und aussteigt, nimmt der Wind das Ticken des heißen Motors schnell mit sich fort, dann ist es still. Die Prärie hinter den Stacheldrahtzäunen ist so leer wie der Himmel. Manchmal markiert ein Eisentor die Einfahrt einer Farm, ohne daß man Gebäude sähe, manchmal mündet eine farm road in den Highway, eine Schotterpiste, der man nachschaut, wie sie sich zwischen dem grauen Gestrüpp verliert.

Einfach, indem sich die Abstände der Gehöfte zueinander verringern, wird das Land unmerklich zur Stadt. Schließlich erscheint linkerhand der weiße Stern von TEXACO, dahinter DAIRY QUEEN und DOLLAR GENERAL, der PUEBLO MARKT und das HOLIDAY CAPRI INN, gegenüber das THUNDERBIRD MOTEL mit seiner Leuchtschrift aus den Fünfzigern, die sich über die Straße zu werfen scheint. Dann sieht man beinahe auch schon wieder durch die Stadt hindurch, wie durch fadenscheinigen Stoff, und die Straße nimmt Schwung auf ferne Berge zu, die sich dunkel am Horizont abzeichnen. Letzter Halt davor und eigentliches Zentrum der Stadt ist das stolze EXXON-Zeichen auf seinem hohen, dreigliedrig gestuften Stahlmast an der Kreuzung von Highway 67 und 90. Hier trifft die Eisenbahnlinie auf den alten Chihuahua-Trail, der vom Golf von Mexiko nach Norden führt, und dem etwa die Goldsucher auf dem Weg nach Kalifornien folgten. Sechzig Meilen südlich liegt Presidio, die Grenzstadt zu Mexiko am Rio Grande, die als heißester Ort der USA gilt.

Welchen Roman die Dame damals im Zug gelesen hat, weiß man in Ray’s Bar auch: THE BROTHERS KARAMASOV. In der Public Library, einem kleinen, einstöckigen Bau in einer Seitenstraße, in der einige mittelalte Damen Dienst tun, findet sich ein abgegriffenes, 1957 in New York bei SIGNET BOOKS erschienenes Taschenbuch des Romans „by Fyodor Mikhailovich Dostoyevsky“, das von selbst an jener Stelle aufklappt, an der die Dienerin Marfa Ignatyevna das erste Mal auftritt. Sie sagt: „I understand what duty means, Grigory Vassilyevitch, but why it’s our duty to stay here I never shall understand.“

Eine witzige Frau, diese Ingenieursgattin, denke ich, der es wohl in Texas nicht all zu gut gefallen haben wird. Grigory Vassilyevitch, Marfas Mann, antwortet jedenfalls, es komme nicht darauf an, was sie, Marfa Ignatyevna, verstehe. Und der Erzähler setzt hinzu: „And so it was. They did not go away.“

Maiya Kerk nickt. Auch sie würde nicht mehr von hier weggehen. Marfa ist für sie ein ganz besonderer Ort, seit sie 1994 aus New York hierherkam. Die Künstlerin hat vor wenigen Jahren mit Maiya’s ein Restaurant eröffnet, das man hier zunächst für eine Fata Morgana zu halten geneigt ist: Der hohe, karge Raum ist mit kleinen Tischen bestückt, die weiße Tischdecken, Stoffservietten und Kerzen tragen, die Bedienungen lange Schürzen. Natürlich sei das Leben in Marfa sehr isoliert. Das Mediengewitter erreicht uns nicht, sagt sie, offensichtlich froh, nicht naß zu werden.

Doch die Infrastruktur des Ortes, dessen Straßenbild als Versorgungszentrum der umliegenden Ranches noch immer von Pick-ups und Männern mit Cowboystiefeln bestimmt ist, wandelt sich. Die Tendenz zur Abwanderung scheint gestoppt, Marfa hat inzwischen wieder eine Bevölkerung von über zweitausend Einwohnern. Jahrelang leerstehende Häuser werden verkauft, neue Läden eröffnet. Zwar sind noch immer die BORDER PATROL und das U.S. DEPARTMENT OF IMMIGRATION AND NATURALIZATION die größten Arbeitgeber im Ort, doch eigentlich verantwortlich für den Aufschwung ist der vor zehn Jahren gestorbene Künstler Donald Judd.

Warum soll man hier bleiben? Maiya Kerk lacht über die Frage von Marfa Ignatyevna. Wie viele, die in den letzten Jahren kamen, tat sie es wegen Donald Judd. Sie streicht die langen Locken aus dem ungeschminkten Gesicht und nickt zu dem Buchladen auf der anderen Straßenseite hinüber. Der Anwalt Tim Crowley aus Houston kaufte 1997 den ganzen Gebäudekomplex und eröffnete darin die MARFA BOOK COMPANY, deren Sortiment jeder deutschen Kunstbuchhandlung zur Ehre gereichen würde. Vor einiger Zeit mietete sich auch die LANNAN FOUNDATION aus Santa Fe, die Stipendien an amerikanische Schriftsteller vergibt, bei Tim Crowley ein. Die MARFA BOOK COMPANY fungiert zudem als Wein- und Espressobar und am Sonntagmorgen trifft sich hier eine internationale Kunstszene zum Frühstück mit Cappucchino und Croissant und plaudert über ihrer Projekte, die dabei sind, nach und nach den Charakter des Ortes unwiederbringlich zu verändern. Maiya arbeitet bei einem kleinen Piratensender mit, der nachts Jazz in den leeren Äther um Marfa bringt, sie verhandelt mit Ranchern, die erstmals darüber nachdenken, ihr Fleisch direkt zu vermarkten, und sie hat begonnen, ihr eigenes Gemüse anzubauen. Bald wird es einen Montessori-Kindergarten geben. Felix, ihr Sohn, ist vier Jahre alt. Wir alle sind wegen Donald Judd hier, wiederholt Maiya Kerk, dann muß sie in die Küche.

Noch kocht sie fast jeden Abend selbst. Grilled radicchio mit Gorgonzola und Walnüssen, eine savory tart mit karamelisiertem Fenchel. Das Steak auf der Karte notwendige Reminiszenz, der schnurrbärtige Familienvater, der den weißen Stetson auf den Stuhl neben sich gelegt hat, verzehrt es genüßlich und in sich gekehrt, während Tochter und Frau neugierig die anderen Gäste mustern, europäisch gekleidete junge Menschen zumeist, die San Pellegrino bestellen und den samtigen, wohltemperierten San Giovese.

Um zehn schließt das Restaurant und man tritt in Stille hinaus. Rechterhand schwanken die Ampeln an den Drahtseilen über der leeren Kreuzung und blinken ihr gelbes Dauerfeuer. Am anderen Ende der Highland Avenue strahlt das vor wenigen Jahren frisch renovierte Courthouse in seiner stolzen Denkmalschutzbeleuchtung inmitten kleiner Villen und der neogotischen Kirchen der verschiedenen Konfessionen. Bereits 1885 wurde der Sitz des Landkreises von Fort Davis nach Marfa verlegt, ein Jahr später das Courthouse errichtet. Es ist das bürgerliche Zentrum des Ortes, an dem sich auch das lange geschlossene Theater Marfas befindet und die Feuerwehr, das ehemalige Gefängnis und das Hotel EL PAISANO.

Das Hotel galt einmal als das beste zwischen San Antonio und El Paso. Henry C. Trost, dessen mit Stahlbeton und Art Deco versöhnter spanischer Kolonialstil Texas prägt, baute es 1930 in Erwartung eines Ölbooms, der nie kam. Und so ist der größte Moment in der Geschichte des EL PAISANO jene kurze Zeit, als 1955 die Filmcrew von Paramount Pictures während der Dreharbeiten zu GIGANTEN mit Elizabeth Taylor, James Dean, Denis Hopper and Rock Hudson hier logierte. Der Film von George Stevens, in dem es um eben jene Ölfunde ging, die es hier nie gab, wurde nahe Marfa auf dem Gelände einer Ranch gedreht, wo man die letzten Überreste der Kulissen noch besichtigen kann. Vor vier Jahren wurde das Hotel von den Besitzern des LIMPIA HOTELS im nahegelegenen Fort Davis erworben und seitdem bemüht sich das peu á peu renovierte PAISANO, den Dornröschenschlaf aus den Augen zu kriegen, in den es für lange Zeit gesunken war. Doch noch hört man in der mit Schmuckkacheln in üppigen Farben gefliesten Halle mit dem Stier- und dem Bisonkopf zumeist nur das Gebläse einer alten Heizanlage, der Tresen ist unbesetzt und viele der schönen, mit alten Möbeln und Bädern ausgestatteten Zimmer bleiben leer, die Türen zu den langen Gängen weit offen. Der Springbrunnen im Patio, um den das Hotel angelegt ist, wird nur am Wochenende angestellt.

TRANS-PECOS nennt man diesen Teil von Texas zwischen Pecos und Rio Grande, eine Grenzregion und noch heute der am dünnsten besiedelte Landstrich der USA, durch den alle nur hindurchzogen, spanische, französische und amerikanische Eroberer, Indianer auf ihrem war trail und Soldaten der gerade entstehenden Nation, weiße Siedler auf dem Weg nach Westen und mexikanische Farmer, die von Süden kamen.

Noch zwei Jahre, nachdem die Gattin des Ingenieurs hier hinter den herabgelassenen Vorhängen ihres Salonwagen in die texanischen Ebene hinauspähte, notierte Lucas Brite auf dem Capote Peak in sein Tagebuch, er sehe ringsum kein einziges Zeichen menschlicher Anwesenheit. Mit Brite aber, nach dem das markanteste Gebäude in Marfa benannt ist, änderte sich das schlagartig. Schon ein Jahr später gab es sechzigtausend Rinder westlich des Pecos und jener Lebenstil der Rancher begann sich zu entwickeln, der diese Landschaft bis heute prägt.

Geologisch inmitten eines Ausläufers der größten Wüste Nordamerikas gelegen, der Chihuahua, ist das Marfa-Plateau eine Hochebene, die im Norden der GUADALUPE MOUNTAINS NATIONAL PARK begrenzt und südlich, in einem Knie des Rio Grande, der BIG BEND NATIONAL PARK. Eintausendfünfhundert Meter über Null, ist es hier auch im Hochsommer so angenehm kühl, daß die Siedler den Nachbarort Alpine nannten, und Pensionäre aus Houston und Dallas hier gern ihren Lebensabend verbringen. Nur am Ende des Sommers, im August, zieht der strahlenden Himmel zu und es gibt dramatische Gewitter, die man in der Ebene weithin sehen kann. Dann fällt oft in wenigen Stunden der Regen des ganzen Jahres und die trockenen arroyos, die die Landschaft durchziehen, werden zu reißenden Strömen. Die Kröten kommen aus der Erde und die Luft, die in dieser trockenen Landschaft an manchen Tagen aus Glas zu sein scheint ist, riecht plötzlich würzig und schwer.

Diese Landschaft ist vom Raum geprägt, der alles so weit auseinanderzerrt, daß in den Zwischenräumen eine fast unnatürliche Stille aufbricht. Keine Vögel hört man hier, keine Zikaden und nicht mal das Gras wispert. Jedes Geräusch mutet an wie eine eigene Insel in dieser Stille, das metallene Schleifen der Flügel eines der Windräder auf den Weiden die das Wasser heraufpumpen, das scheppernde Knarzen einer Fliegentür, der sich langsam nähernde Motor eines Flugzeuges der Border Patrol.

Nachts hört man die Schreie der Züge, die ihre kilometerlangen Waggonketten langsam hinter sich durch das Land schleppen, und es klingt, als wäre der ganze riesige Himmel über der nachtschwarzen Prärie ihr Echoraum. Bei Tage machen sie lange dünne Striche durch die Landschaft, bis zu sechs der gelben Dieselmaschinen der Union Pacific ziehen über einhundert Wagen, die jeweils zweigeschossig mit Containern beladen sind. Sehr langsam rollen die Züge durch die Ebene und oft warten sie, eine Stunde oder länger, auf freier Strecke, auf ein Signal oder was auch immer. Keiner von ihnen hält mehr in Marfa, doch ihre Pfiffe sind es, die weiterhin Land und Stadt immer von neuem miteinander verklammern.

Anders als in New Mexiko oder Arizona sind in Texas über neunzig Prozent des Landes eingezäunt, und es scheint, als habe sich diese Ungreifbarkeit der Weite hier ihre eigene, ganz handgreifliche Symbolisierung geschaffen: Marfa’s Mystery Lights. Man wirbt auf großen Billboards für diese Attraktion des Ortes und hat neun Meilen außerhalb eine MARFA’S MYSTERY LIGHTS VIEWING AREA eingerichtet, mit Parkplatz, unzähligen Mülltonnen, Hinweistafeln und Toiletten. Nach Einbruch der Dunkelheit versammeln sich an diesem, tagsüber verlassenen Ort auch jetzt, Ende November, noch zwei Dutzend gegen die Kälte in dicke Jacken gehüllte Besucher, die sich von Kapuze zu Kapuze über Lichterscheinungen austauschen, die tatsächlich am Horizont zu sehen sind. Lichter, die an Motorradscheinwerfer erinnern, die sehr langsam einen Hügel hinabzittern, verschwinden, wieder erscheinen, einmal zwei und dann fünf.

Der Cowboy Robert Reed Ellison, der 1833 erstmals von diesem Phänomen berichtete, dachte, es seien Lagerfeuer der Apachen. Die Apachen selbst hielten die Lichter für stars dropping to the earth. Die Besuchern, die ihre Aufmerksamkeit starr auf das homogene Schwarz über der Prärie richten, haben keinen Blick für den tatsächlich wunderbaren Sternenhimmel, den diese Dunkelheit über ihre Köpfe zaubert. Deutlich glitzert das Kollier der Pleiaden. Der Himmel ist so durchsichtig, daß man über die Sichel des Mondes dessen ganzen dunklen Körper zu sehen glaubt. Die esoterischen Besucher schaukeln in ihren übergroßen Vans in die Nacht davon.

Über achtzig Prozent der Einwohner Marfas haben Spanisch zur Muttersprache. Traditionell lebten die Mexikaner südlich des Highways, in den ärmeren Vierteln des Ortes. Doch das sei heute nicht mehr so, versichert man mir, das Nebeneinander funktioniere gut. Der Friedhof aber kennt die Rassentrennung noch. Wenn auch nur mehr aus Tradition, wie der Gärtner betont. Die gleichförmig grauen Betoneinfassungen der Grabstellen im Format von Kingsize-Betten sind im spanischen Teil durch bunte Plastikblumen, Weihnachtsschmuck und Heiligenbilder aufgehübscht, während den Gräbern der Weißen nur die kleinen amerikanischen Flaggen etwas Farbe geben. Die Erde ist steinig und staubig wie überall, kaum ein bleiches Grasbüschel hält sich da. Die Fahnen flattern und der Strahl eines Rasensprengers zischt in sicherem Abstand vorüber.

Was würde Donald Judd auf die Frage Marfa Ignatyevna geantwortet haben? Warum soll man hier bleiben? Warum hat er selbst sich diesen Ort in der Wüste ausgesucht und vom Ende der siebziger Jahre an immer mehr Land gekauft und leerstehende Häuser, Möbel für sie entworfen und Inneneinrichtungen, befreundete Künstler eingeladen, hier auszustellen, und vor allem selbst seine Kunst hier erarbeitet?

Marianne Stockebrand, einst Leiterin des Westfälischen Kunstvereins in Münster und nun seit 1994 Direktorin der Chinati Foundation, blinzelt in die kalte Helligkeit des Wintermorgens hinaus. Vor der Fensterreihe der Holzbaracke, die mit einem langen Tisch als Besprechungszimmer eingerichtet ist, steht ein struppiger Baum, unter dem sich gerade die Touristengruppe für die Vormittagsführung sammelt. Ihr hochgeschlossener schwarzer Rollkragenpullover betont den langen Hals und die schmalen Schultern, der dunkle etwas körnige Lippenstift ihr feines Gesicht.

Das Gelände der Chinati-Foundation umfaßt heute einhundertzehn Hektar Land, sagt sie. Es ist das Areal des ehemaligen, einst als Kavalleriestützpunkt gegründeten Fort D.A. Russell, in dem zuletzt in den dreißiger Jahren das 77th Field Artillery Battalion mit zwanzig Offizieren und sechshundert Soldaten stationiert war. Den Mittelpunkt der Anlage bildete damals noch ein Polofeld, um das sich zunächst halbkreisförmig Pferdestallungen und die Baracken der Mannschaften gruppierten. In den Baracken ist heute die Stiftung untergebracht. Sämtliche Verwaltungsgebäude, die Wohnhäuser der Offiziere, ein Kino, das Kasino, ein Theater, ein Schwimmbad und das Lazarett befanden sich außerhalb des jetzigen Stiftungsgeländes. Das Schwimmbad in Form eines mexikanischen Forts mit vier bezinnten Ecktürmen existiert noch, vermauert und zugewachsen, vom Kasino stehen nur noch die Außenmauern, die Häuser der Offiziere sind längst zivil bewohnt. An der höchsten Stelle der noch immer Officers Hill genannten Erhebung endet die Straße vor der einstigen Villa des Kommandanten.

Marianne Stockebrand räuspert sich. Es hat viel mit der Landschaft zu tun, sagt sie leise und sieht wieder hinaus.

Kurz nachdem Judd sie nach Marfa geholt hatte, starb er. Und sie stand vor der Frage, wie die Foundation nach seinem Tod funktionieren sollte. Plötzlich mußte Geld verdient und Öffentlichkeit hergestellt werden, sagt sie. Seitdem gibt es Führungen. Und spätestens seit der Eröffnung der großen Installation von Dan Flavin im Jahr 2000, die in der New York Times als „last great art of the twentieth century“ gefeiert wurde, wird die Chinati-Foundation von der Presse hofiert. Im letzten Jahr kamen über zehntausend Besucher. Einmal im Jahr lädt die Stiftung zu einem open house.

Die Transformation Marfas von einer ranch town zu einem Ort auf der Landkarte der Kunst ist längst im Gange. Donald Judd hat diese Veränderung mit seinen FIFTEEN UNTITLED CONCRETE WORK angestoßen, großen Betonformen, die er zwischen 1980 und 1984 auf dem Gelände des ehemaligen Militärlagers errichtete. Gleichzeitig ließ er zwei große Artillerieschuppen zu Austellungshallen umbauen, in denen er über die Jahre hinweg einhundert Aluminiumboxen aufstellte. Die leeren Baracken überließ er Freunden, so daß nun hier und im Ort Arbeiten von John Chamberlain und Dan Flavin zu sehen sind, von Carl Andre, Ingólfur Arnarsson, Roni Horn, Ilya Kabakov, Richard Long, Claes Oldenburg, Coosje van Bruggen, David Rabinowitch und John Wesley. Donald Judd hat so seine Kunst in den Körper dieses Ortes implantiert. Nicht nur sein Minimalismus, mehr noch die Fähigkeit zur Langsamkeit, die sich in solcher Weitsicht auspricht, hat tatsächlich viel mit dieser Landschaft im Westen von Texas zu tun.

Und wer gehört zu der Kunstszene von Marfa, deren Mitglieder man bei MAIYA’S sieht oder in der MARFA BOOK COMANY? Marianne Stockebrands Mund zieht sich ein wenig zusammen. Sechs bis zehn Mitarbeiter habe die Stiftung, dazu komme das Gastkünstlerprogramm. Und es lebten immer einige Schriftsteller als Stipendiaten der LANNON FOUNDATION hier, die mehrere Wohnungen angemietet habe. Außerdem etwa zwei Dutzend Künstler, die sich nach und nach in Marfa angesiedelt hätten. Und dann seien in den letzten Jahren auch einige Rechtsanwälte und Geschäftsleute aus Houston, Austin und Dallas hierher gekommen, aber auch Galeristen und eine Photographin aus New York.

Marianne Stockebrand blinzelt wieder hinaus. Es gehe ihr um eine behutsame Sammlungserweiterung. Sie folge dabei Judds shortlist of projects. Gemälde von John Wesley. Eine Arbeit von Robert Irwing. Die Touristengruppe, geführt von einem der jungen kunstenthusiastischen Praktikanten, die jeweils für einige Monate hier leben, hat den kleinen Innenhof verlassen. Es ist wieder völlig still. Der Weg, der zu Donald Judds ONE HUNDRET ALUMINIUM PIECES führt, ist von ihnen selbst nicht abzulösen. Das Kunstwerk entzieht sich und zwingt dem Betrachter zunächst auf geradezu altägyptische Weise die Zeremonialrampe einer notwendigerweise langen Anreise auf, die nicht nur den Blick entleert und den ganzen Menschen vorbereitet.

Und dann: Man sieht diese einhundert hüfthohen quadratischen Boxen in den beiden Hallen, und erkennt sofort, daß es ihrer Stummheit und ihrem Glanz tatsächlich gelingt, dieser Landschaft Paroli zu bieten. Was man, je länger die Reise dauerte, eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Es handle sich hier, schrieb die New York Times, um männliche Kunst. Sicherlich, sie ist in die Härte verliebt wie jeder in die Weite und unter diesem Himmel. Doch zugleich haftet den scheinbar so abstrakten und technoiden Kuben, die alle ihr besonderes, ganz verschieden- und je einzigartiges Glasperlenspiel mit Raum und Licht betreiben, auf eine seltsame Weise etwas Menschliches an. Augen-, gesichts- und bewegungslos, gemahnt doch allein ihre Vielgestalt an Individualität. An den Moment des Menschlichen. An die Besonderheit jedes Gedankens und jeder Empfindung. Überrascht bemerkt man, daß man sich längst, ohne es auch nur zu ahnen, genau danach in dieser Landschaft immer stärker zu sehnen begonnen hatte.

Die Weite reicht hier bis in die versteppten Vorgärten hinein. Man spürt sie noch in der Verlorenheit des Kinderspielzeugs. Obwohl ganz dicht am Haus, sehen Klettergerüste und Schaukeln aus Eisengestängen, die rosa und hellblaue Farbe großflächig abgeplatzt, dunkler Rost darunter, in ihrer Verlassenheit so aus, als stünden sie bereits im Niemansland. Unendlich weit von der Zivilisation entfernt. Ein verlassenes Tretauto, dessen aufgemalte Scheinwerfer in die Weite hinausblicken, leicht eingeschlagen die Lenkung, als habe der Wagen in heftiger Fahrt gestoppt, wirkt wie das Indiz einer Bedrohung, die man nicht sieht. Warum soll man hier bleiben? Wer geht, wird es nicht erfahren.

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Sammlung und Zerstreuung.

  Die kannibalistische Erfüllung unserer Kultur. 23.12.2003.

Der Mangel, an den wir uns Schritt für Schritt gewöhnen, produziert seine eigenen Gespenster und Untoten. Bibliotheken und Theater, Zeitungen und Verlage, öffentlich-rechtliches Fernsehen und Universität – durch all die aufgelassenen Paläste unserer Kultur irrlichtern die Geister vergangener Pracht und die Chimären der neuen Talmi-Öffentlichkeit. Zusammen verdecken sie, daß es längst nicht mehr um Sentimentalität gegenüber liebgewonnenen Traditionen geht, sondern daß unsere Gesellschaft vor der Frage steht, was sie von sich selbst zu bewahren willens und noch in der Lage ist.

Die Frage nach den Bedingungen des Sammelns, nach den Veränderungen von Bewahren und Vergessen und also nach unserem Gedächtnis ist eine nach unserem Selbstverständnis: All unsere Sinne sammeln unaufhörlich die Welt. Unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis waren die Blaupausen von Vitrine und Katalog, unsere Erinnerungsräume die Vorlagen der Museen, unabänderlich ist das so, fraglich lediglich, was wir auf welche Weise in unsere Sammlungen aufnehmen, unsere Kultur die Geschichte dieses Prozesses. „Steinchen um Steinchen verzettelt die Welt, / Wissende haben’s zusammengestellt“, reimte der passionierte Sammler Goethe seinem Enkel Walter optimistisch ins Stammbuch. Doch dieser Glaube blieb Utopie.

Stets nur für sehr kurze Zeit, will es heute scheinen, korrespondiert dabei einem vernünftigen Aufbau der Welt das aufgeklärte Bewußtsein der Menschen als ihr Museum. Zumeist besteht ein Mißverhältnis zwischen der Welt und den Sammlungen, die uns unsere Sinne unkontrollierbar verschaffen. Überforderung und Langeweile, Leere und Rausch sind die wechselnden Anzeichen, daß Innenwelt und Außenwelt ständig synchronisiert werden müssen. Diesen Ausgleich hat Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen zu leisten, und so sehr sie sich dabei auch auffächert in Sparten und Formen, ist es doch die Problematik der Sammlung, die sie im Innersten verbindet.

Der Beginn dieses Mißverhältnisses scheint kaum bestimmbar, doch eine frühe und besonders eindrückliche Quelle ist der Bericht eines Studenten von einem Zirkusbesuch in Rom zu Beginn unserer Zeitrechnung. Der Name jenes Studenten der Rechtswissenschaft war Alypius. Er stammte aus Karthago und Freunde hatten ihn überredet, sie ins Kolosseum zu begleiten, obwohl er Gladiatorenkämpfe „durch und durch verabscheute“. Alypius nahm sich vor, einfach nicht hinzusehen. „Wenn ihr meinen Körper dorthin schleppt“, erklärte er seinen Kommilitonen, „glaubt ihr etwa, dadurch auch in der Lage zu sein, meinen Geist und meine Augen zu zwingen, an dem Geschehen da teilzunehmen? Ich werde anwesend und zugleich abwesend sein und auf diese Weise über euch sowie über das Geschehen da triumphieren.“

Als sie angekommen waren und sich, „wo Plätze frei waren, gesetzt hatten, tobte bereits alles vor wildester Lust.“ Zunächst gelang es Alypius tatsächlich, seine Augen geschlossen zu halten. Doch schließlich überwandt ihn die Neugier auf das, was er hörte, und er öffnete die Augen. “Da erlitt er an seiner Seele eine schwerere Verwundung als der, den zu sehen es ihn gelüstete, an seinem Körper; sein Sturz war beklagenswerter als der des anderen.“ Alypius sah hinab in die Arena und erblickte zwei Kämpfer, von denen einer, weswegen die Menge besonders laut aufschrie, gerade gestürzt war. Was bewirkte dieser Anblick? „Sobald er das Blut da gesehen hatte, überkam ihn auch schon die Sucht nach der wilden Lust; er wandte sich nicht etwa ab, sondern richtete gebannt seinen Blick auf das rasende Geschehen, genoß es in vollen Zügen, ohne es zu merken, ergötzte sich an dem verbrecherischen Wettstreit und berauschte sich an dem blutrünstigen Schauspiel.“

Damit aber war es um ihn geschehen. Er, der vor kurzem noch gehofft hatte, über die Zuschauer im Kolosseum „sowie über das Geschehen da zu triumphieren“, hatte sich unwiederbringlich verändert. „Er war nun nicht mehr der, als der er gekommen war, sondern einer aus der Menge.“ Doch schlimmer noch: „Er schaute, schrie, war leidenschaftlich ergriffen und nahm die Tollheit mit nach Hause, die ihn anstachelte, wiederzukommen.“

Eine Szene von großer Vertrautheit, bei der vor allem verblüfft, wie lange seit ihrer Niederschrift vergangen ist, so modern erscheinen die Affekte von Abwehr und Faszination der Gewalt, geradezu paradigmatisch die Überwältigung des passiven Rezipienten, wie man heute sagen würde, durch das Bild. Gerade, weil Augustinus in dieser Episode seiner BEKENNTNISSE den Unterschied zwischen realem Schmerz und inszenierter Gewalt aufhebt, kann er bis in die Bewertung hinein aktuelle Debatten über die Bedeutung visueller Medien vorwegnehmen, die Macht des Bildes als überwältigend, ja verletzend thematisieren – „erlitt er an seiner Seele eine schwerere Verwundung als der, den zu sehen es ihn gelüstete“ – , und zudem Selbstvergessenheit und Sucht als Begleitsymptome der Betrachtung beschreiben.

Augustinus formuliert damit an der Zeitenwende zur christlichen Welt Erfahrung als Mitleiden und bekommt so, indem er sich ganz modern der Unterscheidung zwischen real und fiktiv verweigert, vielleicht zum ersten Mal die erleidende Wahrnehmung selbst als Mittler und Medium zwischen Innen und Außen in den Blick. War in der Antike der Rausch vor allem im Diskurs der Diätik und des rechten Lebens von Belang, so zeigt sich hier, im christlichen Erschrecken des Alypius über die unabweisbare Stimulanz, nichts weniger als der Ausgangspunkt unserer medialen Geschichte. Es verschränken sich Wahrnehmung und Speicherung, Aufzeichnung und Erinnerung so miteinander, daß einer Mediengeschichte, die von dieser Erfahrung ausginge, die Entwicklung der Speicherformate und Schreibtechniken, Bilderverbote und Auslegeregeln zu einer Geschichte des Menschen in der Welt würde, dessen Schmerz es ist, wie die Welt in ihm ist.

Der Sensation dieses Schmerzes entsprachen in unserer Kultur weniger Künste des Vergessens als jene Techniken, denen es gelang, die Erinnerung vom Schmerz und von den Sinnen zu lösen und so nachhaltig über den Moment der Überwältigung hinauszureichen. Das ist der Inhalt aller Museen des Innern wie des Außen. Das konservierte Schwert des namenlosen, längst zerfallenen Gladiators hält die Erinnerung an den Kampf offen und versiegelt sie ebenso wie das Mosaik in der Villa, das mit dem Sieg des Kämpfers den brechenden Blick des Panthers bewahrt. Das Museum ist ein Ort, der den Tod bewahrt und zugleich die Angst vor ihm.

Dicht am Mirakulösen zunächst noch die Wunderkammern, dem Staunen verpflichtet die Mißgeburt neben der Koralle in Gestalt des Erlösers, das Gesicht in der Wurzel neben der marmornen Hand eines vergessenen Gottes, Natur und Kunst zunächst noch eines, bis Kultur nach und nach aussonderte und schließlich nur mehr das zuließ zum Dienst der Vitrinen, was von der Dauerhaftigkeit des Menschen kündete. „Naturform – antike Form – Kunstwerk – Maschine“, deklinierte Horst Bredekamp einmal die Abfolge menschlicher Selbstermächtigung anhand der musealen Artefakte.

Die Dinge, die wir sammeln, sind jene, die „der Natur zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden“, wie Hannah Ahrendt schrieb. Es sind Dinge, die „gebraucht und nicht verbraucht“ werden, denn „das Brauchen braucht sie nicht auf.“ Nur in ihnen ist „menschliches Leben zuhause, das von Natur in der Natur heimatlos ist.“ Was sich in ihnen bewahrt, bleibt die verkapselte Erinnerung an den Schock und die Verletzung des Alypius. Insofern aber bleiben sie gefährlich und die Vitrinen der Museen schützen daher nicht nur sie, sondern auch den Betrachter vor dem in ihnen akkumulierten Schmerz.

Das zeigt sich besonders deutlich in der zweiten wichtigen Gedächtnis-Sphäre unserer Kultur, jener der Be-Schreibungen, wie sie die Bibliothek versammelt. Vom Gehäus des Hieronymus an, einem der letzten Stützpunkte antiker Kultur in der syrischen Wüste, war sie ein phantastischer Ort, an dem vielfältige Erinnerungsgänge und Fiktionsräume nicht nur bei Borges, Benjamin und Eco ihren Ausgangspunkt nehmen.

„Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe“, lautet Foucaults berühmter Satz zu Flauberts VERSUCHUNG DES HEILIGEN ANTONIUS, einem anderen Bibliomanen in der Wüste. Elias Canetti schildert in seinem 1935 erschienenen Roman DIE BLENDUNG deutlich, daß die Bibliothek dabei nie ihre Herkunft aus der Höhle leugnen kann: „Sämtliche Wände waren bis zur Decke mit Büchern ausgekleidet. Langsam hob er an ihnen den Blick. In die Decke waren Fenster eingelassen. Auf sein Oberlicht war er stolz. Die Seitenfenster waren vor Jahren nach hartem Kampf mit dem Hausbesitzer zugemauert worden. So gewann er in jedem Raum eine vierte Wand: Platz für mehr Bücher. Auch schien ihm ein Licht, das alle Regale von oben gleichmäßig erhellte, gerechter und seinem Verhältnis zu den Büchern angemessener. Die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten – eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekam – fiel mit den Seitenfenstern weg. Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenz, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek.“

Die Angst, gegen die sich Elias Canettis Bibliothek abdichtet, ist dabei eine ganz heutige: daß die Apperzeption an der schieren Datenmasse des nicht durch Sprache gezähmten Bildmaterials zuschanden werden könnte. Etwa zur selben Zeit wie Canetti schreibt Siegfried Kracauer im ORNAMENT DER MASSE über Photographie: „Böte sie sich dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Photos fegt seine Dämme hinweg. So gewaltig ist der Ansturm der Bildkollektionen, daß er das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten droht.“

Dagegen steht die Bibliothek, die unendliche Räume der Fiktion verspricht und diese zugleich züchtigt und bannt in ihren Exerzitien der Karteikästen und Konkordanzen und den endlosen Rosenkränzen der Bibliographien – eine einzige große Maschine, zu verhindern, daß die Bilder sich so herkunftslos ausbreiten wie jene Viren, deren gegenwärtige mediale Wiederkehr die erste Beglaubigung einer digitalen Welt zu sein scheint, die nicht papieren, sondern lebendig ist.

Mit seiner „reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek“ hat Elias Canetti die sehr genaue Beschreibung dieses Phantasmas gegeben, dessen Elemente er korrekt benennt: Reichhaltigkeit meint Kanon, Ordnung Unterordnung unter Autorenschaft, und Abgeschlossenheit klare Regelung des Zugangs. Unschwer ist diesen Bestimmungen abzulesen, daß sie noch nach anderthalb Jahrtausenden auf jene Überwältigung im Zirkus reagieren, von der Augustinus berichtet. Und zwar mit einer wichtigen Bestimmung. Während das Museum die Angst in den Vitrinen bannt, verkapselt das Buch sie mobil. Nahm Alypius noch die „Tollheit mit nach Hause, die ihn anstachelte, wiederzukommen“, so tut er dies mit dem Buch scheinbar ungefährdet, denn – wie es im Faust heißt – „was man schwarz auf weiß besitzt / Kann man getrost nach Hause tragen.“ Es tut einem nichts mehr.

Doch auch das Buch bewahrt die Ambivalenz der bloß gezügelten Bedrohung. Die Gefahr des Ausbruchs bleibt virulent und Ansteckung ist nicht nur ein anderer, sondern der entscheidende Begriff für diese Bewegung, die ins Eigenste hineinreicht. „Noch ist es Druckerschwärze auf Papier; doch plötzlich werde ich aufmerksam, werde lebendig, ich entflamme, gerate in Hitze, ich werde von tausend verschiedenen Regungen umgetrieben“, schildert Louis-Sèbastien Mercier 1785 seine Rousseau-Lektüre. Ganz wie den Zuschauer Alypius überkommt auch den Leser „die Sucht nach der wilden Lust“, der Funke der Einbildungskraft entzündet sich am inszenierten Tod des Gladiators ebenso wie an den Buchstaben des Romans. Museum und Bibliothek halten mit Vitrine und Buch zwei Futterale vor, den Funken der Einbildungskraft einzudämmen, zugleich eine Form der kontrollierten Ansteckung zu ermöglichen und dabei doch die Amnesie zu verhindern, vor der es Augustinus schauderte.

Indem wir aber längst mit cut, copy & paste unsere persönliche Welt erweitern und umbauen und digitale Archive an die Stelle von Bibliotheken und Museen treten, geht die beschriebene Dialektik, die Distanz und Überwältigung zusammenband, für immer verloren. Maschinelle Wissensorganisation, wie etwa Suchmaschinen sie ermöglicht, ersetzt die verläßliche Einschreibung des Artefakts durch einen permanenten Prozeß der Umschreibung – in beiderlei Wortsinn. Verbindliches Wissen, deren Garantie die Bibliothek abgab und das gleichermaßen Legitimitätsgrundlage gesellschaftlichen Handelns wie symbolischer Politik war und so die Gesellschaft formte, wird in den virtuellen Räumen der digitalen Medien obsolet.

Während der Begriff des Speichers Hochkonjunktur hat, stehen die klassischen Orte kollektiven Gedächtnisses, Bibliotheken und Museen, vor ihrer Umwidmung. Eine Ordnung verschwindet, und die große Selbstverpflichtung der Moderne, die Koordination verbindlichen Wissens zu garantieren, gilt nicht länger. An ihre Stelle treten die Datenbanken kommerzieller Anbieter und das gespeicherte Wissen in den Intranets der Unternehmen. Verbindlich nurmehr für den, der es besitzt, öffentlich nurmehr im Hinblick auf seinen Käufer, wird man es managen und nicht mehr hüten.

Schließlich werden die zerfallenden Strukturen ein induktives Wissensmodell perfektionieren, das sich auf die Ordnungsleistungen und Verbindlichkeiten nicht mehr verlassen kann, wie sie Bibliotheken verkörperten. Die heutige Internetrecherche mag ein Modell solch künftigen Wissenserwerbs sein, ein anderes die Weise, wie einmal Abschriften und Palimpseste selbsttätig Sinn aus Fehlern generierten. Denn das, was das Netz von sich aus öffentlich und jenseits der Schutzzonen der Datenbanken an Wissen bereitstellen mag, wird keinem Anspruch auf Überprüfbarkeit und Kritik mehr gerecht. Es lebt und stirbt wie einst Mythen und Legenden.

Wer die Digitalisierung unserer Kultur nur als Zugewinn an Geschwindigkeit und Erreichbarkeit verstehen will, verkennt, daß der Verlust des physischen Objekts eine völlig neue Kultur des Bewahrens hervorbringt. Trösteten noch für Hannah Ahrendt die Artefakte den vergänglichen Menschen in der vergänglichen Natur mit einem Abglanz der Ewigkeit, verschwindet mit ihnen auch der Trost, der in ihrer scheinbaren Unvergänglichkeit lag.

Aufbewahrt wird paradoxerweise nur mehr, was verschwindet. Und genauso, aber anders, neu zu erscheinen vermag. Daß der Trost dabei in der Verläßlichkeit der Medien selbst liegt, die dies ermöglichen, zeigt schon an, daß es sich bei ihnen nicht einfach um Mittel handelt. Und auch, wenn man diese neue Kultur des Wandels in Permanenz noch immer Mode nenen wird, meint der Begriff doch schon heute etwas anderes als früher. Mode bewahrte in ihrem emphatischen Verständnis des Neuen stets ein retardierendes Moment und – man denke nur an Coco Chanels Selbstverständnis – die Erinnerung daran, daß sie selbst aus Emanzipation entstand. Immer operierte sie auf dem Grat zwischen Alltags- und Hochkultur. Diese aber ist durch die medialen Veränderungen so marginalisiert, daß die Spiele der Mode sie nun verdrängen. Deren spezifische Techniken des Erinnerns, die mit dem Vergessen arbeiten, erreichen das Zentrum des bürgerlichen Selbstverständnisses und ersetzen die Gedächtniskultur von Archiv und Museum. Es erfindet nun die Mode in ihren Zyklen das Vergangene exakt dann, wenn es am Horizont des Gewesenen ins Vergessen driften will, just in time aus einem letzten Erinnerungsrest neu. Mode bewahrt so die Formen, doch immer als gewandelte und gerade, weil sie zum Verbrauch und zum Vergessen bestimmt sind, vielleicht sogar reflektierter noch als Museum und Bibliothek, doch auch gleichgültig und ohne ein Interesse, das ihren engen Zeithorizont überschritte.

Es liegt auf der Hand, daß dies paßgenau den Ritualen des Speicherns und Umkopierens entspricht, wie sie uns die Vergänglichkeit der Datenträger und Formate der neuen Medien abverlangen. Während man in den alten Ordnungen etwas so ablegte, daß es wiedergefunden werden konnte, wird nun alles prozeßhaft generiert und ebenso naturhaft wieder verspeist. Es verbraucht sich jedes Datum als Sensation, und mit ihr das, was einmal Kultur hieß. Das Ergebnis ist eine Selbstvergessenheit, deren Indiz unter anderem eine unvergleichliche Konjunktur der Listen ist. Überall tritt die Statistik an die Stelle der Erinnerung, die Rezension wird durch die Bestsellerliste abgelöst, der Fan ersetzt den Kenner, den es nicht mehr gibt. Listen normieren das persönliche Urteil, machen die eigene Erfahrung datenbankkompatibel und reduzieren Auseinandersetzung auf das Mantra des Erfolges bei Amazon: Es gibt, was es gibt. Doch nichts bleibt.

Im Wahrnehmungsteppich der Medien, den jeder für sich knüpft und der in seiner Komplexität und Heterogenität allen künstlerischen Versuchen von Weltabbildung unendlich überlegen ist, verliert sich so alles, was man „getrost nach Hause tragen“ könnte. Das aber hat Konsequenzen nicht nur für den engen Kreis der Kultur. Wir alle denken und leben längst so. So, wie wir nicht satt sind, wenn wir nicht essen, sind wir dumm, wenn der Datenfluß einmal abreißt. Wir reisen mit beängstigend leichtem Gepäck, denn nichts von dem, was wir aufnehmen, akkumuliert sich noch in uns.

Das Ergebnis ist eine Pornographisierung der Öffentlichkeit, deren immer stärker mediale Prägung einerseits einen hilflosen, gleichwohl strukturellen Voyeurismus hervorbringt und andererseits den forcierten Exhibitionismus derer, die ihrer eigenen medialen Entäußerung als letzter Spur von Transzendenz zu folgen meinen. Das Spannungsfeld zwischen diesen Haltungen ist der Bezugsrahmen, der jenen der Tradition ersetzt. Pornographisierung meint dabei nicht nur, daß heute alle Inhalte medialer Öffentlichkeit sich auf die Pole von Verausgabung und Regression beziehen wie die Kultur der Bibliotheken und Museen auf Vorbild und Vergegenwärtigung, sondern daß dieses Spannungsfeld der Öffentlichkeit tatsächlich ein Pornographisches ist. Alles hängt dabei am Blick, dem Organ der Einbildungskraft. Hat doch Pornographie, wie es Jean Marie Goulemont einmal formulierte, damit zu tun, „daß das gezeigte Objekt ganz offensichtlich von einem Blick wahrgenommen wird, der selbst als zuschauender gekennzeichnet ist.“ Diese voyeuristischen Lust, die glaubt, sie sei Akteur, erhofft sich eine Aufhebung der Differenz zwischen Handeln und Erleiden, zwischen Einbildung und Realität, zwischen öffentlichen und privaten Sphären. Nacktheit fungiert dabei als Chiffre, daß die Körper sich aller sozialer Bezüge entkleidet haben, um in diesen pornographischen Raum eintreten zu dürfen. Und in seine ewige mediale Gegenwart.

Noch läßt sich die politische Sphäre dabei nicht ganz annullieren. Doch je mehr der technologische Horizont, der uns umspannt, tatsächlich zur zweiten Natur wird, um so mehr verliert sich die Angst vor dem Tod und der Ansteckung, die seit Augustinus den Umgang mit der Welt bestimmte. Wir erleben das Verlöschen einer Kultur der (heiligen) Schrift und die Wiedergeburt einer erneut paganen Bilderwelt. Der Jubel des Zirkus’ ist wieder zu hören, dem Alypius nicht widerstand: Das „Geschrei drang in seine Ohren und ließ seine Augen sich öffnen; das hatte zur Folge, daß sein doch eher verwegener als tapferer Geist getroffen in die Tiefe stürzte.“

Und vielleicht können wir tatsäxchlich erst jetzt, da immer spürbarer wird, welchen Verlust an Transzendenz der Umbau unserer Erinnerung zur Folge hat, jenen Schauder verstehen, von dem Augustinus schrieb. Denn er tat dies exakt an der Grenze zum Beginn jener Kultur, an deren Ende wir nun stehen. Auch unsere Welt kennt, wie der geschlossene Horizont der Antike, kein Außen mehr. Wieder scheint es keinen Standpunkt jenseits des eigenen Appetits mehr zu geben. Das Murren über die Brotverteilung ersetzt die Politik. Die mediale Entwicklung überantwortet uns der bedingungs- und ausweglosen Immanenz, dem Wiederkäuen der eigenen Visionen und dem Verzehr der Ziele, die wir selbst hervorbringen. Das aber hat einen kannibalistischen Umgang mit uns selbst zur Folge.

Die Scheu davor ist der Subtext jener ausdrucksstarken Schilderung der Gier des Alypius, wie Augustinus sie gibt: „Sobald er das Blut da gesehen hatte, überkam ihn auch schon die Sucht nach der wilden Lust; er wandte sich nicht etwa ab, sondern richtete gebannt seinen Blick auf das rasende Geschehen, genoß es in vollen Zügen“. Immer wieder findet sich im Christentum die Angst vor dieser kannibalistischen Lust. „Statt bei der Kommunion“, warnte der Kölner Kardinal Meisner 1996 in einer Predigt im Dom zu Breslau, „landet man im Kannibalismus“, wenn man die Relaisstation des göttlichen Bezuges verliert. Es nimmt nicht Wunder, daß im Zeitalter der kannibalistischen Gottferne gerade die Figur eines Kannibalen zu deren Inbegriff werden konnte.

Als DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER 1988 erschien und bald darauf verfilmt wurde, fand die Hauptfigur des Romanes von Thomas Harris schnell Eingang in die kollektiven Mythen: Dr. Hannibal Lecter. Der Titel bezieht sich dabei ebenso auf die christliche Symbolik des Lammes wie auf ein Kindheitstrauma der Heldin, der FBI-Agentin Clarice Starling, in deren Träumen immer wieder das Blöken hilfloser Lämmer zu hören ist, die sie als Kind im Stich ließ: Starling war keine gute Hirtin. Und so fragt sie der Psychoanalytiker und Kannibale Hannibal Lecter denn auch, ob sie glaube, wenn sie den Mörder fange, „retten Sie auch die Lämmer, und Sie wachen nicht mehr im Dunkeln auf und hören die Lämmer blöken? Clarice?“

Clarice Starling – und mit ihr der Leser – ist sich nicht sicher, ob diese Hoffnung, die sie natürlich hat, berechtigt ist. Was kann ihr der Kannibale versprechen? Heilung? Absolution? Oder doch nur die unmoralische Freiheit vom Mitleiden? Fragen, die, anders gewendet, die Spannung des Romanes ausmachen: Gibt es, jenseits einer christlichen Ethik, Gut und Böse? „Ja. Ich weiß nicht“, antwortet Clarice Starling. „Vielleicht.“

Am Ende des Romans ist der Fall gelöst, der Kannibale der Staatsmacht entkommen und die Lämmer schweigen. Und Hannibal Lecter schreibt seiner Patientin einen Brief: „Sie werden es sich immer und immer wieder verdienen müssen, das gesegnete Schweigen. Denn es ist das Leid, das Sie antreibt, das Leid vor Ihren Augen, und das Leid wird niemals enden.“

Diese Prophezeiung gleicht der Drohung der Bilder, die Alypius erlebte, aufs Haar. Das Mitleiden war es auch bei ihm, das ihnen ihre Macht verlieh. Und indem Hannibal Lecter dies ausdrücklich betont, wird klar, daß es für ihn selbst nicht mehr gilt. So, wie Alypius am Beginn des christlichen Bildverständnisses steht, befindet sich Hannibal Lecter bereits jenseits. Der Ohnmacht des frühen Christen in der heidnischen Welt entspricht die Potenz des Kannibalen nach der Auflösung der christlichen. Wie exakt diese Verortung ist, zeigt sich im Fortgang des Briefes. Lecter spielt darin mit der Doppeldeutigkeit des Namens der Romanheldin und schreibt von den Sternen, die er vor dem Fenster sieht. Er erwähnt Orion und Jupiter und betont, sie beide, er und Clarice Starling, blickten in denselben Himmel: „Einige unserer Sterne sind dieselben.“

Der Kannibale kann kaum darauf hoffen, daß seine Schülerin dieses Zitat erkennt. „Eadem spectamus astra, commune caelum est, idem nos mundus involvit“, heißt es in der berühmten dritten relatio des Quintus Aurelius Symmachus. Der römische Präfekt und Zeitgenosse des Augustinus wandte sich damit im Jahre 384 an Ambrosius, den mächtigen Bischof von Mailand, und bat ihn, den Tempel der Victoria wieder öffnen zu dürfen, ein Heiligtum am Nordrand des Forum Romanum, dessen Altar und Statue einst von Augustus geweiht worden waren. Es war ein Appell zur Toleranz: „Wir erblicken dieselben Sterne; der Himmel ist uns gemeinsam; dasselbe All umgibt uns.“ Doch dieses letzte Aufbegehren der heidnischen Welt blieb erfolglos gegen ein triumphierendes Christentum, dem antike Toleranz nichts mehr galt.

Kein Weg führt seither, an der Kirche vorbei, zurück zum antiken Maß. Und doch bewahrte das christlichen Mitleiden ein Erinnern daran, was Menschsein bedeutet. Der Appell des Kannibalen nun dekuvriert, was die von unserer erinnungslos heidnischen Medienwelt ständig eingeforderte Toleranz nach dem Ende einer christlichen Ethik nur mehr ist: die Gleichgültigkeit des Freßfeindes gegenüber seinen Opfern.

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I Modi X.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich will ihn im Arsch! Schöne, hochwohlgeboren,

Dieser Sünde würde ich gerne entraten.

Das ist Speise nach dem Geschmack von Prälaten,

Die denselben für immer verloren.

 

Steck ihn hinein. Nein! Laß mich nicht schmoren!

Macht man’s nicht mehr, wie’s einst alle taten,

Id est in die Möse? Aber ja, doch laß dir raten:

Es ist viel schöner, ihn hinten hineinzubohren!

 

Also gut, erteilt mir Unterricht.

Er sei Euer, und wenn es Euch unterhält,

Befehlt meinem Schwanz, wie es Euch entspricht.

 

Ich nehme ihn, Liebster, wie es mir gefällt.

Stoß ihn nach oben, nach da, komm noch nicht,

O heiliger, bester Schwanz dieser Welt.

 

Will, daß die Möse ihn hält!

Das tut sie, und nur allzu gern.

Ich wünschte, ich säß ein ganzes Jahr auf dem Herrn.

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Pietro Aretino: Stellungen.

  Oder: Vom Anfang und Ende der Pornographie. DuMont, Köln 2003.

Die Geschichte erregender Lektüren (Carolin Fischer) ist gleichermaßen eine der Unterdrückung wie des Nachruhms, eine der Geheimbibliotheken und Scheiterhaufen, aber auch eine Geschichte legendärer Drucke und schillernder Autorengestalten. Eine der berühmtesten ist jene eines schmalen Buches, das 1525 gedruckt, sofort verboten und verbrannt wurde, für immer verloren schien, und doch den Ruhm seines Verfassers über Jahrhunderte hinweg begründete. I Modi Stellungen, nannte man die Sammlung von gerade mal sechzehn Gedichten zu ihrer Zeit, Sonetti lussuriosi hießen sie später, und ihr Autor Pietro Aretino galt noch für Jacob Burckhardt als der größte Lästerer der neuern Zeit.

Der Skandal um die Modi nahm der Legende nach seinen Anfang, als sich Giulio Romano, der berühmte Schüler Raphaels, dem die Ausgestaltung der Sala di Constantino im Vatikan übertragen worden war, sehr über die schlechte Bezahlung des Papstes ärgerte. Nicht gerade motiviert, seine Arbeit zügig fortzusetzen, soll Romano, sich selbst zum Vergnügen und auch als Ausdruck seines Protestes, eines Tages sechzehn Liebesstellungen auf die Wände gezeichnet haben. Diese Zeichnungen, auf denen – wie Vasari schreibt – in verschiedenen modi, attitudini e posituri unehrenhafte Männer mit den Frauen zusammen liegen, müssen von solcher Direktheit und Kühnheit des Stils gewesen sein, daß sie schnell eine gewisse Berühmtheit im Klerus erlangten. Marcantonio Raimondi, der bekannteste Kupferstecher seiner Zeit, war so begeistert, daß er die Zeichnungen abnahm und Stiche von ihnen drucken ließ, die bald darauf in Rom kursierten.

Zweierlei hat wohl bei diesen lasziven Künstlerscherzen in den Gemächern des Papstes eine Rolle gespielt: Zum einen gehörten allen, die sich in diesen Skandal verwickeln ließen, zu jener künstlerischen Jeunesse dorée, die der Medici-Papst in die Stadt gelockt hatte und mit denen Rom seine letzte Blüte der Renaissance erlebte. Auf Papst Leo X. folgte 1521 Hadrian VI., ein Utrechter Asket, der sich in Rom wenig Freunde machte und um den man bei seinem Tod zwei Jahre später nicht trauerte. Und als ihm mit Clemens VII. erneut ein Medici nachfolgte, machte man sich Hoffnungen, der künstlerische Aufbruch würde weitergehen. In dieser Situation erschienen die Stiche Raimondis.

Zum andern gehört zum Verständnis des Skandals um die Modi die besondere Situation in Rom, dem Zentrum der Kirche mit ihrer Heerschar zumeist recht gebildeter Kleriker, die das Publikum der römischen Renaissance stellten. Die Kupferstiche Marcantonio Raimondi zu den Modi des Giulio Romano wurden von ihnen sicherlich ebenso goutiert wie die lästerlichen Spottverse des Modedichter Pietro Aretino.

Doch die goldene Zeit neigte sich, auch wenn ihre Protagonisten das noch nicht wahrhaben wollten, ihrem Ende zu. Und ein Anzeichen restriktiverer Moral war die Tatsache, daß der Papst Raimondi ins Gefängnis werfen ließ, als die pornographischen Stiche all zu offen kursierten. Einige dieser Blätter wurden an Orten gefunden, an denen sie am wenigsten zu erwarten waren, schreibt Vasari, und meint damit den Vatikan. Der Handel mit den Modi wurde verboten und ihr Druck mit der Todesstrafe bedroht.

Was dann geschah, ist in mehreren Quellen dokumentiert. So läßt etwa Ludovico Dolce in seinem Lehrschrift Dialogo della pittura intitolato l’Aretino von 1557 den Dichter selbst Auskunft geben:

 

Fab. „Da Ihr aber nun alle Dinge mit der Strenge eines Sokrates prüft, sagt mir doch, ob ihr wirklich glaubt, dass Rafael viel keuschen Sinn an den Tag gelegt habe, als er jene Männer und Frauen auf Papier zeichnete, und durch Marc’ Anton in Kupfer stechen liess, die sich auf lascive, je geradezu obszöne Weise umarmt halten?“

Aret. „Darauf könnte ich Euch erwidern, dass nicht Rafael, sondern Gulio Romano, sein Schüler und Nachfolger, der Schöpfer davon war. […] Sie fielen in die Hände des Marc’ Anton, welcher sie, um Geschäfte zu machen, für Baiern in Kupfer stach, und welcher ob seiner Kühnheit, wenn ich mich nicht dazwischen gelegt hätte, […] bestraft worden wäre.“

Fab. „Das nennt man Aloe mit feinem Zucker bestreuen.“

Aret. „Ich sage durchaus nichts Unwahres.“

 

Was wohl stimmt. Offenbar hatte sich der junge toscanische Poet Aretino tatsächlich für seinen Freund Raimondi, der im selben Jahr ein Portrait von ihm stach, bei dem Medici-Papst verwendet, den er zuvor in den Wirren der Papstwahl massiv publizistisch unterstützt und der eine offenes Ohr für den Landmann hatte. Jedenfalls kam Marcantonio Raimondi frei.

Es steht zu vermuten, daß sich hinter Verhaftung und Freilassung und vielleicht sogar hinter der Intervention Aretinos ein Machtkampf verbirgt, bei dem als Gegenspieler Aretinos wohl nur der päpstliche Datar Gian Matteo Giberti in Frage kommt (die Datarie war jene päpstliche Behörde, deren Zuständigkeit neben der Erledigung von Gnadenakten und der Verteilung von Pfründen auch die Zensur umfaßte), später bekannt als vorbildlicher Bischof von Verona. Nur so erklärt es sich, daß Aretino die Sache mit der Freilassung Raimondis nicht auf sich beruhen ließ, sondern – um den Triumph über seinen Gegner voll auszukosten – zu jedem der Kupferstiche ein Sonett schrieb, in dem die Liebenden der Bilder selbst zu Wort kommen. Der Dichter selbst hat in seinem Widmungsbrief an den Anatom Battista Zatti erläutert, was ihn dazu brachte: Als ich vom Papst Clemens die Freilassung des Marcantonio Bolognese erwirkt hatte, der im Gefängnis saß, weil er die 16 Modi in Kupfer gestochen hatte, bekam ich Lust, die Figuren zu sehen, von denen der Wichtigtuer Giberti ausgerufen hatte, man solle den trefflichen Künstler foltern und hängen. Und da ich sie sah, ward ich vom selben Geist angerührt, der den Giulio Romano trieb, sie zu zeichnen.

Ein Schritt zu weit. Pietro Aretino setzte mit dem Büchlein I Modi mehr als nur das päpstliche Wohlwollen aufs Spiel. Das Buch wurde sofort verboten und verbrannt. Und am 28. Juli 1525 stach man Pietro Aretino nieder. Als gedungener Killer wurde rasch Achille della Volta identifiziert, bei Giberti in Diensten, der, wie Johannes Hösle vermutet, wohl persönlich veranlaßte, Aretino zu erdolchen. Zwar überlebte der Dichter. Doch als der Papst sich weigerte, das Verbrechen zu verfolgen, wußte Aretino, daß er in der heiligen Stadt nicht mehr sicher war und verließ Rom für immer.

Der Dichter ging nach Venedig. In der Lagunenstadt, die immer eine besondere Distanz zum Papsttum hielt, und in der man ihn freudig empfing, wird er wenig später die Nachricht von der Plünderung der Heiligen Stadt durch kaiserliche Söldner 1527 mit Trauer erhalten haben, denn mit dem sacco di roma ging die römische Renaissance zu Ende, deren Glanz und Lebensbejahung auch noch den Ton seiner Modi durchstrahlt hatte. Es sind diese Gedichte ganz ein Kind jener Zeit, und vergleicht man sie etwa mit den späteren Ragionamenti, den in Venedig entstandenen Kurtisanengesprächen, spürt man, wie sehr doch später die Ökonomie der Liebe an die Stelle jener Sprache der Lust getreten ist, die die Sonette feiern.

Deren Ruhm kann auch die Tatsache nichts anhaben, daß 1557, zwei Jahre nach Aretinos Tod, Papst Paul IV. Petri Aretini opera omnia auf den ersten publizierten Index der katholischen Kirche setzt. Das schmale Bändchen der Modi war damit endgültig in den Kämpfen der Gegenreformation angekommen. Und, wie Hösle schreibt: Maßnahmen wie die gegen Pietro Aretino hatten für das Nachleben literarischer Werke katastrophale Auswirkungen. Auch Titel, die weder gegen die Moral noch gegen die Orthodoxie verstießen, verschwanden in den inferni der Bibliotheken und führten künftige Verleger vor den Richter. Die Zensur, gegen Ende des 15. Jahrhunders in nahezu allen Ländern Europas eingeführt, verlangte für jedes Druckwerk das Imprimatur – es werde gedruckt – der entsprechenden geistlichen Behörde. Womit sich zugleich Autorenschaft im modernen Verständnis durchzusetzen begann, da die entsprechenden Verordnungen etwa in Augsburg 1530 und in Regensburg 1541 bestimmten, auf den Druckschriften müsse der Namen des Verfassers und der des Druckers erscheinen. Diejenigen Bücher, die kein Imprimatur erhalten, weil sie schmutzige und unsittliche Dinge planmäßig behandeln, erzählen oder lehren, sind streng verboten, da nicht bloß der Glaube, sondern auch die Sittlichkeit, welche durch das Lesen derartiger Bücher nur zu leicht Schaden leidet, geschützt werden muß. Damit ist letztlich die Leitlinie der Zensur bis in unser Jahrhundert ausgesprochen. Und auch die einzige Ausnahme des Verbots, die man  bis in unsere Zeit den Kunstvorbehalt nannte, formuliert der Index bereits: Die Bücher älterer und neuerer Schriftsteller, die als Klassiker gelten und von jenem Schmutz nicht frei sind, werden mit Rücksicht auf die Eleganz und die Reinheit der Sprache gestattet.

Und auch die Dialektik von Verbot und Begehrlichkeit ist nicht neu. Obgleich die Modi Aretinos auf dem Index standen, wuchs der Ruhm dessen, was man nun die Aretinischen Stellungen nannte, so sehr, daß im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts der Name Aretino gar zum Synonym für Pornographie wurde. So läßt etwa der Marquis de Sade einen seiner Liberins ausrufen: Oh! Meine Freunde, selbst Aretinos Pinsel könnte die unvorstellbaren Ausschweifungen nur andeutungsweise wiedergeben. Immer wieder gab es auch Ausgaben der sogenannten Sonetti lussuriosi, die jedoch unzählige Verse versammelten, die schwerlich überhaupt von Aretino stammten. Die Modi selbst aber blieben, wie es schien, für immer verschollen.

Bis 1929 in Leipzig ein Aufsatz in der Zeitschrift für Bücherfreunde erschien, der den Titel Ein Aretinofund trug. Der Autor, den der Text im Untertitel als Max Sander in Mailand vorstellt, gab an, nach fast 400 Jahren etwas aus der Vergessenheit gezogen zu haben, ein Büchlein, […] das vielleicht helfen kann, Schleier zu lüften, möglicherweise bibliographische Rätsel zu lösen. Lakonisch geheimnisvoll berichtete Sander von seinem Fund: Über die Herkunft des nachbeschriebenen Sammelbandes ist nicht viel zu sagen: man fand ihn an einer Stelle, wo das Büchlein seit Jahrzehnten in einem Winkel so gründlich verstaubte, daß der neue Besitzer es leider – bevor es verhindert werden konnte – einer Waschoperation unterzog, zum Glück nur mit Wasser ohne Chemikalien. 

Das Format des Bandes ist 160 x 100 Millimeter, Dicke etwa 12 mm; Einband weiches Pergament mit zwei seidenen grünen Schließbändern, Grünschnitt mit roten Tüpfchen. Entstehungszeit des Einbandes schätzungsweise um 1550-1560. Der Miscellan in schmalem Oktav enthielt fünf verschiedene, einschlägig bekannte pornographische Texte der Renaissance, nämlich neben den Modi des Pietro Aretino auch die lange Zeit wohl fälschlicherweise ebenfalls Aretino zugeschriebene La Puttana Errante, dann La Zaffetta, ein Schmähgedicht, das sich wohl auf die berühmte Kurtisane Angela Zaffetta bezieht, mit der Aretino befreundet war, und schließlich Il Manganello und den Processus contra Ser Catium vinculum.

Alle vier Texte außer den Modi waren durchgehend paginiert und mit den gleichen Lettern auf ein Papier gedruckt, das als Wasserzeichen einen Anker im Kreis mit Edelweiß trug, was es wahrscheinlich machte, daß der Text in Venedig, und zwar in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, erschien. Die zehn Blätter der Modi dagegen, die den Schluß des Bändchens bildeten, waren, nach der Anordnung, den Lettern und dem etwas kleineren Papier zu schließen, ein unabhängiger Druck. Es fand sich kein Verfassername, weder Ort noch Jahr. Die vierzehn Holzschnitte waren 65 – 69 Millimeter breit und 57 – 60 Millimeter hoch, der Text war in italienischer Kursiv gedruckt. Das Frontispiz fehlte ebenso wie Blatt vier und damit die beiden Holzschnitte und Sonette, die sich darauf befunden haben mußten.

Max Sander war der Meinung, bei seinem Fund handle es sich um jene Ausgabe, von der Aretino selbst in einem Brief vom 9.11. 1527 an Cesare Fregoso spricht, dem er als Geschenk eben dieses libro dei sonetti e de le figure lussuriose beilegte. Er meinte, das Breitformat der ursprünglichen Kupferstiche Raimondis habe schlecht zu den Sonetten gepaßt, weshalb wohl ein Holzschneider beauftragt worden sei, das Format der Kupfer so zu reduzieren, daß es mit der Typographie der Gedichte harmoniere, zumal der Handel mit solch einem anrüchigen Buch kein Großformat vertrug. Zwar gibt es die Kupferstiche nicht mehr, von denen die Zensur nichts als den Nachruhm übrig ließ, doch verweist Max Sander in seinem Aufsatz auf einen Karton mit neun Fragmenten im British Museum in London – fünf der Fragmente sind etwas größer als eine Briefmarke, zwei sind die üblichen ovalen Elfenbeinminiaturen, zwei sind rechteckig, etwa 6 auf 7 cm, es sind ganz willkürliche Zufallsausschnitte, ein Kopf, ein Bein, der Teil eines menschlichen Körpers. Ein Vergleich dieser Fragmente mit seinem Fund belegte nun laut Sander, daß es sich bei unseren Holzschnitten um getreue Nachbildungen der Originalkupfer handelt: Die Gesichter sind gleich, und vor allen Dingen ist die Behandlung der Schatten in den Kupfern dieselbe wie in unseren Holzschnitten. Wir dürfen daher annehmen, daß von den 16 verlorengegangenen Kupfern des Raimondi 14 wieder aufgefunden sind, wenn auch nur in einer Holzschnittreproduktion.

Doch nicht lange blieb das fast vierhundert Jahre verschollene Werk in der Öffentlichkeit, aus der es die Zensur verbannt hatte. Schon kurz nach der Wiederentdeckung erwarb der Sohn des Dirigenten Arturo Toscanini die Modi und nahm sie mit in die amerikanische Emigration. Mehrfach wird das Buch in der Folgezeit veräußert, und die Spur läßt sich noch über eine Versteigerung bei Sothebys und den Katalog eines New Yorker Antiquars bis zu einer Genfer Stiftung verfolgen, wo sie sich verwischt. Der heutige Besitzer ist unbekannt, und jene sechzehn Sonette, die man getrost als einen Urtext der modernen Pornographie bezeichnen kann, sind in einem Tresor verschwunden und damit wieder in jener heimlichen Welt des Verbots und der fingierten Namen, die bis heute im Habitus der Bibliophilen fortlebt. Einmal nur, 1995, gab der unbekannte Besitzer die Erlaubnis, dieses letzte erhaltene Exemplar der Modi abzulichten, doch auch die Herausgeber der ersten wissenschaftlichen Edition der Werke Aretinos in Italien müssen seitdem Stillschweigen über ihre Quelle bewahren.

Irgendwo gibt es einen Tresor, in dem, wie zu hoffen ist, bei konstant niedriger Luftfeuchtigkeit und gleichmäßiger Temperatur ein schmales Büchlein liegt, so breit wie eine Hand und daumendick. Gebunden aus Papier, das vor über 450 Jahren in Venedig geschöpft wurde, gab es vielleicht einmal hundert, vielleicht tausend Exemplare dieses Buches. Nun ist es einzigartig und das mutet seltsam an. Denn obzwar pornographische Texte immer Samisdat waren, verbotene Ware und Schmugglergut, oft in opulenten Liebhaberausgaben in winzigen Auflagen gedruckt und mit fingierten Herkunftsangaben wie Cythera oder Lesbos versehen, ist dieser Literatur doch eine besondere Gier nach Verbreitung eigen. Ich stelle mir vor, wie der Besitzer der Modi, der kein Gesicht für mich hat, sondern nur Hände in weißen Baumwollhandschuhen, den Tresor öffnet und das Büchlein vorsichtig herausnimmt, wie einen Vogel aus seinem verhängten Bauer. Vielleicht teilt sich das Wissen um die Einzigartigkeit dieser Blätter ja tatsächlich jeder Berührung mit, die sich vielleicht so derjenigen des venezianischen Druckers verbunden fühlen kann, der die Holzstöcke der Schnitte aufs Papier preßte und die Gedichtzeilen in Blei dazu setzte. Aretino mag dieses Exemplar in Händen gehalten haben bei einem Buchhändler am Rialto, wo es unter der Hand verkauft wurde. Vielleicht hat Angela Zaffetta, die berühmte Kurtisane, mit der der Dichter befreundet war, darin gelesen. Vielleicht teilt sich all das mit, im Rascheln der Seiten und durch den dünnen Stoff der Baumwollhandschuhe, und dennoch muß es sehr einsam sein, diese Sonette der Liebe allein zu lesen. Jeder Reim balanciert in der Leere, wie der einsame Vogel auf dem Finger neben dem Bauer mit dem weißen Tuch.

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Die neue Keuschheit der Pornographie.

  Befreite Körper: Warum die Literatur der sexuellen Erregung an ihrem mutmaßlichen Ende angekommen ist. 21.01.2003

Die letzten Jahre waren bestimmt von einem ganz erstaunlichen Erfolg pornographischer Texte nicht nur bei den Lesern, sondern auch bei der literarischen Kritik, was um so mehr verwundert, als diese Hausse auf eine erbitterte moralisierende Diskussion folgt, die noch vor wenigen Jahren in der PorNo-Debatte gern ein generelles Verbot pornographischen Materials erreicht hätte. Und doch geht diese Konjunktur einher mit dem immer offensichtlicher werdenden Ende der erregenden Lektüre.

Und mit der Lust hat es einmal begonnen, sogar mit dem Feuer der Lust, das als Strafe und als Höllenglut noch die Seele quälte, wenn es den Körper längst nicht mehr gab, damals, als zum erstenmal eine Lektüre zur Unsittlichkeit verführte, als im Jahre 1300 eine Frau von ihrer Liebe zu erzählen begann. Schon damals war der Zuhörer ein Mann und ein solch begeisterter Leser, daß er, Dante, auch gleich seinen Lieblingsautor dabeihatte, den römischen Dichter Vergil. Die beiden waren auf der Suche nach Dantes Geliebter, Beatrice, bis in die Hölle gelangt, in deren zweitem Kreis die „Sünder aller Fleischeslüste, / Die die Vernunft den Wünschen unterwerfen“, auf sie warteten. Vergil nennt Dante ihre Namen: Semiramis, Kleopatra, Helena, Achill, Paris, Tristan, alle großen Liebenden der Geschichte und Literatur. Wie „Tauben, von der Sehnsucht angerufen, / Mit offnen, festen Flügeln durch die Lüfte / zum geliebten Nest fliegen voll Verlangen, / So kamen sie heran“ – besonders ein Paar, das Dante nach ihrem Schicksal befragen will. Die beiden weigern sich zunächst. „Kein anderer Schmerz ist größer, / Als zu gedenken an des Glückes Zeiten / Im Elend“, entgegnet Francesca, doch schließlich erzählt sie ihre Geschichte: „Wir lasen eines Tages zum Vergnügen

Von Lancelot, wie ihn die Liebe drängte;

Alleine waren wir und unverdächtig.

Mehrmals ließ unsre Augen schon verwirren

Dies Buch und unser Angesicht erblassen.

Doch eine Stelle hat uns überwältigt.

Als wir gelesen, daß in seiner Liebe

Er das ersehnte Antlitz küssen mußte,

Hat dieser, der mich niemals wird verlassen,

Mich auf den Mund geküßt mit tiefem Beben.

Verführer war das Buch und der’s geschrieben.

An jenem Tage lasen wir nicht weiter.“

Dante, so sehr ergriffen vom Schicksal der Liebenden, sackt ohnmächtig zusammen. Geschichten, so scheint es, machen mit den Körpern, was sie wollen: „Verführer war das Buch.“ Und das Tun, das an die Stelle der Lektüre trat, echot noch in der Ohnmacht, zu der ihn das Mitleid treibt. Am Anfang jeder Lektüre steht die Einfühlung, die jenen Funken von einem zum anderen überspringen läßt, der es ermöglicht, daß tote Bilder sich beleben, daß Worte auf Papier uns erregen, als wären sie die Boten des Realen, und – was dasselbe ist – daß wir im anderen uns selbst sehen. Doch am Ende dieser Geschichte der Lektüre, die mit Francesca beginnt, steht Ernüchterung. Obwohl die Pornographie zu einem so zentralen Inhalt der Medien geworden ist, daß der Medientheoretiker Peter Glaser schon 1997 die These aufstellen konnte, sie habe die maßgebliche Rolle bei der Verbreitung gleich aller moderner Bildmedien gespielt – Fotografie, Film, Privatfernsehen, Video, Pay-TV, Internet -, scheint es zugleich heute, als habe die Allgegenwart des Sexus die Geheimnisse des Fleisches endgültig aufgezehrt. Das sexuelle Begehren, so die These Michel Houellebecqs, der die letzten Jahre das Reservoir des intellektuellen Frankreich für literarische Skandale ganz alleine auszuschöpfen schien, wird seit den siebziger Jahren auf seinen Tauschwert reduziert und die Kultur mit käuflichen Substituten der Lust und des narzißtischen Begehrens, nämlich mit Pornographie und den Versprechungen der Werbung, überschwemmt.

Houellebecq entwickelt analog zu Bourdieu in seinen Romanen so etwas wie die Vorstellung eines sexuellen Kapitals, das wie soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital gerade im Zeitalter des globalen Liberalismus zu besonders ungebremster Akkumulation neigt, von der Houellebecq etwa in „Ausweitung der Kampfzone“ erzählt, indem er sexuellen Reichtum der entsprechenden Armut gegenüberstellt: „Manche haben täglich Geschlechtsverkehr, andere fünf oder sechs Mal in ihrem Leben oder überhaupt nie. Manche treiben es mit hundert Frauen, andere mit keiner. Das nennt man ,Marktgesetz‘.“ Nicht zuletzt Houellebecqs Bücher selbst können dabei als Indiz dafür gelten, daß wir unter der ökonomischen Zurichtung der Sexualität und der Omnipräsenz der Bilder, die jene gleichermaßen zeitigt wie erzeugt, gerade das Ende der erregenden Literatur miterleben, die einst den Siegeszug des Romans überhaupt erst ermöglichte.

Ein Befund, der sich durchaus in die Form von Hegels Diktum vom Ende der Kunst fassen ließe: Die literarische Pornographie gilt uns nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit des Begehrens sich Existenz verschafft. Im Sinne Hegels heißt das nicht, daß sie verschwindet, sondern ganz im Gegenteil die Sexualisierung aller Lebenszusammenhänge sicherlich weiter zunehmen wird, denn sexuelle Gier ist die Münze, in die alle Gefühle konvertiert werden. Doch zugleich ist es, als käme uns die Medialisierung aller Lebensäußerungen so nahe, daß es gilt, zumindest den Körper zu verteidigen. Und das ist nur unter Verleugnung der Lust zu haben, deren Versprechen, das Phantasma der Erregung, längst zum Passepartout der Lüge geworden ist. So kann man etwa Marie Darrieussecqs „Schweinerei“ von 1996 als Vorläufer eines neuen Tons in der literarischen Verhandlung des Körpers sehen, den dann zunächst Michel Houellebecq mit seinen Romanen „Ausweitung der Kampfzone“ und „Elementarteilchen“ lange bestimmte. 1999 erschien Christine Angots „Inzest“ und im selben Jahr Virginie Despentes pornographisches Road-Movie „Baise-moi – Fick mich“, das als Film stärker noch denn als Roman für Aufsehen sorgte.

Eine ähnliche Verbindung von Film und Literatur, sowohl was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit angeht wie auch die literarische Stoßrichtung, war dann auch für die Rezeption von Patrice Chéreaus Film „Intimacy“ entscheidend, der sich auf Motive aus Erzählungen von Hanif Kureishi stützt. Der Film zeigt Nacktheit und Begehren mit schockierender Nüchternheit und so sachlich, als gelte es, die Körper aus dem pornographischen Phantasma, aus der Verwertung der Lust, zu erlösen. Das Fleisch in diesem Film ist irdisch. Der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen spricht vom „postpornographischen Blick“. Sexualität wird nicht mehr dargestellt, weil sie der „utopische Fixpunkt des Begehrens in den Bildern ist, das große Versprechen, das sich nicht vollständig erfüllen darf, sondern der Körper und die Sexualität werden in diesen Filmen dargestellt, weil es sie gibt“. Doch ließe sich auch annehmen, daß ebendies unsicher geworden ist.

Anders als bei allen bisherigen medialen Tabuverletzungen in der Darstellung des Körpers geht es bei Filmen wie „Intimacy“ offensichtlich nicht länger darum, den verdrängten Raum der Pornographie im Sinne eines Befreiungsaktes für alle zu öffnen, sondern geradezu um das gegenteilige Bemühen, die Körper aus diesem Raum zu befreien. Selbst Houellebecqs Romane delektieren sich explizit an den Strukturen pornographischen Erzählens, weil die Figuren, von denen er schreibt, immer vor dem Hintergrund eines Verschwindens des Sexus agieren. Es ist, als ob die Körper geradezu beschworen werden müßten, weil es sie bald schon nicht mehr geben könnte. Je virtueller die physische Welt, je künstlicher und zugleich allgegenwärtiger die Sexualität, um so problematischer jede Unmittelbarkeit des Fleisches – ein Problem, das bereits Sades Libertins umtrieb.

„Die Libertinage ist ein extrem kontrolliertes Spiel“, befindet Catherine Millet, Autorin des Skandalbuches vom vorletzten Jahr, „Das sexuelle Leben der Catherine M“, denn auch lakonisch in einem Interview und bezieht sich ausdrücklich auf diese Tradition. Anders als allen Bekenntnissen in der langen Reihe weiblicher Erzählerinnen von „Thérèse philosophe“ und Nanna, der Heldin aus Aretinos „Kurtisanengesprächen“, bis zur „Fanny Hill“ und „Josefine Mutzenbacher“ fehlt dieser Geschichte der Catherine M. denn auch, wie die meisten Kritiken des Buches verwundert feststellten, trotz des Sujets dieser Autobiographie die Lust. „Im Alter von 18 Jahren verlor ich meine Jungfräulichkeit – was nicht gerade früh ist -, und schon wenige Wochen danach hatte ich zum ersten Mal Gruppensex“, beginnt sie den Reigen ihrer Ausschweifungen. Doch seltsam: Es ist, als ob Freiheit die Lust ebenso in die kalte Magie der Zahl triebe wie Houellebecq jede erfüllte Liebe in seinen Romanen in den Tod. So unterschiedliche Ansätze beide Autoren verfolgen, so sehr nähern sie sich dabei doch in der Zeitgenossenschaft einander – und ihrem offenkundigen Vorläufer – an.

Man hat die mechanistischen Beschreibungen Sades, der sich oftmals nicht einmal den Anschein zu geben versucht, die angebliche Erregung seiner Helden zu vermitteln, mit dem Charakter seiner Romane als materialistische Streitschriften begründet. Und in der Tat gibt es bei Sade eine Wollust der Zahl und des Protokolls, an die Catherine Millets Text erinnert. Im Vergleich mit „Justine und Juliette“ erkennt man mühelos hinter der rationalen Erzählerin Catherine M. die Sadesche Tribadin, die für den völlig abstrakten Rausch der Zahl den Körper wie die Sinne einer Disziplinierung unterwirft, die die Ausschweifung ermöglicht, weil sie die Ausschweifung verhindert. Diese Abwendung vom Leser findet sich nicht nur bei Catherine Millet. In einem Gespräch hat Christine Angot, die so völlig anders sozialisierte Autorin von „Inzest“, diese Parallelität der beiden Autorinnen selbst beschrieben: „Gemeinsam ist uns, daß wir nicht täuschen, nicht verführen wollen. Wir suchen beide die Wahrheit. Wer verführt, der verzaubert, der spielt ein Spiel, spielt Theater. Die Wahrheit ist das genaue Gegenteil.“

Interessant, welchen Stellenwert die Autorinnen ihren Texten bei dieser Wahrheitssuche beimessen. Christine Angot sieht ihr Buch als eine Beichte, in der sie sich selbst als ein „riesiges Stück Scheiße“ präsentiert. Und das ehemalige Callgirl Nelly Arcan, das mit dem Roman „Hure“ zur Bestsellerautorin wurde, gesteht, sie könne es „kaum ertragen, aus ihrem Buch öffentlich vorzulesen, weil der Text so abstoßend“ sei. So stehen am derzeitigen Endpunkt literarischer Pornographie reale weibliche Autorinnen, die sich mit derselben Leidenschaft vom eigenen Text abwenden, mit der sich am Anfang dieser Geschichte erfundene weibliche Heldinnen in den „Hetärengesprächen“ des Lukian dieser Geschichte zuwandten. Und weil diese Abwendung eine von der Verführungskraft des Textes selbst ist, hat sie – trotz der Skandalerfolge, die diese Bücher einreihen in die Geschichte der Pornographie – etwas Endgültiges, denn sie markiert einen Bruch mit der Form des Romans selbst. Denn mit dem Entstehen dieser neuen literarischen Gattung wechselte die Pornographie einst ihr Heimatland und emigrierte just in jenem Augenblick von Italien nach Frankreich, als sich dort der Roman – die „Princesse de Clèves“ der Gräfin de Lafayette erschien 1678 – erstmals von der Romanze zu unterscheiden begann. Dabei mischen alle frühen französischen Klassiker der pornographischen Literatur wie „L’Ecole des filles, ou la philosophie des dames“ (1665), „L’Académie des dames“ (1680) und „Vénus dans le cloître“ (1682) noch Dialoge mit romanhaften Elementen, und selbst die „Histoire de Dom Bougre, portier des Chartreux“ von 1740 ist noch ganz dem großen Vorbild, Pietro Aretinos „Kurtisanengesprächen“ von 1534, verhaftet.

Doch nur wenig später, als in ein und demselben Jahr 1748, in dem auch La Mettries „L’Homme machine“ gedruckt wird, „Thérèse philosophe“, Diderots „Le Bijoux indiscrets“ und Clelands „Memoirs of a woman of pleasure“, bekannt als „Fanny Hill“, erscheinen, beginnt jene goldene Zeit der Pornographie, in der philosophische Bücher ebenso politisch wie sexuell frivol sein konnten. Es entstand der pornographische Subtext der Aufklärung, als diese sich selbst eine Vorgeschichte zu erfinden und sich von einem vorgesellschaftlichen Zustand zu erzählen begann, dessen Inbegriff der pornographische Körper ist, das moderne Phantasma vom natürlichen, unwiderstehlichen Trieb, der zugleich mit dem Programm seiner Sublimierung erscheint, der empfindsamen Seele.

Beides fällt mit dem Siegeszuges der Fiktion und der Alphabetisierung zusammen. In dem 1795 erschienenen Werk „Über die Pest der deutschen Literatur“ gibt der Berner Buchhändler Johann Georg Heinzmann seiner Meinung Ausdruck, daß „die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich thut“. Denn es werden „thierische Triebe der Wollust in unsern neu aufblühenden Geschlechtern durch die Romanlektüre außerordentlich verbreitet“.

Im ersten Band seiner „Confessions“ spricht Rousseau, damit das bestimmende Synonym der ganzen Gattung prägend, von jenen „gefährlichen Büchern, die eine schöne Dame der Welt einzig deshalb so unbequem findet, weil man sie nur mit einer Hand lesen kann“. Pornographie spielt mit der Imagination, indem sie reale sexuelle Aktivität inszeniert und zugleich einbekennt, daß diese Inszenierungen imaginär sind. Immer gesteht sie, daß die Herrschaft der Fiktion über den Leser, in der sie triumphiert, nicht aus der täuschend echten Abbildung der Wirklichkeit erwächst, sondern aus der Weise, wie Sprache die Einbildungskraft des Lesers erregt. Pornographie, die eben nicht naiv verfährt, reflektiert über Lektüre und die Wirkung künstlerischer Darstellung, die sie zugleich feiert.

Der pornographische Text trägt das eigentliche Konstituens von Literatur in sich, das er im Wortsinn: verkörpert. Daß dieses Spiel der Erfindung nun an sein Ende zu kommen scheint, sagt wenig über ein erlöschendes Interesse an den pornographischen Phantasmen, viel jedoch über ein erlahmendes Interesse aus, Fiktion mit der Wirklichkeit und das Wort mit der Sache zu vertauschen. Anfang und Ende der Literatur der Lust markiert eine Stimme, die wie jene Francescas berichtet, was ihr geschehen ist. „Wir gehen in die Wohnung zurück. Dort jedoch hebt sich mein Körper gut vom weißen Sofa ab. In der Mitte bewegt sich langsam die Hand, beschwert mit einem großen Ring, dessen Glitzern allein das saubere Bild besudelt. Die weit gespreizten Beine und Schenkel bilden fast ein Quadrat. Das sehe ich heute, doch ich weiß, daß auch der Mann an der Kamera das sieht. Als er zu mir kommt, ohne die Kamera loszulassen, meine Hand nimmt und seine Hand in meinen Schoß gleiten läßt, ist dieser augenblicklich so geschwollen wie nie.“

Sofort rutscht das Bild in die Fluchtperspektive des Todes. Der letzte Satz des Bekenntnisses der Catherine Millet ist schon aus dem Off gesprochen. Die Leinwand ist dunkel. Die Worte haften sowenig auf dem Geschehen wie die Lust. „Der Grund war augenblicklich klar: Daß mein echter Körper ganz mit seinen vielen flüchtigen Bildern zusammenfiel, bereitete mir schon die höchste Lust.“ Abspann. Dann Stille. Noch einmal war das die Stimme, die sich an der Imagination entzündete, doch ganz folgt hier die Sehnsucht schon der Logik des Bildes. Dem sehenden Auge geht es um Identifikation, dem lesenden Auge um Imagination. Den Mann ohne Namen hat das Passepartout ihrer Erzählung längst, ganz am Beginn des Buches und immer wieder, dekuvriert als den Ehemann. Doch die Kamera in seiner Hand, die ihn selbst nicht in den Sucher nimmt, läßt „Jacques, den selbsternannten Regisseur“, für die Momente des Geschehens zu jenem Unbekannten werden, den die Phantasie will. Und auch der Ring, dessen „Glitzern allein das saubere Bild besudelt“, wie die Millet in einer höchst ungewöhnlichen Volte betont, tut dies einzig innerhalb einer filmischen Logik.

In jedem literarischen Kontext wäre jener Ring Quell besonderer Erregung, Aretinos Nanna hätte sich stolz in seinem Glitzern geräkelt, Sades Juliette ihn ihrem Betrachter ins Auge gedrückt und die Mutzenbacher ihn niemals hergetauscht, wie sie sagen würde, es sei denn für die Miete. Immer aber wäre dieser Ring eine Münze gewesen, Übersetzung wie jeder Text der Lust, nur im Bild stört sein Funkeln. Das Begehren, heißt das, ist längst Teil einer visuellen Logik, deren Verschwendungen, Opfer und Lüste andere sind als jene der Literatur. Keine Erfindung schließt den Raum der Imagination mehr auf. Und der Blick der Kamera, den Catherine M. imaginiert, gemahnt viel eher an den prekären als den erregenden Status des Leibes in den Medien. Die literarischen Freiheiten der Übertretung sind ausgeschöpft, das Abbild wird zum Steckbrief, jeder zum „Gefangenen seines Körpers“, wie Jean-Marie Lustiger vor einiger Zeit den Papst nannte, der nicht zufällig eine immer stärkere mediale Aufmerksamkeit erfährt. „Die Telepräsenz des gebeugten Mannes in weißer Soutane“ (Jan-Heiner Tück, „Neue Zürcher Zeitung“ vom 29. Mai 2002) erinnert an etwas, was die Medien für gewöhnlich nicht mehr freigeben. Noch im Abscheu merken wir: Gerade die Inkommensurabilität dieses Leibes wird zum Residuum seiner Würde. Indem Johannes Paul II. auf seiner Berufung als Stellvertreter Petri jenseits aller modernen Vorstellungen von Beruf und Leistung beharrt, erinnert er uns an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die eben nicht verdient werden kann. Und gerade darin, in der „Hinfälligkeit des Papstes“ ebenso wie in der erstarrten Erwartung der Catherine M., bezeugt laut Jan-Heiner Tück „das Fleisch eine Liebe zur Transzendenz, die bis zum Äußersten geht“.

Immer hatte die Libertinage in ihrer Unbedingtheit etwas Religiöses, auch und gerade bei Sade. Heute, am mutmaßlichen Ende der Geschichte der erregenden Literatur, ist es diese besondere Form der Keuschheit der Pornographie, die unsere Körper von ihrer Verwertung befreien will, indem sie sich danach sehnt, daß endlich unser „echter Körper ganz mit seinen vielen flüchtigen Bildern“ zusammenfiele und so von allen Geschichten erlöst würde.

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Der Affe Gottes. Zu Balthasar Burkhards „Ohne Titel/1993“.

  In: Muscheln und Blumen. Literarische Texte zu Werken der Kunst. Zeitgenössische Autoren beschreiben ausgewählte Kunstwerke aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses. Herausgegeben von Beat Wismer, Stephan Kunz und Sibylle Omlin. 2003.

Balthasar Burkhards Bild läßt mich unwillkürlich an eine erfundene Mappe auf dem nie gewesenen Dachboden der Großmutter denken, die ich nicht hatte. Als ich sie unter all dem anderen ausgedachten Gerümpel hervorziehe, klopft mir das Herz bis zum Hals, und ich weiß sofort: Das ist es, worüber ich anläßlich dieser Photographie schreiben will. Es ist eine abgestoßene Mappe in Quartformat, aus starker, mit grauem Marmorpapier kaschierter Pappe, die Ecken und der Rücken aus ebensolchem safianroten Leinen wie jenes von langer Benutzung dünne und ausgefranste Bändchen, das, sorgsam zur Schleife gebunden, das Konvolut, wer weiß seit wann, zusammenhält. Vorsichtig lege ich die Mappe auf einen beliebigen, aber großen Eßtisch und ziehe die Schleife langsam auf.

Papiere unterschiedlicher Größe und Qualität. Kühler, muffiger Kellergeruch steigt hoch, als ich die Pappe aufschlage. Kein Name, kein Datum, kein Text, nur Papier. Blätter im Format Din A 4, die wohl aus einem Zeichenblock stammen, doch auch etwas kleineres, weiches Aquarellpapier. Und einige wenige, sehr schmale Formate aus einem glatten elfenbeinfarbenen Hadernpapier. Ich bin allein in dem großen, stillen Zimmer zum Garten, von dem ich nichts weiß als den Blickausschnitt im Fenster, den ich mir vorstelle. Es ist wohl Sommer, Grün verschattet wohltuend den Raum. Blatt für Blatt nehme ich auf, um es zu betrachten und lege es in einer Bewegung, die schnell eine langsame Gleichfömigkeit bekommt, wieder ab. Auf allen Blättern Zeichnungen, stumme, namenlose Übungen, Exerzitien.

Ich habe die Übersetzung von Faltungen, Schraffuren, perspektivischen Verkürzungen massiver Körper in Fläche immer gemocht, diese geläufigen Übungen jeden künstlerischen Studiums. Im eigentlichen Wortsinn akademische Fragen: Wie drückt sich unterschiedliche Materialität, Dichte und Oberflächenbeschaffenheit in der Strichführung aus, Porösität und Glätte, Nässe, Verschattung und Glanz. Und das aktenmäßige Schwarz-Weiß verstärkt dabei noch die graue Theorie der Technik, wenn der Schwung aus dem Handgelenk geübt wird und Blatt für Blatt sich mit Schraffuren füllt. Kohle und Bleistift, Tusche und Kreide. Und doch nistet in der Manie des Handwerks die Freiheit. Es ließe sich leicht jetzt eine Erinnerung finden, wann ich zum ersten Mal dabei zugesehen habe, wie aus einer solchen Bewegung auf dem Papier, die ganz Technik zu sein schien, eine Gestalt entstand. Ein wiederholbares Wunder, dessen Wiederholbarkeit seltsamerweise seinen Triumph erst begründet. Es hat etwas von ritueller Übung und nicht umsonst war der letzte Anlaß, zu dem westliche Ästhetik noch einmal über Handwerk reflektierte, die Rezeption von dessen unendlicher fernöstlicher Verfeinerung, in der Geste und religiöse Versenkung zusammenfielen. Die Photographie verkomplizierte sofort mit ihrem Erscheinen dieses Verhältnis.

Ich lege das letzte Blatt, eine feine, kaum sichtbare Bleistiftskizze, zurück, und sehe mich in dem Raum um, der bis jetzt nur aus dem erwähnten Eßtisch und dem Fenster zum Garten besteht. Meine Augen brauchen einen Moment, um von der Nah- auf die Fernsicht umzustellen, und geben mir eine kurze Galgenfrist, um das Zimmer zu komplettieren. Möblierung und Bodenbeschaffenheit ergänze jeder, wie er will, wichtig ist nur, daß es ein großer, nicht zu niedriger Raum ist. An einer etwas weiter entfernten Wand, leicht schräg von meiner Platz am Eßtisch, das Bild Balthasar Burkhards. Die Photographie ist gleichmäßig erleuchtet, nicht strahlend, aber viel heller als der Teil des Zimmers, in dem ich mich befinde. Beleuchtungssystem nach Wahl. Ich betrachte lange das Arrangement der beiden einzeln gerahmten, hochformatigen Bilder, ganz dicht nebeneinander gehängt, zusammen über zweieinhalb Meter breit und einssiebzig hoch. Der Rahmen ist schmal, das Glas spiegelt beinahe nicht. Das Bild öffnet einen Raum in der Raum, in den man hinabblickt. Darin ein Bergmassiv, links weitgehend von einer weißen Wolkenbank überlagert und an vielen Stellen weiß verschneit, so daß im Vordergrund eigentlich nur die Grate und Abrißkanten Plastizität suggerieren, dahinter viel deutlicher das Schwarz der aufgetürmten Gipfel, und im Bildhintergrund auf der linken Seite helle Quellwolken und rechts ferne Wolkenstreifen eines schon dunklen Abendhimmels.

Einen Affen Gottes nannte man den Künstler einst, einen Nachäffer, aufführend jene Travestie der Schöpfung, die sich, wie beschrieben, noch in jeder Schraffur wieder ereignet. Unheimlich war das immer schon, und so teilt sich der Künstler mit Luzifer diesen Titel. Dieser Zweideutigkeit aller Schöpfung scheint sich die Photographie entwinden zu wollen, und tatsächlich könnte man sie für das säkularste aller Medien halten, das, ganz Maschinenzeit, die Abbildung perfektioniert, ohne des Nachahmers zu bedürfen. Ich sehe weg. Ich sehe wieder hin. Gerade dieses Bild. Es ist, als ob die Photographie sich völlig zu vergessen und sich ganz auf die erste Schöpfung zu richten scheint, und zwar auf jene schneebedeckten Gipfel, von denen als Inbegriff der Erhabenheit noch Kant meinte, sei seien kein Gegenstand der Kunst, sondern der Natur. Und so verläßt das Bild also den Standpunkt menschlichen Staunens und Schauderns angesichts der aufgetürmten Größe alpiner Bergmassen und versetzt sich, und versetzt mich in eine himmliche Perspektive. Als wäre diese vakant. Und auch, daß es aus zwei Tafeln besteht, scheint zu suggerieren, die Welt, das vorgängige Bild, verlange ein Format, das als Bildgrund nicht verfügbar ist. Doch spürt man darin, daß Balthasar Burkhard die Geschichte des Tafelbildes aufruft – das Format der hölzernen Bretter, das Tagwerk des Frescos, die Größe des Keilrahmen, das einzelne Blatt – eine seltsame Traurigkeit des Mediums selbst. Trauer über die eigene, schöpferlose Schöpfung der Photographie, die das getreue Abbild unserer säkularen, nicht länger erschaffenen Welt ist. Kein Affe, kein Gott. Nur mehr der Betrachter, der über den Gipfeln schwebt.

Ich sehe noch einmal, unaufmerksam, auf die Blätter auf dem Tisch, schließe dann die Mappe und sie verschwindet. Stehe auf und gehe hinüber zu dem Bild. Im Augenwinkel sehe ich, daß der Tisch schon nicht mehr da ist, und auch das grün verschattete Fenster schließt sich wieder in der Wand. Das Bild wird größer und größer und ich verliere mich in seinen schwarzweißen Andeutungen des Realen. Meine Augen folgen den Schraffuren und Faltungen der Welt im unendlichen feinen Korn des Barytpapiers. Gipfellinien, Abbrüche, Windfänge, verschattete Überhänge und offener Granit. Die Schatten der Wolken auf dem Schnee. Die Nacht sehe ich im Weiß und alles um mich her verschwindet darüber. Die Wand erst und der Raum, schließlich ich selbst.

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Happy Birthday, Marielle!

  11.9.2002.

Marielles Appartment liegt zwei Blocks oberhalb des Hollywood Boulevards. Von dem großen Fenster sieht man in den zerklüfteten Stadtteil hinab voll alter Hotels, staubig zerzauster Palmen und Brachland, wo am Tag die Touristen parken, zehn Minuten zu zwei Dollar. Dabei ist dort fast nicht zu sehen außer Tätowierläden und billigen Boutiquen für Latex und Leder. Es gibt Pläne, den ganzen Straßenzug zu privatisieren und umzubauen, aber noch gönnt die amerikanische Unterhaltungsindustrie ihrem imaginären Herzen einen Luxus, den sie ansonsten keinem Ding auf diesem Erdball zugesteht: unsichbar zu sein. Eine sehr entspannte Gegend. Nur der Abendhimmel hat fast immer dieses erwartungsvoll glühende Orange der Wüste, das jeden Tag von neuem Erwartungen weckt.

„Was machst Du an Deinem Geburtstag, Marielle?“

Marielle schüttelt den Kopf und ich erinnere mich an die Labor-Day-Party bei ihrer Familie zu Hause, zu der sie mich eingeladen hatte, an den Bungalow mit Pool und Jakuzzi, Karaoke und der blinkenden Lichterkette in Form der amerikanischen Flagge. Marielle ist hier in L.A. aufgewachsen. Und letztes Jahr? Eigentlich hatte sie für die Freunde einen Tisch in einem Restaurant reserviert. Lange sieht sie mich an. Dann erzählt sie.

Wie sie am Morgen des 11.9. an der 14. Straße aus der U-Bahn stieg und beschloß, sich wegen des besonderen Tages noch einen Fruchtshake zu kaufen. Wie der Verkäufer sofort fragte, ob sie schon wisse, daß ein Flugzeug das World Trade Center getroffen habe. „O my god!“, habe sie gedacht: „Und das an meinem Geburtstag!“ Wie ihr der Verkäufer den Shake geschenkt habe und sie schnell hinaufgefahren sei in die Werbeagentur, bei der sie arbeitete. Und wie sie dann, von den großen Fenstern aus, alles gesehen habe: die Türme, das Feuer, die Menschen, die in den Tod sprangen.

Marielle erzählt jetzt sehr schnell. Wie sie evakuiert wurden, von den Menschentrauben vor den Bürohochhäusern, wie Gerüchte von neuen Anschlägen umliefen, mögliche Ziele die Brücken und Tunnel, von der Angst, die Insel Manhattan nicht verlassen zu können, und wie sie dann beschloß, zu Fuß loszulaufen. Wie sie ihre Mutter noch per Handy erreichte, bevor das Netz zusammenbrach, wie sie sich aus einem Automaten für alle Fälle Bargeld zog, Wasser kaufte, und wie sie über die Williamsburg Bridge inmitten des Stromes der Fußgänger, hinter sich das Feuer und den Qualm, schließlich Brooklyn erreicht habe. Wie sie dann den ganzen Tag allein in ihrer Wohnung gesessen und CNN gesehen habe.

Verrückt: Ob sie beim Zusammensturz der Türme dabei war oder ihn lediglich im Fernsehen gesehen hat, weiß sie nicht mehr. „Es gibt Lücken in meiner Erinnerung.“ Sie zögert einen Moment, als ich nicht nachfrage. „Von da an“, sagt sie langsam, “hatte ich eigentlich immer Angst, daß etwas kommen wird, etwas passieren wird.“

Das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben?

„Ja.“

Und der Krieg hat das besänftigt?

„Nein, der Krieg hat mich nicht weitergebracht.“

Marielle kündigte im Dezember 2001 und ging zurück nach Los Angeles. Eigentlich versuche sie noch immer, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen. Sie arbeite inzwischen als Assistentin des Architekten Thom Mayne, der sich gerade an dem Wettbewerb um Ground Zero beteiligt. Begeistert erzählt sie von dem offenen Entwurf, der einen Park und viel Raum für Menschen vorsieht. Seltsamer Zufall, oder? Sie nickt. Nein, sie weiß wirklich nicht, was sie an ihrem Geburtstag unternehmen soll.

Es ist dunkel über Hollywood und wir stehen vor dem großen Fenster. Fast kann man sich einbilden, die Erwartung ließe sich hören, die über der Industrie der Bilder liegt. Noch befinden wir uns in der Zeit des Atemanhaltens, doch wenn erst die fiktionalen Bilder des 11.9. unsere eigenen ersetzt haben werden, wird schnell vergessen sein, wie diese Unbestimmtheit sich anfühlte.

„Vielleicht“, sagt Marielle, „fahre ich irgendwohin, wo es keinen Fenseher gibt. Ich würde nicht wegschauen können.“

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Über die Faszination für tote Körper, Feinde, die nicht aussterben, und die Liebe zum Wallis.

  Gespräch mit Denis Scheck, 2.5.2002.

Denis Scheck: „Eine lobende Kritik Ihres letzten Buches Der Fall Arbogast, im Spiegel begann mit dem Satz: Thomas Hettche, 36, ist geradezu berüchtigt als Verfasser neunmalgescheiter, kaum lesbarer und bloss so genannter Avantgarde-Literatur. Ist Gescheitsein ein Makel für einen Romancier?“

Thomas Hettche: „Next question.“

D.S.: „Haben Sie Feinde?“

T.H.: „Seit meinem ersten Roman, Ludwig muss sterben, wurde ich immer wieder für etwas angegriffen, wofür ich selbst mich am allerwenigsten interessiere: für die angeblich intellektuelle, lebensferne deutsche Literatur. Und diese Stellvertreterfunktion in den Köpfen einiger Betriebsfunktionäre werde ich nicht los.“

D.S.: „Welche Funktion hat in Ihren Augen die Literaturkritik – wenn nicht die einer PR-Massnahme?“

T.H.: „Dazu wird sie – zumindest in ihrer wirksamen, das heisst Öffentlichkeit bewegenden Form – immer mehr. Für mich selbst mache ich die Trennung zwischen Produzenten und Rezensenten eigentlich nicht. Für mich geht es immer um Fragen und Antworten, also um ein Gespräch. Romane sind Fragen, Fragen, die man kürzer eben nicht stellen konnte. Literaturkritik könnte eine Antwort auf solche Fragen sein. Und ein Interview könnte eigentlich das Abbild des Gespräches sein, das wir alle miteinander führen, um die Welt zu begreifen, in der wir nun mal alle gemeinsam leben müssen.“

D.S.: „Wie erklären Sie sich die vehemente Anti-Intellektualität von Teilen der Literaturkritik?“

T.H.: „Es gibt eben Kritiker, die unter ihrem Beruf leiden. Sie sehnen sich bei all den vielen Büchern, die sie zur Kenntnis nehmen müssen, nach Reduktion von Komplexität, wie Luhmann das nennt. Anders ausgedrückt: Sie haben es gern einfach. Lustigerweise sind das oftmals dieselben Kritiker, die vor dem Mauerfall viel Spass mit jener DDR-Literatur hatten, die es ihren Lesern auch gern leicht machte. Nach deren Wegfall hatten diese Kritiker in den Neunzigern oft eine schlimme Zeit, da muss man ihnen solche unwirschen Invektiven nachsehen. Mich freut dagegen, je länger, je mehr, dass mit meinem Roman Nox, neben Thomas Brussigs Helden wie wir, wenigstens eine literarische Verarbeitung des Mauerfalls aus westdeutscher Perspektive Bestand hat.“

D.S.: „Alle sieben Jahre erneuern sich die Zellen des menschlichen Organismus komplett. Was hat der Thomas Hettche von heute noch mit dem Thomas Hettche von 1989 gemein, als Ludwig muss sterben zum ersten Mal erschien?“

T.H.: „Die Hirnzellen.“

D.S.: „Liest man Ihre Bücher in Folge, kann man zum Schluss kommen, dass Sie so etwas wie der Leichenbeschauer der deutschen Gegenwartsliteratur sind. Was fasziniert Sie am toten Körper?“

T.H.: „Ehrlich gesagt, weiss ich nicht, wo diese Obsession ihren Ursprung nimmt. Aber ich versuche, sie mir immer wieder selbst zu deuten. Beim Schreiben habe ich oft die Empfindung, meinen Figuren über die Spuren auf ihrer Haut gerechter zu werden als mit einer Schilderung ihrer Psyche. Das ist mir sehr wichtig: den Dingen keine willkürliche Deutung widerfahren zu lassen. Und so halte ich mich gern an das, was man sieht. Der Tod ist vielleicht deshalb so wichtig in meinen Büchern, weil ich immer wieder versuche, das, was ich sehe, lebendig werden zu lassen.“

D.S.: „Wie schwer fällt Ihnen der Abschied vom Dasein eines Jungautors in einer Zeit, in der Pädophilie zu den hervorstechendsten Eigenschaften des Literaturbetriebs zählt?“

T.H.: „Das ist in der Tat ein interessanter Prozess. Es ist sehr verblüffend, wie fix die nächste Autorengeneration es unter dem Pop-Label geschafft hat, eine eigene Marke zu erfinden. Aber ich übe mich in Gelassenheit: Solange es dann immer noch Rainald Goetz ist, der die guten Bücher schreibt, mache ich mir über mein Alter nicht wirklich Sorgen.“

D.S.: „Sind die Umgangsformen im Nichtschwimmerbecken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur härter?“

T.H.: „Das Nichtschwimmerbecken hat zurzeit seltsamerweise die direkte Anbindung ans Meer, während man bei den alten Herren immer noch behauptet, Bücher vertrügen kein Salzwasser.“

D.S.: „Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung war zu entnehmen, dass die Taschenbuchrechte an Arbogast für über 100.000 Euro verkauft wurden. Ausserdem ist Ihnen gelungen, wovon viele deutsche Autoren träumen: Farrar, Straus and Giroux wird den Roman in den USA veröffentlichen. Sieht so Erfolg aus?“

T.H.: „So sieht lediglich die Gewissheit aus, zum ersten Mal für länger als ein Jahr zu wissen, woher die Miete kommt. Literarischer Erfolg ist bescheiden. Aber Sie haben Recht: Seinen eigenen Text zum ersten Mal in Englisch zu lesen – The Arbogast Case -, ist aufregend.“

D.S.: „Würde sich Ihr Schreiben ändern, wenn Sie wie Ihr Schweizer Kollege Christian Kracht sagen könnten: Und im Übrigen bin ich ja auch furchtbar reich?“

T.H.: „Ich würde mir den Luxus leisten, zu verschwinden. Im Schreiben wie im Leben.“

D.S.: „Warum schreiben Sie Ihr neues Buch in der Schweiz?“

T.H.: „Während es das Gros der deutschen Autoren immer noch nach Berlin zieht, ist mir eigentlich schon Westdeutschland zunehmend zu osteuropäisch. Und da ist die Schweiz ein ganz schönes Exil. Aber im Ernst: Ich habe mir schon lange angewöhnt, mich immer wieder für Monate aus dem normalen Leben und literarischen Betrieb auszuklinken. Ich arbeite besser, wenn die Stille Zeit hat, sich auszubreiten. Eine Weile war das Venedig, einmal war ich ein halbes Jahr in Krakau. Durch die freundliche Vermittlung des Zürcher Verlegers Ricco Bilger kam ich vor drei Jahren hierher ins Wallis. Die Stiftung Schloss Leuk lud mich ein, hier zu wohnen, und ich habe mich sofort in den Ort und die Landschaft verliebt.“

D.S.: „Einzig Literatur sei in der Lage, auf dem Unterschied von realer Geschichte und ihrem medialen Abbild zu bestehen, haben Sie einmal geschrieben. Ist Der Fall Arbogast kein Widerspruch dazu, die reale Geschichte erfahre ich daraus ja nicht?“

T.H.: „Eben. Exakt darum geht es mir. Einen Schwebezustand zu erzeugen, der dem Detail zu seinem Recht verhilft, weil der Leser versteht, dass so etwas wie Realität nicht zu haben ist. Wenn man Film und Literatur vergleicht, dann sollte ein Autor mit einer Art Rundumkamera arbeiten: Dabei gibt es viel zu sehen, aber keine einheitliche Perspektive.“

D.S.: „Ist das reale Geschehen für Sie frei verfügbares Material, oder gibt es Grenzen, Gesetze oder meinetwegen auch Tabus, die manches unveränderbar machen?“

T.H.: „Dem Material fühle ich mich unbedingt verpflichtet. Das hat etwas durchaus Irrationales. So habe ich für Nox seinerzeit viele Alltagsgeschichten aus den Tagen vor dem Mauerfall recherchiert. Die hätte man genauso gut auch einfach erfinden können, aber mir war wichtig, dass sozusagen der Datenboden des Romans authentisch ist. Der Fall Arbogast folgt streng den äusseren Daten des historischen Falls. Nur an wenigen Stellen habe ich mir erlaubt, abzuweichen. Ich empfinde die Fakten, die ich nutze, als Versuchsanordnung, in der sich meine Erfindung bewähren muss. Das ging bei Arbogast bis zu den Aussagen der Beteiligten vor Gericht, die ich wörtlich übernommen und zu denen ich dann die psychische Motivation hinzuerfunden habe.“

D.S.: „Sehen Sie sich als eine Art Antihistoriker, der all das unterminiert, was uns die Geschichtsbücher über den Ablauf der Ereignisse berichten?“

T.H.: „Es geht mir um die Bewahrung von Vielfalt. Unsere Visionen und Träume werden durch die Bildindustrie trivialisiert. Ich möchte gern Geschichten erzählen, die etwas von dem Zauber der Uneindeutigkeit vermitteln, jenes wachen Zustands der Erwartung, der einem plötzlich für Momente die Welt aufschliesst.“

D.S.: „Marshall McLuhan hat vor dreissig Jahren vor der Konkurrenz zwischen Medien und Wirklichkeit gewarnt. Don DeLillo hat unlängst erklärt, dass dieser Kampf der Medien gegen die Wirklichkeit nunmehr entschieden sei und es einen klaren Sieger gäbe, nämlich die Medien. Stimmen Sie dem zu?“

T.H.: „Ja und nein. DeLillos Romane führen virtuos vor, wie das, was wir für Wirklichkeit halten, als unsere eigene mediale Inszenierung entsteht. Darin ist er meiner Einschätzung nach einer der modernsten Autoren, die es zurzeit gibt. Nur glaube ich nicht, dass die Diagnose einer, wie man früher sagte, durch Begriffe verstellten Welt gänzlich neu ist. Was wir sehen, ist immer schon durch Bilder und Wünsche, kollektive Mythen und Ängste bestimmt gewesen. Und mir scheint, dass das, was man in seiner aktuellen Ausprägung vielleicht das Truman-Show-Paradoxon nennen könnte, deshalb immer zum Roman gehört hat. Robert Musil hat sich damit ebenso beschäftigt wie – auf seine Weise – schon Lawrence Sterne.“

D.S.: „Vladimir Nabokov bezeichnete seine Selbstinterviews als elegantes und genaues Schattenbild meiner Seele auf der hellsten aller Wände. Was kann ein Interview mit einem Schriftsteller im besten Fall leisten?“

T.H.: „Man erfindet sich bei Interviews, insofern hat Nabokov natürlich Recht. Das kann für einen selbst höchst anregend sein. Man beobachtet sich sozusagen beim Ernstfall der Frage.“

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Leisure Suit Larry in the Land of the Lounge Lizards.

  In: Weltwissen – Wissenswelt. Das globale Netz und Text und Bild. Herausgegeben von Christa Maar, Hans Ulrich Obrist, Ernst Pöppel. 2002.

Zufällig finde ich ihn auf dem Dachboden wieder, auf einem alten Couchtisch, dessen braune Kacheln als Schmuckmotiv abwechselnd zwei gekreuzte Eichenblätter und einen Auerhahn zeigen. Hatte völlig vergessen, daß es ihn einmal gab, und wische sorgsam mit der Handkante die dicke Staubschicht vom kalten Glas des Bildschirms. Er ist es tatsächlich, ich erkenne das wuchtige graue Metallchassis und die abgeschrägte Frontpartie, das nach hinten versetzte Laufwerk aus schwarzem Plastik, links die großen Schlitze für den Lautsprecher und darüber das IBM-Logo –  der erste Computer, den ich mir zu Beginn der achtziger Jahre gekauft habe.

Der schwergängige Verschluß des Laufwerks für die großen 5 1/4 Zoll floppy discs schnappt noch immer laut und satt zu wie eine Autotür. Im Unterschied zum Rechner selbst ist der Bildschirm kein IBM, sondern irgendein compatibler No-Name, wie man das damals nannte, grau und gedrungen und mit einem für heutige Verhältnisse lächerlich kleinen Schirm. Ich nehme ihn vom Gehäuse, das aus zwei Blechschalen besteht, und klappe ihn auf. Rechts vorn die Tandon-Harddisc, daneben das Diskettenlaufwerk von IBM, links sechs Steckplätze. Harddisc-Controller, Graphikkarte, Uhr.

Ich schließe das Gehäuse wieder, stelle den Bildschirm darauf und suche eine ganze Weile nach einer Steckdose und einem Verlängerungskabel, bis ich ihn endlich anschließen kann. Ziehe mir einen alten braunen, kunstlederbezogenen Sessel heran und taste die Rückseite des Rechners nach dem On-Schalter ab, den ich zuerst fälschlich auf der linken Seite vermute. Als ich den Schalter betätige, beginnt der Ventilator des Gebläses mit dem altvertrauten Geräusch zu arbeiten und der hohe Piepston meldet, daß der Rechner bootet. Auf dem Bildschirm flammt bernsteinfarben TURBO – XT 1986, SPEED 4.77 / 8.00 MHZ. VERSION 3.1. auf, verschwindet wieder und C: erscheint.

Das hatte ich vergessen: Der 8088er Prozessor ist tatsächlich nur mit lächerlichen acht Megahertz getaktet. Ich nehme das verstaubte Keyboard, das angeschlossen am Couchtisch lehnt und bei dem viele Tastenbeschriftungen nicht mehr zu lesen sind, und gebe DIR ein. Die Tasten haben keinen Druckpunkt und das Plastik hämmert hell und laut. Als ich die Datenfreigabe drücke, flimmert eine Folge von Dateien vorüber. DIR/W holt sie alle auf den Bildschirm. Ich erkenne mein altes Textverarbeitungsprogramm Wordperfect wieder und Norton Utilities. Gebe NI ein und Dos ruft das Programm auf: THE NORTON INTEGRATOR. Über DISC-INFORMATION erfahre ich, daß der „computing index, relative to IBM/XT“, bei 1.7 liegt, der Rechner mit Dos 2.0 arbeitet, sechshundertvierzig Kilobyte Arbeitsspeicher besitzt und eine einundzwanzig Megabyte große Harddisc. Ich verlasse Norton und öffne die Textverarbeitung.

Wordperfect Version 3.1. Copyright 1982, All rights reserved. Wordperfext Corporation Orem, Utagh USA meldet der Schirm, dann baut sich mit leichtem Zögern das Inhaltsverzeichnis auf. Eine Weile sitze ich einfach da und lese die längst vergessenen Namen alter Textdateien im weichen bersteinfarbenen Licht, das dämmrig den Tisch und die Tastatur erleuchtet. Mit F7: WP BEENDEN?, „J“ verlasse ich schließlich das Programm. Wieder erscheint C: auf dem leeren Schirm. Über DIR/W wechsle ich – CD Backslash – in das Unterverzeichnis LARRY.

Das erste Computerspiel, das ich jemals gespielt habe. Aber ich habe das Programmkürzel vergessen, mit dem man es aufruft, und so meldet Dos stets BAD COMMAND OR FILE NAME, ob ich nun LARRY eingebe oder LA. Schließlich tippe ich LL, auf dem Bildschirm leuchtet der Schriftzug Leisure Suit Larry in the Land of the Lounge Lizards und die Melodie fiept aus dem Lautsprecher. Man fordert mich auf, mein Alter einzugeben, und bittet mich, als ich das getan habe, einige Fragen zu beantworten, um sicherzustellen, daß ich älter als achtzehn Jahre sei. Ich weiß keine der Antworten mehr, die ich doch einmal auswendig kannte.

Schließlich gebe ich auf und gehe zum Dachfenster hinüber. Es schneit noch immer. Selbst an die sterilsten Bilder und Verrichtungen, an völlig standardisierte Maschinen und ganz künstliche Surrogate von Glück heften sich persönliche Erinnerungen und machen sie ebenso kostbar wie alles Erleben. Ist das tröstlich? Draußen ist es völlig still. Es hört nicht auf zu schneien. Mir ist kalt.

Ich knöpfe die Jacke bis zum Hals zu. Noch einmal beantworte ich die Fragen und diesmal habe ich Glück. Der Lese-Kopf ächzt jämmerlich laut und lange über die Harddisc, dann baut sich das einfarbig gepixelte Comicgesicht Larrys auf und ich registriere verwundert, daß ich tatsächlich Herzklopfen bekomme. Dieses Spiel war etwas Besonderes. Zum ersten Mal konnte man in eine Geschichte eingreifen und scheinbar mit virtuellen Figuren kommunizieren, was so neu und faszinierend war, daß wir eine ganze Weile nichts anderes mehr taten. Noch bei Quake oder Myst habe ich immer daran denken müssen, wie sich dieses eindimensional flächige Las Vegas damals auf eine so neue Weise belebte, daß Wörter wie WEDDING CHAPPEL, HOOKER oder WALLET für mich wohl immer mit diesem Spiel verbunden bleiben.

Und nun steht Larry wieder vor dem Eingang der Bar auf dem Trottoir und wartet darauf, hineingehen zu dürfen. Ich achte sorgsam darauf, daß er nicht von einem Taxi überfahren wird. Dann tippe ich: OPEN DOOR.

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Was uns von unserem Fleisch unterscheidet.

  Patricia Cornwell und das Böse. 5.2.2002.

Das Prinzip der Serie, das in der Literatur gemeinhin als etwas unfein gilt, weil es stets an Karl May erinnert und andere handwerklich beliebig ausbaubare Paradiese, hat in der Kriminalliteratur eine ganz besondere Bedeutung. Die Weltenpläne des Kriminalromans gleichen Versuchsanordnungen, Reihenuntersuchungen eines notorisch eher teuflischen denn göttlichen Plans, und eben das macht die Fall-Genealogien eines Sherlock Holmes oder Sam Spade so interessant. Nicht erst seit jenen beiden Säulenheiligen der Gattung erweisen sie sich als oftmals hellsichtige Mitschriften ihrer jeweiligen Gegenwarten, und nicht nur der Kriminalist Dürrenmatt debattierte in Form von Geschichten mit seiner Zeit. Es ist das Verbrechen immer wieder die Folie, auf der die Ängste einer Gesellschaft sich besonders deutlich abbilden.

Die Welt der Patricia Cornwell ist schon von der Anlage her nicht eigentlich licht, und folgt man ihrer Heldin durch die Romane, bemerkt man, wie sich der Himmel immer noch weiter zuzieht. Doch erst nach dem 11.9. gewinnt die düstere Perspektive dieser Autorin, die als erfolgreichste ihres Genres gilt, ihre eigentliche, beklemmende Aktualität und visionäre Kraft. Denn bei dem, was Patricia Cornwell in ihren Büchern debattiert, Roman für Roman ihre Argumente immer weiter zuspitzend, handelt es sich im Kern um die Frage, wie die westlichen Gesellschaften mit dem Problem einer gesichtslosen, psychopathischen Gewalt umgehen sollen, die sich nicht nur allem Verständnis und aller Ansprache entzieht, sondern durch ihre Unfaßbarkeit auch jeden sozialen Raum vergiftet.

Eröffnet hat die Autorin dieses Selbstgespräch mit EIN FALL FÜR KAY SCARPETTA, erschienen in den USA 1990, in dem zu Beginn eben jene Kay Scarpetta, Juristin und Gerichtsmedizinerin, in Richmond zum Chief Medical Examiner des Staates Virginia berufen wird. Im Gegensatz zum amtlichen Leichenbeschauer hierzulande kommen dem Medical Examiner in den USA weitreichende Kompetenzen zu. Er ermittelt bei allen Todesfällen, die den Verdacht auf ein Verbrechen nahelegen, und führt dazu selbständig Untersuchungen durch. Zwangsläufig tritt die intellektuelle, gewissenhafte Kay Scarpetta dabei in Konkurrenz zur Polizei, und aus diesem Konflikt ziehen die Romane Patricia Cornwells einen wesentlichen Teil ihrer Dynamik. Scarpettas Gegenspieler und Partner ist Pete Marino, ein Cop aus dem Bilderbuch des hard boiled Krimis. Vertritt die Pathologin kultiviert, körperbewußt und politisch höchst korrekt die neue Zeit, ist der kettenrauchende, übergewichtige Chauvinist Marino die bauchgewordene Vergangenheit.

In den ersten Romanen wird die Arbeit der Gerichtsmedizinerin noch deutlich vom Klischee ihrer italoamerikanischen Herkunft abgepuffert. Die Vorliebe für’s Kochen und guten Rotwein scheint den grausamen Alltag auszubalancieren. Man merkt, wie sehr die Autorin sich mit der kultivierten Kay Scarpetta identifiziert. „Ich würde mich fast immer ihrer Meinung anschließen“, sagte Patricia Cornwell einmal in einem Interview. „Das gilt auch für ihren Charakter. Was sie als moralisch, richtig, anständig und gerecht betrachtet, empfinde auch ich so. Wir haben einen ähnlichen Geschmack, was Kunst, Musik und Essen angeht. Bis zu einem gewissen Grad schreibe ich über die Welt, in der ich lebe.“

Was, wie man sehen wird, auch insofern heikel ist, als der Lebensentwurf ihrer Heldin leider immer weniger funktioniert. Während sie ihren Partner Marino zunächst von italienischer Kochkunst im speziellen und gesünderem Lebenswandel im allgemeinen überzeugen will, tritt an die Stelle des samtigen Barolo immer häufiger Whisky, und daß sie sich anders als ihr Partner nicht für Bourbon, sondern für mäßig guten Scotch entscheidet, macht’s nicht besser.

„Was ich gern näher unter die Lupe nehme, ist die Auswirkung des Berufs auf den Menschen. Wie ist es, wenn man so jemand ist? Und jedes Mal, wenn ich ein neues Scarpetta-Buch in Angriff nehme, frage ich mich: Wie fühlt man sich in ihrer Haut?“ In der Tat lassen sich die Romane auch lesen als Protokolle einer beruflichen Deformation durch den Tod. Patricia Cornwell exekutiert dies exemplarisch am Schicksal von Lucy Farinelli, der Nichte ihrer Heldin. Bietet sie der Tochter ihrer verantwortungslosen Schwester zunächst noch ein Zuhause, treibt die Unzuverlässigkeit der notorisch arbeitssüchtigen Lieblingstante das junge Mädchen schließlich immer mehr in die Einsamkeit. Nach verschiedenen Episoden des Scheiterns bleibt der ebenso depressiven wie intelligenten jungen Frau nur das selbstzerstörerische Leben als Undercover-Agentin eines Sondereinsatzkommandos im Kampf gegen Drogen- und Waffenhandel.

Dabei verwendet Patricia Cornwell viel Mühe auf die Beschreibungen des behördlichen Alltags. Das Gerichtsmedizinische Institut entpuppt sich ebenso wie Polizeibehörde und Staatsanwaltschaft als tendenziell durch die mediale Öffentlichkeit korrumpiert. Vor allem aber das FBI – und dort explizit jene Abteilung von Profilern, in der schon Clarice Starling in Thomas Harris’ DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER Dienst tat – spielt bei Cornwell nicht zufällig eine höchst ambivalente Rolle. Schließlich begann fast zur selben Zeit, als sich der Profiler zur modernsten Figuration des Detektivs mauserte, auch die Gerichtsmedizin die Phantasie von Literatur und Film zu beschäftigen. Was insofern wichtig ist, als dieses Genre stets weniger in seinen Plots als in den Hauptfiguren selbst einen Inbegriff seiner Zeit kondensiert.

In derselben Weise, wie Sherlock Holmes die frühmoderne Medien- und Technikverliebtheit der Metropole London in sich trägt und Edgar Allen Poes feinnerviger Auguste Dupin Exponent einer gedankenspielerischen Kriminalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts ist, verkörpert Raymond Chandlers Privatdetektiv Marlowe die Resignation und Müdigkeit einer Zeit, die weiß, daß alle Geschichten schlecht ausgehen und einem nichts bleibt als zu warten, bis das Leben sie selbst zuende erzählt. Darin aber ist er Inbegriff eines fin de siécle der amerikanischen Westküste auf dem Höhepunkt der ersten großen Blüte der Kinoindustrie Hollywoods.

In eben diesem Sinn ist der Pathologe als Held der Kriminalliteratur Kondensat unserer Gegenwart. Und wie bei seinen Vorgängern entwickelt das Genre auch in seinem Fall erst in der Nähe zum Gegner seine spezifische Konfliktsituation, aus der sich der Funke der Zeiterkenntnis schlagen läßt. Ist es bei Poe der dekadente Intellekt, der selbst verdächtig jener morphiumgesättigten Blume des Bösen gleicht, in der die Zeit figurierte, so gibt Conan Doyle seinem Sherlock Holmes das Böse in Gestalt Professor Moriartys als schwarze Kopie seiner selbst bei. „Moriarty wird wieder tun, was ich tun werde“, erkennt Holmes in DAS LETZTE PROBLEM die Grenzen seiner Kunst und überanwortet sich so nicht erst mit dem berühmten Zweikampf am Reichenbachfall der Spiegelfechterei und dem Wahn.

Heute nun ist der Gegner von Profiler und Pathologe, dem gespaltenen Bruderpaar der Aufklärung, der Psychopath, von dem sich zunächst einmal sagen läßt, daß er als literarische Figur zusammenzufügen scheint, was die ungleichen Brüder getrennt verkörpern. Der forensischen Akribie der Pathologin entspricht die Lust an der Verstümmelung ebenso, wie die Einfühlung des Profilers auf den kreativen Narzißmus des Kranken antwortet.

„Wenn es nach mir ginge“, resümiert Patricia Cornwell die Veränderung, die diese Imago des Bösen für den Kriminalroman bedeutet, „könnte man die Kategorie Detektivromane ganz abschaffen, denn es handelt sich wirklich um ein veraltetes Genre und steht meiner Meinung nach nicht für das, was heute geschrieben wird. Also, Detektivromane halten sich seit jeher an die Konventionen eines Genres, das mit verdeckten Hinweisen, falschen Spuren und allen möglichen Dingen operiert, die im Zeitalter von DNS, alternierenden Lichtquellen und Serienmorden ausgesprochen albern sind.“

Das aber bedeutet – und Patricia Cornwell führt es Roman für Roman in immer größerer Deutlichkeit vor –, daß ein Polizist vom Schlage Pete Marino wenig mehr als das traurige Maskottchen einer vergangenen Zeit ist, in der die Gewalt noch einen Sinn hatte. Für den Täter zunächst, doch damit schließlich auch für das Opfer und das Gemeinwesen, zu dessen Selbstverständnis es gehört, den Einzelnen zu schützen. Die mediale Verstörung, die vom 11.9. ausstrahlt, hat zum einen in der plötzlich faßbar gewordenen Schutzlosigkeit ihren Grund, sicher aber auch darin, daß die Menschen der westlichen Gesellschaften seit langem schon einer Erschütterung jeder Sicherheit ausgesetzt sind, die sich im gesichtslosen Verbrechen radikalisiert.

Damit geht Patricia Cornwell um. Kay Scarpetta ist, indem sie jeder Möglichkeit politischen Handelns mißtraut, zugleich die bessere Polizistin. Sie, die Pathologin, ist Anwältin der Wunden und darin so unerbittlich wie der Tod selbst, der ihr seine Opfer bringt. Gerichtsmedizin ist für sie eine Profession, bei der es weniger auf Verständnis ankommt als auf Entzifferung. So ist sie am denkbar weitesten von Vergebung entfernt: Kay Scarpetta will, daß dem Leid, das sie sieht, Gerechtigkeit widerfährt, denn geblieben ist ihr nur der Schmerz, in dem sie ebenso gefangen ist wie der gesichtslose Täter, dessen Taten sie entziffert.

„Die wirklich abscheulichen Verbrechen, die unser Land so stark faszinieren und über die uns das Gerichtsfernsehen informiert, werden oft von Menschen begangen, die das Opfer nicht einmal kannten. Denken Sie nur an Fälle wie Jeffrey Dahmer oder Charles Manson oder Ted Bundy – Verbrechen, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Das Beweismaterial stellt nicht unbedingt eine Verbindung zwischen Opfer und Täter her, weil sie sich gar nicht kannten.“

Wenn also die Spurensuche als Versuch, das Gespräch mit dem Täter aufzunehmen, nicht mehr möglich ist, gilt es, sich in die Tat zu versenken. Spätestens die Seminare Hannibal Lecters haben uns gelehrt, daß der psychopathische Täter mit der Gesellschaft über Kassiber kommuniziert, die seine Opfer sind, in deren Verstümmelung es ihm einzig gelingt, sein eigenes Leid auszustellen. Deshalb aber wird die notwendige und exzessive Einfühlung des Profilers auch zur Einflugschneise und Infektionsbahn des Verbrechens in unsere Welt. Dieses literarische Muster ist nicht neu. So, wie Sherlock Holmes in Professor Moriarty einer Bedrohung seines eigenen, drogensüchtigen und einzelgängerischen Ichs begegnet, führt etwa auch Bram Stokers DRACULA die angstlustvolle Gefahr, dem Bösen zu verfallen, exemplarisch vor. Und Bret Easton Ellis’ AMERICAN PSYCHO schließlich lockt den Leser mit Hilfe der Verbrüderung im Namen globaler brands in die Lust am Leid anderer.

Der Psychopath wird auf diese Weise nobilitiert zum Initiator eines bestialischen intellektuellen Spiels, dessen Partner der Profiler ist. Zumindest literarisch hat die Faszination an diesem Spiel – und an seinen genialisch bösen Spielern – bewirkt, daß das Leid der Opfer wie bei Ellis in Darstellungen der Kälte gewissermaßen neutralisiert wurde oder ganz aus den Geschichten verschwand. Und wiederum ist es Clarice Starling, die Gegenspielerin des Professor Moriarty unserer Tage, die dieser Verlockung bis zum Schluß folgt. Es erscheint als ein sehr einfühlsames Arrangement des psychophatischen Psychoanalytikers Lecter, die Kapitulation seiner geliebten Gegenspielerin im Rahmen eines Abendessens stattfinden zu lassen, bei dem Starling das Hirn eines lebenden Opfers löffelt. Thomas Harris inszeniert in HANNIBAL eine Hochzeit mit dem Bösen, die explizit den Verzicht auf Einfühlung feiert, und zwar als denkbar radikalste Vertilgung der Psychologie.

Aber es trägt dieser scheinbar endgültige Triumph des Bösen über die Einfühlung, einer schwarzen Psychologie über die Magie der weißen Analyse, zugleich sein Scheitern in sich. Das in den zerstörten Körper der Opfer aufgespeicherte Leid liest Kay Scarpetta. Und eben deshalb ist sie gegen die Verlockung des genialisch Bösen gefeiht. Patricia Cornwells Pathologin agiert jenseits einer Dramaturgie der Einfühlung, was sie zur wohl modernsten Heldin in der Ahnenreihe des Kriminalromans macht.

Mutet es zunächst seltsam an, daß gerade eine Autorin, die sich derart vehement in die Betrachtung der Körper versenkt, auf dem beharrt, was uns von unserem Fleisch unterscheidet, spricht sich darin doch der Wunsch aus, die Würde des Todes nicht mißbrauchen zu lassen. „Eine Sektion“, betont Patricia Cornwell, „erinnert an den gewaltigen Unterschied zwischen uns und unserem Körper. Wir bestehen nicht nur aus unserem Körper, glauben Sie mir. Denn wenn Sie den leblosen Körper sehen, wird Ihnen sofort klar, daß er ganz und gar nicht dem Menschen entspricht, der er einmal war.“

Das aber wird in der psychopathischen Tat geleugnet, die den realen Menschen sozusagen überschreibt. Und im selben Maß, in dem die Ursache des Bösen nicht mehr gesellschaftlich gefaßt werden kann, ist auch das Ergebnis der Tat kein Leid mehr, das gesellschafliche Relevanz beanspruchte und etwa den Schmerz der Angehörigen umfassen würde, das verlassene Kind und die zurückgelassene Ehefrau. Die Ursache bleibt eingeschlossen im Kopf des Täters, die Folge stumm am Leib des Opfers. Und die Pathologin Kay Scarpetta ist mit diesen Spuren des Leids allein. „Eine Autopsie“, sagt Patricia Cornwell, „geht einem gegen den Strich. Alles, was damit zusammenhängt, ist im Vergleich zu unserem Alltagsleben sehr fremd. Wir sind es nicht gewohnt, einen tiefgefrorenen Körper zu berühren. Für mich ist das immer ein Schock, obwohl ich es bereits viele Male erlebt habe. Es ist so grundlegend anders als alles, was man als lebendiger Mensch in der normalen Welt erlebt.“

Patricia Cornwell weiß, wovon sie spricht, denn sie kann bei ihren Schilderungen auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Dr. Marcella Fierro, der sie den Roman VERGEBLICHE ENTWARNUNG widmet, ist das erkennbare reale Vorbild der Heldin Cornwells, die – wie jeder Klappentext vermerkt – mehrere Jahre in Richmond als Polizeireporterin und vor allem unter Fierro am Forensischen Institut als Computerexpertin gearbeitet hat. Deutlich wird ihre Sachkenntnis nicht nur, wenn die Stryker-Säge, mit der Schädel geöffnet werden, durch die Romane schrillt, oder wenn Cornwell in DAS GEHEIME ABC DER TOTEN sehr detailliert jene body farm des FBI schildert, auf der man Leichen unter realistischen Bedingungen verwesen läßt, um Aufschlüsse über die beteiligten Faktoren zu erlangen. Vielmehr entwickelt das Universum der Patricia Cornwell seinen hohen Grad an Glaubwürdigkeit gerade im zunehmenden Verfall ihrer Heldin, die immer mehr zur Leid-Tragenden im Wortsinn wird. Als sei nicht für das Leben gemacht, wer Tag für Tag mit dem Tod umgeht.

BRANDHERD markiert dabei einen Endpukt. Kay Scarpetta erscheint geradezu bewegungsunfähig und von realen und inneren Bedrohungen nahezu überwältigt. Die Beziehung zu ihrer Nichte droht endgültig zu zerbrechen, ihr Lebensgefährte, der FBI-Profiler Benton Wesley, ist in großer Gefahr, und aus der Vergangenheit taucht der Psychopath Temple Gault in Gestalt seiner einstigen Gefährtin Carrie Gretchen wieder auf. Und je größer das Leid für sie wird, desto mehr empfindet sich die Gerichtsmedizinerin selbst als gefährdet, zieht sich aus dem öffentlichen Raum zurück und beginnt, ihr Haus in einer jener gated communitys, die sich in den USA ausbreiten, immer mehr mit Alarmanlagen, Waffen und Kameras abzuriegeln. Die Angst geht soweit, daß die Pathologin es zunehmend vorzieht, sich mit dem Helikopter fortzubewegen, um der Bedrohung auf Erden zu entgehen.

Natürlich ist Symptom, was die Autorin dieserart an ihrer Figur zeigt. In den Kriminalromanen Patricia Cornwells verschwindet der öffentliche Raum, weil die Spielregeln des Umgangs in ihm nicht mehr gelten. Das ist wohl die verborgene Bedeutung der Herkunft Kay Scarpettas. Zwar ist die Italoamerikanerin der zweiten Generation In Miami geboren, doch ihre Familie stammt aus Verona, der Stadt der Arena. Das Theater aber ist für den kriminalistischen Kosmos von allergrößter Wichtigkeit, denn das Drama des Verbrechens blieb immer in die aristotelische Einheit von Zeit und Raum gebunden, in der die Anwesenheit von Täter und Ankläger die Möglichkeit des Verständnisses, von Schuld und Buße garantierte. Zerbricht diese dramatische Struktur, die Tat und Täter in einen Zusammenhang setzt, zerbricht die Organisation von Gesellschaft selbst. Wie will man dem begegnen, der nichts will, und dessen Tat kein Statement mehr ist, sondern nichts als der Ausdruck einer unzugänglichen, radikalisierten Innenwelt?

Das ist der Subtext der Romane von Patricia Cornwell, der von Band zu Band deutlicher lesbar wird. Als drücke sich in all der symbolischen Gewalt gegen Körper, die ihrerseits ein unverkennbares Echo der allgemeinen Sexualisierung aller Verkehrsformen ist, geradezu ein Verschwinden der Körper im Realen aus. Es schwindet im obszönen Wachstum des Imaginären der öffentliche Raum. In diese Leere stoßen, so will es scheinen, Fundamentalismen jeder Coleur, indem sie Innenwelt und Außenwelt ebenso kurzschließen wie das Denken des Psychopathen.

In diesem Sinn ist die Zerstörung des World Trade Centers auch ein Übergriff auf unsere Seelen. Jenseits des politischen Raums beginnt der Wahnsinn, weshalb den allgegenwärtigen Kriminalerzählungen vom Psychopathen eine besondere Bedeutung für das Verständnis unserer Reaktion auf das Ungeheure zukommt. Kay Scarpetta, die Pathologin, weiß längst, daß die einfache Abwehr des Wahns erfolglos sein und den Täter nicht finden wird, weil diese Form der Abwehr unseren Anteil am Wahn leugnet.

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Bibliothek.

  In: Kulturverschwörung. Kulturinstitutionen auf dem Prüfstand der Zukunft. 2002.

Die Frage nach der Zukunft der Bibliotheken scheint zunächst eine Frage nach den tiefgreifenden technologischen Umbrüchen zu sein, die wir erleben, denn zweifellos sind die Bibliotheken von diesen Umbrüchen in ganz besonderem Maß betroffen, weil sie als Orte des Speicherns gewissermaßen zur Kernkompetenz digitaler Medien gehören. Doch jenseits aller Überlegungen, welche Finanzierungsmodelle wohl zukünftig welche Datenträger öffentlich oder nicht bereitstellen, ist die Frage nach der Bibliothek die nach einem transzendentalen Ort unserer Kultur. So enthält die Frage nach ihrer Zukunft selbstverständlich die Annahme, daß die Bibliothek eine hätte. Oder daß wir zumindest wüßten, was sie war. Aber die Bibliothek ist ein Phantasma. Und es gilt dieses Phantasma sehr genau zu beschreiben, will man vermuten, welche Zukunft es haben und was man verlieren könnte, wenn es tatsächlich verginge.

Sämtliche Wände waren bis zur Decke mit Büchern ausgekleidet. Langsam hob er an ihnen den Blick. In die Decke waren Fenster eingelassen. Auf sein Oberlicht war er stolz. Die Seitenfenster waren vor Jahren nach hartem Kampf mit dem Hausbesitzer zugemauert worden. So gewann er in jedem Raum eine vierte Wand: Platz für mehr Bücher. Auch schien ihm ein Licht, das alle Regale von oben gleichmäßig erhellte, gerechter und seinem Verhältnis zu den Büchern angemessener. Die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten – eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekam – fiel mit den Seitenfenstern weg. Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenz, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek.

Das Phantasma der Bibliothek ist zwittrig. Zum einen ist sie in der Moderne ein klassisch-phantastischer Ort, an dem vielfältige Erinnerungsgänge und Fiktionsräume nicht nur bei Borges, Benjamin und Eco ihren Ausgangspunkt nahmen. Zugleich ist die Bibliothek auch ein Ort der Zucht und Zuflucht und Elias Canettis Schilderung der verhängnisvollen Bibliothek in seiner BLENDUNG vereint mustergültig die beiden Komponenten der nüchternen Bibliotheksphantastik: Ordnung und Angst. Die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten, von der Professor Kien, der Held Canettis, sich dadurch befreit, daß er die Fenster zumauern läßt, zeigt, daß der Gegensatz von Buch und visuellen Medien und damit die Angst vor den zerstreuenden Bildern keineswegs neu ist. Etwa zur selben Zeit wie Canetti schreibt Siegfried Kracauer in DAS ORNAMENT DER MASSE  – als späche er vom Internet – über die Photographie: Böte sie sich dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Photos fegt seine Dämme hinweg. So gewaltig ist der Ansturm der Bildkollektionen, daß er das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten droht.

Die Angst, gegen die sich Elias Canettis Bibliothek abdichtet, ist also eine ganz heutige: daß nämlich die gesellschaftlichen wie persönlichen Gedächtnismaschinen an der schieren Datenmasse des nicht durch Sprache gezähmten Bildmaterials zuschanden werden könnten. Dagegen steht das Phantasma der Bibliothek, die unendliche Räume der Fiktion verspricht und in ihrer Systematik zugleich züchtigt und bannt. Denn was die Bilder festhalten – sagt Kracauer – ist lediglich eine Hülle, ein Außen, das des Wortes bedarf, um eingeordnet werden zu können. Gehen diese sprachlichen Mechanismen der Auswahl und Einordnung durch den Medienwechsel aber verloren, muß unser kollektives Gedächtnis notwendig verarmen. Doch unsere aktuelle Abwehr der digitalen Bilder, in der so seit hundert Jahren die immerselbe Medienkritik hohl drehen zu scheint, ist noch viel älter. Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, daß sich in ihr die Argumentationsfigur wiederholt, mit der Platon im PHAIDROS die gesprochene Sprache gegen die Schrift verteidigte: Die Schrift ist gefährlich, und sie gleicht darin der Malerei. Denn die Malerei stellt Geschöpfe so vor dich hin, als lebten sie, und doch schweigen diese feierlich jedem, der sie befragt. Auch von den Buchstaben meinst du, sie redeten gleich verständigen Wesen; wenn du aber von ihnen lernen willst, so sagen sie dir stets dasselbe. Sobald es einmal niedergeschrieben ist, kommt das Wort überall hin, auch zu denen, die es nicht verstehen, und weiß selbst nicht zu sagen, für wen es bestimmt war und für wen nicht.

Vor allem der Einwand, die Schrift trenne das Wissen vom Wissenden und zerstöre damit gleichermaßen selbst den Kontext seiner Bedeutung und die Beglaubigung durch seinen Autor, dekuvriert dabei ein entscheidendes Unbehagen an den Neuen Medien. Aktualisiert sich doch mit der Erfahrung des World Wide Web und unter der gegenwärtigen Perspektive einer globalen, ungesteuerten Vernetzung in der Tat die Angst, erneut könnte eine ganze Kultur der Urheberschaft erodieren. Und die Bibliothek mit ihren Exerzitien der Karteikästen und Konkordanten und den endlosen Rosenkränzen der Bibliographien erscheint als eine einzige große Maschine, zu verhindern, daß Schrift sich so herkunftslos ausbreitet wie jene Viren, deren gegenwärtige mediale Wiederkehr die erste Beglaubigung einer digitalen Welt zu sein scheint, die nicht papieren, sondern lebendig ist.

Insofern hat Elias Canetti mit seiner reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek tatsächlich die sehr genaue Beschreibung eines Phantasmas gegeben, dessen Elemente er korrekt benennt: Reichhaltigkeit meint Kanon, Ordnung Unterordnung unter Autorenschaft, und Abgeschlossenheit klare Regelung des Zugangs. Wenn aber das die Bibliothek ausmacht, ist das Internet tatsächlich Ausdruck einer entstehenden post-bibliographischen Gesellschaft. Im Netz nämlich ändert sich der grundsätzliche Status des Wissens, indem es seine Verbindlichkeit, deren Garantie – auch – die Bibliothek abgab, verliert. Verbindliches Wissen, das gleichermaßen Legitimitätsgrundlage gesellschaftlichen Handelns wie symbolischer Politik war und so die Gesellschaft formte, ist in den virtuellen Räumen der digitalen Medien obsolet. An die Stelle seines Erwerbs tritt die Verwaltung disparater Wissenswelten.

Während der Begriff des Speichers Hochkonjunktur hat, stehen die klassischen Orte kollektiven Gedächtnisses, Bibliotheken und Museen, also vor ihrer Umwidmung. Eine Ordnung verschwindet, und die große Selbstverpflichtung der Moderne, die Koordination verbindlichen Wissens zu garantieren, gilt nicht länger. An ihre Stelle werden die Datenbanken kommerzieller Anbieter und das gespeicherte Wissen in den Intranets der Unternehmen treten. Verbindlich nurmehr für den, der es besitzt, öffentlich nurmehr im Hinblick auf seinen Käufer, wird man es managen und nicht mehr hüten.

Schließlich werden die zerfallenden Strukturen ein induktives Wissensmodell perfektionieren, das sich auf die Ordnungsleistungen und Verbindlichkeiten nicht mehr verlassen kann, wie sie Bibliotheken verkörperten. Die heutige Internetrecherche mag ein Modell solch künftigen Wissenserwerbs sein, ein anderes die Weise, wie einmal Abschriften und Palimpseste selbsttätig Sinn aus Fehlern generierten. Denn das, was das Netz von sich aus öffentlich und jenseits der Schutzzonen der Datenbanken an Wissen bereitstellen mag, kann keinem Anspruch auf Überprüfbarkeit und Kritik mehr gerecht werden. Es lebt und stirbt wie einst Mythen und Legenden, und wird, wie Platon es formulierte, selbst nicht mehr wissen, für wen es bestimmt war und für wen nicht.

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Mittwochs, im letzten Jahrhundert.

  In: Rituale des Alltags. Herausgegeben von Silvia Bovenschen und Jörg Bong. Frankfurt am Main, Fischer 2002.

Ich weiß noch, wie langstielige Algen tief drunten im Wasser wogten die Pfefferminzblätter im Glas und verschleierten die Luft mit dem Arom heißen Tees in der Bewegung des Löffels, bis diese stoppte und so jene verebbte. Langsam sanken die Blätter, dann rührte der Löffel sie wieder auf, und wieder, bis G. schließlich trank. Gerade da wurde es Nacht in der Stadt. Und wie stets noch, ließ sie sich mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit nieder hier in Berlin. Schnell dunkelte es in den Gassen und Hinterhöfen, wie es sie überall gibt, schnell auch unter den Buchen draußen am Wannsee bei Nikolskoe, langsamer schon auf dem weitläufigen Alexanderplatz, wo die Farben der Leuchtreklamen noch lange pastellig ins dunstige Restlicht schlierten, und sehr viel langsamer noch auf dem Kreuzberg um Schinkels von Strichern umstelltes Monument, das schwarz so lange in den Himmel stak, bis dieser endlich dem Stein ganz glich und so es verschwand. Ganz zuletzt verglommen die roten Fahnen der PKK ringsum auf den Dächern am Oranienplatz und dann wurde es auch hier in der Dresdener Straße Nacht, diesem toten und versandeten Flußarm, der vor einem Wohnkomplex am Kottbusser Tor anlandet wie einst die Straßen an der Mauer, verwahrlost und still, idyllischer Windschatten kapuzinerkressevoll im Sommer und voll eiskalten Windes im Winter wie jetzt. Dorthinaus sahen wir und tranken einen Tee nach dem anderen, die einzigen Gäste, keine Musik, das Wasser gurgelte ruhig in den Überlauf der Spüle, und der Barkeeper lehnte, selbst in ganz haltloser Introspektion, hinter der Theke am Tresen und wartete wie wir. Wie immer hatte ich den Tisch am Fenster reservieren lassen, unter dem die rot-samtene Bank verläuft, auf der G. saß, ich ihm zur Seite am Kopfende des Tisches und mit dem Rücken zur Wand. Plötzlich fragte G., als nähme er den verlorenen Faden eines Gespräches wieder auf, und hielt sich dabei, doch nicht lange, mit den Händen an dem Revers seines auberginefarbenen Anzugs, ob ich wisse, daß dieses Lokal bis weit in die 80er Jahre hinein vermauert gewesen sei, vermauert und vergessen. Ich schüttelte den Kopf und seine Hände kugelten der Frage in den Gelenken eine kleine Weile noch nach. Und dann hielt hinter seinem Rücken auch schon das Taxi und A. wechselte in ihrem Lieblingskleid schnell aus dem schwachen Licht des Wagenfonds ins Dunkel und von dort, wie so oft schon, mit sehr wenigen weiten Schritten ins Licht der Bar, das weit auf die Straße fiel. Als wir uns begrüßten, schien es tatsächlich, als hielte das Wiedersehen einen Moment lang die Zeit an. Ich weiß noch: Wir setzten uns wie in jenem Sommer, als wir viele Nächte hier zusammen verbracht hatten, bestellten denselben Wein und versuchten uns an denselben Sätzen, was nicht lange gelang. Ich erinnerte mich wieder an den guten Whisky, den es hier gibt, und an die Kapernkirschen, den Schauspieler mit seinem neuen Versace-Anzug, die Noblesse der Kellner und wie die Nächte hier stets sehr sanft vergilben. Schließlich unterbrach G. das Schweigen und erzählte, wie man die kurz nach dem Krieg vermauerten Türen und Fenster des Lokals eines Tages mit Vorschlaghämmern und Spitzhacken aufgebrochen habe und hier in muffigem, staubigem Dunkel dann das unberührte Interieur eines kompletten Kolonialwarenladens gefunden habe. Der Tresen hier war die Verkaufstheke und in den Holzschränke dort mit den Flaschen standen noch verstaubte Kaffeedosen und Gläser mit Lakritz, Safran und Perlmuttknöpfen. Die blinden Spiegel. Der Kronleuchter. Vor allem aber die Decke, sagte er mit kugelnden Händen. Ich sah hoch und betrachtete wieder die messinggefaßte Kassettendecke aus jenem milchigem Glas, hinter dem sich die Lampen verbergen und das dem Lokal dieses besondere mondweißes Licht gibt. Fragte mich, was Safran eigentlich ist. Trank und sah den Menschen zu. Es füllte sich langsam, alle Tische und auch der Tresen waren besetzt, zwei Kellnerinnen mit weißen, langen Schürzen bedienten jetzt, und sehr leise war nun auch Musik zu hören. A. und G. unterhielten sich, und ihre Stimmen trippelten so unbeachtet wie ein sehr kleiner Hund neben meinen Gedanken her, aus denen ich erst aufschreckte, als es plötzlich von außen an das Fenster klopfte und H. hereinwinkte. Und noch, während er sich seines Paletots und der ledernen Umhängetasche entledigte, in der er seinen Laptop transportierte, kamen J. P. herein und B., die uns alle mit dem Kinderwagen beiseiteschob. Und dann, wenig später und außer Atem, auch C. Sie roch, als ich sie umarmte, sehr nach Winter und versah wie immer meine Sätze mit den leisen Bleistiftstrichen ihrer Korrekturzeichen und entdeckte überall Zwiebelfische und Spieße, Ligaturen und Fliegenköpfe. Deleatur, dachte ich schließlich, bemerkte noch im Augenwinkel, wie N. von der Tür her G. zuwinkte und sich einen Weg an unseren Tisch bahnte, dann schloß ich die Augen und lauschte. Nicht der Musik und auch keiner bestimmten Stimme lauschte ich nach, sondern der Weise, wie mit einem Mal die Musik den Teppich aus Gesprächen nicht mehr überlagerte und diese auch nicht in jener versank, sondern sich immer wieder von neuem eine seltsame Balance herstellte, in der ein Wort, das Bruchstück einer Melodie, das glasklare Klirren einer Flaschen oder das Rücken eines Stuhles momenthaft in den Vordergrund trat, um sich dann sofort wieder mit den anderen Geräuschen zu verbinden. Und während ich noch überlegte, ob das wohl etwas mit der Resonanz der milchgläsernen Decke zu tun haben könnte, spürte ich plötzlich eine Hand in meinem Nacken und öffnete die Augen. Es war F., die nun neben mir saß, und schnell tauchte ich unter dem Duft ihres Haars zu ihrer Halsbeuge hinab. Nun sind wir komplett, dachte ich dabei und sah zu, wie G. und N. sich mit C. unterhielten und H. versuchte, die Tafel mit den Tagesgerichten an der Rückwand des Lokals zu entziffern. J. P. starrte, über den roten Samt der Rückenlehne gebeugt, aus dem Fenster und ich beobachtete eine ganze Weile, wie er sich eine Locke seiner krausen Haare in die Stirn drehte, dann umarmte B. ihn endlich. Da hatte A., unbemerkt von den anderen, gerade den Asiaten herangewinkt, der schon mehrmals an diesem Abend hereingekommen war und der nun neben ihr stand und aus dem Leinenbeutel, den er über die Schulter trug, eine Polaroidkamera hervorholte. Ich weiß noch, wie wir alle erstarrten im Blitzlicht. Und sahen überrascht uns dann um, dem Augenblick des Bildes hinterher, das A. da bereits lachend in der Hand hielt. So lange schwenkte sie es hin und her, bis Farben darauf erschienen und mit ihnen ein Raum und ich betrachte einen Tisch, Gläser und Stühle, Hände und unsere Gesichter.

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Zwischengas.

  15.12. 2001.

Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man Zwischengas gibt. Ich habe auch niemals in einem PKW gesessen, bei dem man hätte Zwischengas geben müssen. Ich habe nicht einmal einen Film gesehen oder auch nur eine Beschreibung gelesen, die anschaulich gemacht hätten, wie es vor sich geht, Zwischengas zu geben. Und doch habe ich eine ganz konkrete Vorstellung von dem, was sich hinter diesem Wort verbirgt, verbinde auch eine bestimmte Empfindung damit. Und so kam es mir nicht als Lüge vor, gleich im ersten Kapitel meinem Romans „Der Fall Arbogast“ folgenden Satz zu schreiben: Als er vor einer kleinen Brücke abbremste, Zwischengas gab und seine Hand von ihrem Sitz nahm, um herunterzuschalten, rückte sie nah an ihn heran. Doch woher speist sich diese Empfindung? Daher: Alles stirbt zweimal. Zuerst seinen eigenen Tod, unabänderlich und konkret. Später dann jenen anderen im Bewußtsein der Überlebenden. Und die meisten Dinge, die uns umgeben, siedeln in der Sphäre dazwischen. Die Weise, in der wir sie wahrnehmen, ähnelt ein wenig den Nachbildern des Realen, wenn wir die Augen schließen. Nur, daß der Augenblick jenes Nachlebens sich oft nach Dezennien bemißt. Oder, im Nachhall einer Mode, nach dem Takt einer Saison. Stets ist es aber beruhigend, wie sich das Geräusch jenes doppelten Sterbens im Hallraum unseres Gedächtnisses bricht. Denn dieses Echo mißt den Raum aus, der uns umgibt. Solange noch jedes seinen zwiefachen Tod hat, muß einen ums Menschliche nicht bang sein. Erst, wenn wir einmal gänzlich erinnerungslos eingeschlossen sein sollten, wird es diesen Raum für unseren Schrei nicht mehr geben. Es ist der Raum, in dem sich alles langsam vom Realen zum Erfundenen wandelt, um schließlich zu vergehen. Und mir scheint, das Zwischengas ist nun, ein halbes Jahrhundert nach seinem realen Tod, ganz kurz davor, aus diesem Geisterraum zu verschwinden. Zwar läßt das Wort sich sagen, doch fast schon nicht mehr. Noch ahne ich die Bewegung und stelle mir vor, wie man beim Gangwechsel – den linken Fuß auf der getretenen Kupplung, die eine Hand am Lenkrad, die andere am Schalthebel – mit dem rechten Fuß vorsichtig das Gaspedal tritt, bis das Getriebe synchronisiert ist. Dieses Tänzeln ein letzter Überrest davon, daß Autofahren einmal die tatsächliche Beherrschung einer Maschine bedeutete. Und wohl, weil sie das spürte, rückte sie nah an ihn heran.

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Der Fall Arbogast.

  Kriminalroman. DuMont, Köln 2001.

Sie lachte wie über etwas, das sie gerade entdeckt hatte, und sah sich nach ihm um. Er ging auf dieses Lachen zu und ließ dabei die beiden Flügel der Schwingtür langsam über die offenen Handflächen gleiten und dann sehr vorsichtig los. Es gab nahezu kein Geräusch, als die Tür zurückschwang, er in den Dämmer des Abends hinaustrat und in ihr Lachen hinein. Immer würde er sich später an diesen Moment der Stille erinnern und wie das kühle und glatte Holz der Türblätter über seine Hand wischte, als ermunterte man ihn. Das war der Moment, als es begann. Und wenn er sich später ihr lachendes Gesicht vergegenwärtigte, wußte er noch nicht einmal zu sagen, was darin ihn so in den Bann schlug.

»Wenn Engel reisen …« Sie beendete den Satz nicht, doch als er vor ihr stand, legte sie ihre rechte Hand auf seinen Unterarm und bedeutete ihm, sich nochmals umzusehen: »Schau mal dort!«

Beinahe schmerzhaft spürte er, wie ihre Berührung seiner Haut alle Spannung nahm. Er wußte, daß das Lokal Zum Engel hieß, doch während er sich bereitwillig nach der gelben Neonreklame umdrehte, wußte er auch, daß sie miteinander schlafen würden. Den ganzen Tag war er sich nicht sicher gewesen, und nun betastete er die plötzliche Gewißheit mit der Zunge wie einen glatten Kiesel im Mund, spuckte ihn dann verschämt in die Hand und steckte ihn in die Hosentasche. Damals waren, zumal auf dem Land, solche Neonröhren noch selten, deren Schein sich gerade erst gegen das Ende des Sommertages durchzusetzen begann. Es fuhr kein Wagen auf der Landstraße, an der das Lokal lag, und bis auf das Sirren der Kondensatoren in den Leuchtröhren war nichts zu hören. Einen Moment lang standen sie im Glanz des gelben Lichts, und er spürte ihre Hand auf seinem Arm, ließ ihn sinken, faßte sie um die Taille und fühlte zum ersten Mal ihr widerständiges Perlonkleid. Sie glitt in seine Umarmung hinein wie in einen Mantel und war mit einemmal gar nicht mehr so forsch wie den ganzen Tag, sondern fröstelnd und jemand, der jemanden braucht, sich zu wärmen.

»… lacht der Himmel«, beendete er ihren Satz leise und dicht an ihrem Ohr.

Sie gingen zu seinem Wagen, als würden sie sich schon lange kennen. Er bemerkte, daß sie ihm nun, obwohl sie den ganzen Nachmittag viel erzählt und geplaudert hatte, nicht antwortete, sondern auch noch schwieg, während er ihr den Schlag öffnete und behutsam wieder schloß, als sie Platz genommen hatte. Einen kurzen Augenblick zögerte er und schaute die Straße hinab, die sie am Nachmittag gekommen waren, nachdem er am Rand von Grangat am Bahnübergang in Richtung Gottsweiher gehalten und gefragt hatte, ob er sie mitnehmen dürfe. Gern, hatte sie gesagt und erst dann gefragt, wohin er denn fahre. Er hatte eigentlich geschäftlich nach Freiburg gemußt, aber geantwortet, er fahre nur so herum. Sie sei wohl nicht von hier? Nein, aus Berlin. Ach, eine von den Flüchtlingen. Ob sie in Ringsheim wohne, im Lager? Sie hatte genickt und er sie betrachtet.

Sie mochte Anfang Zwanzig sein, doch das ließ sich, wie er fand, bei solch zierlichen Frauen schwer schätzen. Sie war höchstens einssechzig und hatte kurzgelockte rote Haare. Ihre Augen waren die ganze Zeit leicht zusammengekniffen, was am Sonnenlicht liegen mochte oder an einer Kurzsichtigkeit, von der er nichts wußte, und jedenfalls einen ebenso selbstbewußten Eindruck vermittelte wie ihr Berliner Zungenschlag, den er zum ersten Mal hörte. Sie trug keinen Petticoat. Ihr Kleid mit dem runden Ausschnitt und kurzen, angeschnittenen Ärmeln zeigte grüne Blättchen auf Eisblau. Sie trug tatsächlich weiße Pumps. Ob sie den Schwarzwald denn schon kenne? Sie hatte den Kopf geschüttelt. Dann waren sie losgefahren, und der Tag war sehr schön geworden. Nicht nur das Wetter, dachte er und erinnerte sich später genau daran, daß er sich in diesem Moment das Datum vergegenwärtigte: Es ist der erste September 1953. Erst dann ging er um den Wagen herum, schloß auf und stieg ein. Sie sagte nichts, doch er wußte, das war egal.

Er umfaßte nicht ihr Knie, was ihm zu fordernd erschienen wäre, sondern drückte, nachdem er losgefahren war und schaltfaul den Borgward im dritten Gang ließ, zunächst nur den Handrücken leicht gegen ihren Oberschenkel, als läge seine Hand gewohnheitsmäßig und wie selbstvergessen auf dem Beifahrersitz. Sie rückte daraufhin nicht ab, erwiderte aber auch den leichten Druck zunächst nicht, während es endgültig Nacht wurde und sie schweigend weiter in Richtung Grangat fuhren. Irgendwann aber spürte er ihre Hand im Nacken und ihre Finger, die unter den Kragen seines Hemdes schlüpften und sich bis zu seiner linken Armkugel vortasteten und wieder zurück, wobei er deutlich Fingernägel spürte, dann wieder sanfte Fingerkuppen, die seine Halsschlagader hinaufstrichen bis zum linken Ohr, um schließlich wie kraftlos in sein aufgeknöpftes Hemd zu rutschen.

»Ist es noch weit?«

»Vielleicht eine Stunde.«

»Wollen wir nicht lieber noch mal irgendwo anhalten?«

»Wollen wir?«

»Ja.« Ihre Stimme so dicht an seinem Gesicht, daß er die Feuchtigkeit ihres Atems auf der Haut spürte.
Und als er vor einer kleinen Brücke zwischen Gutach und Hausach abbremste, Zwischengas gab und seine Hand von ihrem Sitz nahm, um herunterzuschalten, rückte sie nah an ihn heran, umarmte und küßte ihn. Vor der Brücke führte linker Hand ein Feldweg ins Dunkel. Ohne zu blinken, bog er hinein und rollte einen kleinen Abhang hinunter. Rechter Hand ein Flüßchen und darüber die kleine Brücke. Buschwerk nahm links den Blick zur Straße, neben dem Weg war eine Wiese, er schaltete den Motor und das Scheinwerferlicht aus.

Marie zog ihre Zigaretten aus der weißen Lacklederhandtasche und bat ihn um Feuer. Sie rauchte Kurmark, was gar nicht zu ihr paßte. Mischungstreu, geschmackvoll und doch mild, dachte er, schlug das Feuerzeug mit der Linken an, und während er die Flamme nah an die Spitze der Zigarette brachte, legte er beschirmend die Hand um sie. Sie dankte mit einem Kopfnicken. So jung war sie nicht mehr. Die Falten neben ihren Mundwinkeln waren es, die ihrem Lachen erst jenes Zittern gaben, das ihn so sehr anzog, während sie von sich erzählte. Vom Krieg in Berlin, von den zwei Kindern, die sie bei ihrer Mutter gelassen hatte, und von der Holzbaracke des Flüchtlingsheims, in der sie lebte. Ihren Mann erwähnte sie kaum. Er glaubte nicht, daß sie besonders viel log. Ihre Hände waren nicht mädchenhaft. Sie trug keinen Schmuck und, was er seltsamerweise erst jetzt bemerkte, keine Strümpfe.

Er öffnete den Aschenbecher, in der Hand noch immer das Feuerzeug mit der Flamme. Sie blies den Rauch aus und nickte dabei wieder. Er nahm ihr das Päckchen aus der Hand, zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, steckte das Feuerzeug weg. Die Packung ließ er in ihren Schoß fallen, und sie, als wäre das eine Aufforderung, nahm die Handtasche weg und stellte sie auf den Boden, beugte sich dabei nach vorn, und er küßte sie. Folgte ihrem Kopf, als sie sich wieder zurücklehnte, nahm die Zigarette in die linke Hand und legte ihr die Rechte um den Nacken, während die Glut für einen Moment in der Luft zwischen dem weißen, sehr dünnen Lenkrad der Isabella und dem ebenso weißen Bakelit-Knauf des Aschenbechers schwebte. Dort hinein ließ er sie, ohne hinzusehen, fallen. Sie drückte ihren Kopf mit aller Kraft zurück in die Polster und also in seinen Arm. Dennoch hob er sie zu sich heran, und während ihr Kopf ein wenig zurücksackte, fuhr seine Zunge über ihren Gaumen und buchstabierte sich ihre Zähne.

Ihre Unterlippe zitterte dabei, doch das überraschte ihn nicht, spürte er doch selbst die Erregung unter der Haut und wie sie vom Mund hinablief in seinen Körper hinein. Gerade, als er das registrierte, löste sie sich aus Kuß und Umarmung, und für einen Moment dachte er, das alles könnte ein Irrtum gewesen sein und nichts als Mißverständnis und Zudringlichkeit. Doch da hatte sie schon ihre Zigarette eilig im Aschenbecher gelöscht, und nun war sie es, die ihn sanft in das Polster zurückdrückte und sich über ihn beugte. Während sie ihn küßte und ihre Hände ihm wieder ins Hemd krochen, hielt er ihre Taille mit einer Hand, erspürte dort an der Seite die Druckknöpfe ihres Kleides, ließ sie aufspringen, und seine Finger glitten über den schmeichelnd weichen Unterrock aus Charmeuse und auf ihre Haut.

»Soll ich mich ausziehen?«

Er nickte und schob ihr den Stoff von den Beinen zur Hüfte hoch, als sie das Kleid mit beiden Armen nahm und sich über den Kopf zog. Der weiße Unterrock grellte hell auf, weil gerade in diesem Moment ein Wagen vorüberfuhr, dessen Scheinwerfer wie verirrt über den Unterrock hinwegschwenkten, bevor sie im Plafond des Borgward vergilbten. Im letzten Glimmen sah er, daß sie ihn ansah.

»Wollen wir hinaus? Es ist doch noch ganz warm.«

Er nickte und sie knöpfte ihm das Hemd auf, während er sich schon die Hose aufknöpfte und die Schuhe abstreifte.

»Komm jetzt«, flüsterte sie.

Dann stand sie in diesem unwirklich leuchtenden Unterrock auf der nachtschwarzen Wiese neben dem Feldweg. Wandte sich ab und ging ein paar Schritte. Ihre Pumps hatte sie im Wagen gelassen. Ihre Haut war sehr hell. Wie oft bei Rothaarigen. Jedenfalls hatte er das gelesen. Mit langsamen Schritten und gesenktem Kopf schlenderte sie durch das noch recht hohe, aber schon vertrocknete Gras. Blieb irgendwann stehen und zog mit dem Rücken zum Wagen auch das Unterkleid noch aus, BH und Schlüpfer.

Als er zu ihr kam, sie an der Schulter faßte, sich von hinten mit seinem ganzen Körper an sie preßte und sein Glied zwischen ihre Pobacken drückte, spürte er, wie naß sie war. Er flüsterte ihr ins Ohr, wie sehr er sie wolle, und wieder lachte sie. Nicht jenes laute oder helle Lachen, das er schon kannte, sondern ein nahezu tonloses, gurrendes Atmen lachte sie im Takt der Bewegungen ihrer Hüften, mit denen sie sich an ihm rieb. Er sah noch ihr Lächeln unter den geschlossenen Augen, als sie sich zu einem Kuß umwandte, dann ließen sie sich beide zugleich zwar nicht fallen, doch einander haltend auf den Boden hinab und ins Gras, wo schon ihre Unterwäsche lag.

Sie drehte sich aus seiner Umarmung hinaus und auf den Bauch. Erwartungsvoll auf beide Händen gestützt, sah sich nicht nach ihm um, er betrachtete ihren Hintern und streichelte ihn dort, wo er aufklaffte, griff sie dann an den Hüften und drehte sie sanft auf den Rücken. Zog ihre Schenkel heran und drang in sie ein. Für einen Moment meinte er, Widerwillen zu spüren, doch dann sah sie ihn an, drängte sich dicht an ihn und folgte seinen Bewegungen. Er küßte sie nicht, sah sie nur unverhohlen an und stieß zu, bis er kam. Überlegte sofort und war froh, daß sie ihm noch immer gefiel. Lag eine Weile still neben ihr im Gras, dann kniete er sich zwischen ihre Beine und im Mondlicht, an das sich seine Augen nun gewöhnt hatten, sah er sie an. Sah ihre Magerkeit zum ersten Mal und das schüttere, helle Schamhaar, ihre knochigen Hüften und Schultern. Ihre Brüste waren spitz und klein. Auch ihre Fußnägel lackiert. Tiefe Schatten unter den Augen, die er den ganzen Tag nicht bemerkt hatte. Eben noch, dachte er, habe ich sie nicht gekannt. Er strich ihr mit der flachen Hand über den Bauch. Nichts war zu hören als nur immer das unheimliche Wispern des trockenen Grases. Eigentlich war es schon empfindlich kalt. Es wird Herbst, dachte er und erschrak ein wenig dabei.

»Komm, laß uns rauchen«, sagte sie und setzte sich auf.

Er stand auf und bot ihr seine Hand. Mit der anderen griff sie, während sie sich hochziehen ließ, ihre Wäsche. Hand in Hand schlenderten sie zurück zum Wagen und setzten sich hinein. Die Türen der Isabella ließen sie offen wie weit gespreizte Flügel. Er registrierte, daß sie sich ihren Schlüpfer zwischen die Beine klemmte, damit die Kunstlederbezüge nichts abbekamen. Sie warf sich den Unterrock über, und er gab ihr Feuer. Wieder sprachen sie nichts, während sie rauchten, nur strich sie, als wollte sie sich seiner vergewissern, ihm immer wieder mit der linken Hand über die Innenseite seines Oberschenkels. Küßte schließlich seinen Hals, seine Brust und warf die Zigarette aus der offenen Beifahrertür. Küßte wie atemlos und als könnte sie sich nicht mehr von ihm lösen, saugte sich an seiner Brustwarze fest, bis es weh tat und er zurückwich. Doch es bedurfte nur eines Lächelns von ihr, da beugte er sich wieder zu ihr hinüber, und diesmal biß sie ihm in den Hals, die Hand noch immer an der Innenseite seines Schenkels mit jenem seltsam keuschen Streicheln, das doch seine Lust auch ohne ihre Bisse wieder geweckt hätte.

»Ich hab noch nicht genug«, murmelte sie an seinem Hals.

»Ich auch nicht.«

Er schob den Unterrock beiseite und biß ihre rechte Brustwarze, sie krümmte sich dabei wie an einer inneren Feder, die er derart spannte, kaum hielt es sie auf dem Sitz. Sie zog die Beine an und saugte sich nun ihrerseits immer fester in seinen Hals, als hielten sie sich so. Es war, als verschränkten sich Werkzeuge ineinander, er hatte noch nie jemanden so berührt, konnte nicht davon lassen, nicht von ihr, und nur mühsam hielt er sich zurück, sie nicht wirklich zu verletzen. Erst, als er irgendwann dennoch den Geschmack von Blut im Mund hatte, ließ er erschrocken von ihr ab, und im selben Moment lösten auch ihr Mund sich und jene innere Feder, die sie verband, aus der Arretierung, und rückwärts glitt sie fast aus dem Wagen hinaus.

»Komm mit!«

Als er um den Wagen herum war, lag sie schon nahe bei dem kleinen Wasserlauf im Gras. Deutlich hörte man hier, wie das Wasser um das Fundament der Brücke rauschte, und es fächelte auch kälter als in der Nähe der Büsche herauf. Kaum war er ihr nah, drehte sie sich weg, rollte herum und lag nun wieder, wie zuvor, auf angewinkelten Ellbogen und Knien. Nie sollte er vergessen, wie warm es sich anfühlte, als er hinter ihr auf die Knie ging und mit der flachen Hand über ihr Geschlecht strich. Hielt sie mit beiden Händen, drang wieder in sie ein, und sofort entspannte sie sich, langsam sackte ihre Wirbelsäule ins Hohlkreuz, und ihr Steiß stieß gegen seinen Bauch, bis er ganz in ihr war. Sie wiegte sich gegen ihn.

»Fester!«

»Noch?«

»Viel!«

Er schloß die Augen. »Dann halt still!«

Das tat sie nicht. Sie sah sich nach ihm um und lachte wieder ihr Lachen. Er öffnete die Augen wieder, griff nach ihrem Gesicht und faßte ihr ins kurze Haar, sie aber schnappte nach seiner Hand und saugte zwei Finger in ihren Mund, daß es ihm beinahe schon kam. An ihrem Nacken hielt er sie schließlich, für einen Moment wich sie aus, dann legte ihr Hals sich in seine große Hand. Sie umfaßte ihn zugleich mit ihrem Geschlecht, als arretierte sie so seine Lust, und es schien ihm, als könnte es niemals mehr aufhören, als würde er niemals kommen und als verstünde sie, die er kaum einen Tag kannte, seinen Körper besser als er selbst.

»Schau mich an!«

Später überlegte er oft, wieviel Zeit wohl vergangen sein mochte, bis er sie flüsternd nochmals und nochmals bat, ihn anzusehen.

»Schau mich doch an!«

Sie antwortete nicht. Erst, als er das registrierte, bemerkte er auch, daß sie schon einen unendlich langen Moment seinen Bewegungen nichts mehr entgegnete. Er erstarrte und lauschte, und da war es völlig still bis auf das zischelnde Gras. Sie hielt ihn nicht mehr. Noch immer auf Knien und Armen kauernd, sackte sie nun in sich zusammen, er glitt aus ihr heraus und sie ihm weg. Abgewandt lag sie da, die ihm eben noch so nah gewesen war, und rührte sich nicht. Und er spürte, woran er später oft denken mußte, eine ganz fremde Art von Müdigkeit, die schwer an ihm zog. Eine Müdigkeit von solcher Nachtschwärze, daß es ihn, den sonst nicht furchtsamen Mann, plötzlich ängstigte wie ein Kind. Als ginge etwas vorüber und langte ihn an. Und schnell war es auch wirklich vorüber. Schüchtern beugte er sich über sie und bat sie noch einmal, ihn anzusehen.

»Schau mich an!«

Dann drehte er sie um.

Literaturen 9/2001

Die Leber steht am Rippenbogen.

Warum ein Kriminalroman spannend bleibt, obwohl alle Geheimnisse von Anfang an gelöst scheinen.

Von Heinrich Detering.

 

Der Himmel weiß, ob Hans Arbogast schuldig ist. Irgendwann während des leidenschaftlichen Liebesaktes hat Marie Gurth plötzlich jede Körperspannung verloren, ist, unter seinen Händen, bewegungslos zusammengesackt und auf einmal gestorben, unter seinen Händen. Die Außenansicht des Falls Arbogast dreht sich um dieses «unter seinen Händen». Von allem übrigen handelt die Innenansicht: vom Körper, von der Spannung, von der Liebe und vom Tod.

«Der Fall Arbogast. Analyse eines Fehlurteils», lautet eine der Zeitungsschlagzeilen, die in diesem Roman das sensationelle Geschehen reflektieren. Insgesamt sechzehn Jahre verbringt Hans Arbogast in Haft, und die ganze Zeit hindurch bleibt «eingeschlossen in ihn jener Tod, der keinen Grund zu haben schien». Denn auf die Frage, woran die Tote eigentlich gestorben ist, antwortet der Obduktionsbefund spöttisch: «eigentlich gar nicht». Was für ein Einfall ist das, und was für ein Fall?

Die Zuchthausstrafe des unbescholtenen Mannes, die unendlichen Recherchen seiner, wie es scheint, selbstlosen Helfer, die Wiederaufnahme des Verfahrens, der filmreife Showdown im Gerichtssaal und die beunruhigenden kleinen Ausläufer, in denen es dann doch noch weitergeht, die Aberkennung und Wiederzuerkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, die Ehescheidung und schließlich die gespenstische Affäre mit einer Frau, die der Getöteten, mit unklarer Absicht, ähnlich sieht: Dies alles wäre aufregend genug, um einen «Kriminalroman» zu ergeben. Obendrein verheißen die Schauplätze, an denen er sich zwischen 1953 und 1970 abspielt, ein thrillerträchtiges Flair: Zürich, OstBerlin, Frankfurt am Main, dazwischen das Tessin und Freiburg im Breisgau; das klingt nach John le Carré.

Es ist aber Thomas Hettche, und etwas Besseres als dieser Autor konnte dem Stoff gar nicht passieren. Der auffallendste Überraschungseffekt seiner KrimiVersion liegt darin, dass alle genregewohnten Geheimnisse von Anfang an gelöst scheinen. Gleich auf den ersten Seiten sind wir Zeugen des Todes, in Echtzeit, in Großaufnahme und einschließlich der inneren Vorgänge des mutmaßlichen Täters – und dennoch werden wir bis zum Ende so wenig wie der Held begreifen, was hier eigentlich geschehen ist. So viel auf den folgenden dreihundertfünfzig Seiten auch geschieht, über den Tathergang, die Motive und Begleitumstände erfahren wir nichts grundstürzend Neues. Offen bleibt, was geschah, wie es passierte, ja sogar wer es eigentlich war, der da agierte. Offen bleibt deshalb auch, wo die Unschuld endet und die Schuld beginnt. Was am Fall Arbogast der «Fall» ist, wissen wir schon, kaum dass es begonnen hat. Aber was hier der Fall ist, das wissen wir auch am Ende nicht.

Und eben deshalb ist diese Geschichte ohne Auflösung ein perfekter Kriminalroman: eine Überbietung des Genres, wie sie zuletzt vielleicht Dürrenmatts Geschichten zwischen «Verdacht» und «Justiz» gelungen ist. Man liest sie mit nicht nachlassender Spannung – ohne genau bestimmen zu können, worauf sie sich eigentlich richtet. Denn diese Kriminalgeschichte spielt ohne Tricks und mit offenen Karten. Was sich hier sagen lässt, wird möglichst offen gesagt – und markiert gerade so die Grenzen zu jener geheimnisvollen Weite, die von der Sprache kaum erreicht wird. Wenn es etwa um die Wandlungen des Häftlings in der Haft geht, dann weiß sein Verteidiger drei handfeste Begriffe zu nennen; und tatsächlich sind Autoaggressionen, Verschlossenheit und zunehmender Realitätsverlust genau das, was auch uns Zuschauenden an Arbogasts Entwicklung am meisten aufgefallen ist. Dass aber diese Vokabeln keineswegs eingesetzt werden, um etwa sich selbst oder den Sprecher zu denunzieren, dass der Erzähler sie vielmehr mit derselben Aufmerksamkeit notiert wie jede andere Äußerung auch – das lenkt die Aufmerksamkeit auf jene ungewissen seelisch-körperlichen Zustände, die keines dieser Wörter erfasst.

Überhaupt wird keine der vielen Gestalten denunziert – weder der aggressive Oberstaatsanwalt noch der freundliche Lokalreporter, weder der Gerichtsgutachter Professor Maul noch die Fotografin Gesine Hofmann noch jemand der vielen anderen. Zwar treten aus diesem Ensemble von Figuren manche als Protagonisten hervor, vor allem Arbogasts Anwalt und die Pathologin Katja Lavans. Aber wirklich zu entscheiden ist das nicht, weil sie alle mit gleicher Aufmerksamkeit betrachtet und begleitet werden.

Ein leitmotivisches Bild, das die Beziehungen zwischen ihnen beschreibt, ergibt sich aus Arbogasts ursprünglichem Beruf; er war Handelsreisender für Billardtische. Wie Billardkugeln also erscheinen die Figuren, die ihre Anfangsenergie in kreuzund querschnellenden Bewegungsabläufen allmählich verausgaben – in Abläufen, die alle ihre erkennbaren Ursachen haben und die doch in der Gesamtheit aller Wirkungen und Gegenwirkungen ein Muster von rätselhafter Schönheit bilden –, in «Linien nach dem Gesetz von Einfallswinkel und Ausfallswinkel, bis sie schließlich langsamer werden wie ein müdes Tier». Die letzten vier Worte sind es, die das am Klischeerand balancierende Bild nicht nur retten, sondern glanzvoll erneuern, unvergesslich bis ins hörbar «dumpfe Klacken der knöchernen Kugeln».

In Thomas Hettches Gespür für Körper, ihre Sprache und Sprachlosigkeit, artikuliert sich am eindringlichsten seine Neugier auf den Tod und die Liebe und die eigenartigen Beziehungen zwischen beiden. Er erzählt also nicht nur, wie zwei Körper ineinander übergehen, sich voneinander trennen und mit sich selbst zerfallen, sondern auch, wie der Gefängnisraum und der inhaftierte Körper gegeneinander kämpfen und dann zeitweise so verschmelzen, dass auch ihre Trennung immer so unvollständig bleiben wird wie die vom toten Körper Maries. Hettches Text spürt diesem Körper nach, dessen Grenzen so wenig verlässlich sind wie die Konstanz, die er uns vorspielt, und er macht spürbar, wie der Körper etwas weiß, das vom Denken nur schwer einzuholen ist und von den Wörtern vielleicht gar nicht.

Eben darum bleibt diese Erkundung so nüchtern wie möglich. Dabei kann gerade ihre Vorliebe für die exakten Redeweisen der Rechtsmedizin und der Pathologie eine eigenartige Bildkraft entfalten. «Die Schleimhaut der Speiseröhre ist zart», liest man im Obduktionsbericht, in einer Wendung, die gar nicht poetisch sein will, sondern bloß fachsprachlich korrekt. «Die Leber steht am Rippenbogen» wie der Mond am Nachthimmel; und man fragt sich, ob das eigentlich vor Hettche schon jemand gesehen hat.

Auf diese Einzelheit der Empfindungen kommt es diesem Erzähler an, auf die Individualisierung eines Geschehens, das sich nicht subsumieren lässt. Registrieren will er, nicht resümieren. Und tatsächlich vermittelt er jene Nuancen des Empfundenen und Gedachten, die sich der Sprache nur widerstrebend fügen, zuweilen so eindringlich, dass man über diesen Schilderungen deren eigene Sprachgebundenheit streckenweise vergisst.

Denn was immer geschieht, ist weitläufig und dämmrig und für jedes Erleben einmalig. Erst die Wörter, die es vermitteln sollen, machen es eindeutig und allgemein. Das Gerichtsverfahren ist dafür der paradigmatische Ort. Denn «steckte auch jedes Wort in einer anderen Vergangenheit, entschieden doch schließlich alle über eine Wirklichkeit, die es zuvor nicht gegeben hatte». Hettches perspektivischer Realismus entdeckt die Vergangenheiten, die in den Wörtern stecken, und kreist jene Wirklichkeit ein, die zwischen ihnen liegt und die es vor ihnen nie als eine gegeben hat. Die Spannung, die dieser Text erzeugt, gilt auch dieser Entdeckung einer Wirklichkeit, die es nur im Plural gibt.

Der Erzähler beredet sie nicht, sondern macht sie zur Leseerfahrung – dieser ernste, aufmerksame, jederzeit konzentriert beobachtende und selbst nie zu fixierende Erzähler, der in jede Figur hineingleiten und sie ebenso unmerklich wieder verlassen kann, der alles sieht und doch nie zum Voyeur wird. Seine souveräne Zeitregie lässt nicht nur minuziöse Mitschnitte, Dehnungen und Raffungen ineinander übergehen; sie kann auch jenes «Versickern» der Zeit registrieren, das durch kein anderes Wort einleuchtender benannt sein könnte. Schildert er Dialoge, wechselt der Erzähler geschmeidig und diskret von einer Figur in die andere hinüber: weiß, was der jeweils Redende denkt, sieht solange den jeweils Zuhörenden nur von außen und verhält sich dabei ganz still.

Verwirrend ist auch die Eleganz seiner Überblendungen. Im Körper von Anwalt Klein etwa, und aus seinen Augen blickend, schlendert der Leser dem ahnungslosen Paul Mohr durch die Straßen nach. Wenn Paul dann ein Geschäft betritt, schließt der Leser sich ihm an und erblickt nun, nach dieser unmerklichen Stafettenübergabe, das Innere des Ladens aus Pauls Augen, während Klein aus dem Blickfeld gerät. Und dieses Verfahren lässt sich über mehrere Stationen hinweg fortsetzen. Tatsächlich, der Erzähler folgt den Blicken und Bewegungen seiner Figuren wie der Billardspieler den Bewegungen der Kugeln. Und vergisst dabei keinen Augenblick, dass diese Kugeln lebendig sind: Wesen aus Sprache, Fleisch und Blut. Und Knochen. Vor diesem Perspektivismus der gleitenden Übergänge löst sich die Frage nach Schuld und Unschuld nicht auf, aber sie gerät in ein beunruhigendes Zwielicht. Wenn der sündenund beichtbesessene Gefängnispfarrer dem eben Freigesprochenen dröhnend zuruft: «Mir scheint, du bist wirklich dabei, wieder unschuldig zu werden!» – dann bleibt die Berechtigung dieses Spaßes durchaus in der Schwebe.

Einmal bemerkt jemand hier beim Betrachten von Fotografien, das Lächeln des Dargestellten bleibe «unverständlich ohne jene Atmosphäre, die ihn dabei umgab». Die Erzählung will das Lächeln verständlich machen. Dazu aber bedarf es nicht nur der Körperregungen und Sprachregelungen, die es hervorrufen, sondern auch der umgebenden Atmosphäre. Und in deren Rekonstruktion kommt Hettches schon notorische Detailversessenheit auch diesmal erstaunlich weit.

Im Hintergrund ist die Zeitgeschichte allgegenwärtig, von den Nachbeben des Krieges bis zur ersten Regierungserklärung Willy Brandts; und Gerichtswesen und Strafvollzug recherchiert Hettche so anteilnehmend und kaltblütig wie Truman Capote. Dass es sich hier auch um einen historischen Roman aus den sechziger Jahren handelt, zeigt sich aber weit eindrucksvoller in den bis zur Pedanterie vermerkten Kleinigkeiten. Man raucht hier «Eckstein» («echt und recht»), tippt Reportagen auf der «Hermes Baby», zitiert wortgetreu den «Spiegel», die «Bunte», die «Badische Zeitung». Neben dem Mercedes 300 kommt auch die Borgward Isabella wieder zu ihren verdienten Ehren. Wird ein Fernsehgerät ausgeschaltet, so verschwindet das Bild nicht einfach, sondern zieht sich zu einem weißen Punkt zusammen, der dann «langsam und mit einem leisen Flirren verlosch». Noch «das Scherengitter des Telephonhalters» ist so historisch penibel wie das ph. Die Wendung, dass der Ford Taunus «einhundert Spitze» macht, hätte auch anderen einfallen können, die sich noch ans Autoquartett auf dem Schulhof erinnern. Aber zu registrieren, dass eine Frau auf den Beobachter «ein wenig ungeschminkt wirkte», verlangt schon ein schärferes Gedächtnis. Natürlich, es ist ja das Jahr 1966, da bemerkt man so was sofort.

Nur ganz selten ist der Stilwille überanstrengt («sie hatte genickt und er sie betrachtet», steht dann da, so ungewollt komisch wie «er glitt aus ihr heraus und sie ihm weg») oder anachronistisch – bei der Vorliebe für das blöde «zögerlich» und erst recht für die Behauptung, etwas «mache Sinn», was in den frühen Sechzigern noch gar nichts tat. Michel Foucault grüßt diskret Über das virtuose Ausstellen der Textualität, wie er sie in «Nox» praktiziert hat, ist Hettche nun einen entscheidenden Schritt hinausgegangen. Gewiss, noch immer ist sein Text durchsetzt mit literarischen Anspielungen. Vom «Zentralturm der panoptischen Anlage» aus etwa, in der Arbogast überwacht und bestraft wird, winkt diskret Foucault herab (der auch in Pfarrer Karges Belehrungen über die Beichte halblaut mitredet). Und lange bevor zum ersten Mal der Name Brecht fällt, hat der Tod der Marie G. schon seine Verse ins Gedächtnis gerufen. Aber solche Untertöne drängen sich jetzt nicht mehr auf, sie schwingen nur mit in diesem wundersamen Klang.

Die erzähltechnische Perfektion dieses Buches ist so auffallend, dass man manchmal befürchtet, sie auf der nächsten Seite als bloße Artistik vorgeführt zu sehen – und jedesmal wahrt der Erzähler gelassen die Balance. Selbst wo die Metaphern das Manieristische streifen, bemerkt man nach dem ersten argwöhnischen Zögern, dass sie vollkommen stimmen. Einer erzählt seine Lebensgeschichte, «als trüge er seine Biographie wie eine Prothese, die nur mühsam die Verstümmelungen der Zeit ausglich», oder: «Sie glitt in seine Umarmung hinein wie in einen Mantel». Solche Bilder sind ebenso preziös wie der Satz «Seine Worte fielen in ihre Seele wie eine Bleikugel in eine Silberschale», den Flaubert über Emma Bovary schrieb, und sie schmiegen sich ihren Gegenständen nicht weniger dicht an.

Hier liegt der tiefste Grund aller Spannung: in der reinen Suggestionskraft dieser Prosa. Er liegt in diesem dunklen, klaren und gedämpften Ton, dem nüchtern-elegischen Fall der Sätze. Er liegt in diesen knappen und atmosphärisch dichten Aperçus am Rande – «Es war fast Mittag, und in der Leere spielte die Sonne mit klaren Schatten.» Er liegt in diesem ruhigen Rhythmus, der vollkommen sicheren Phrasierung. Der Himmel weiß, ob Hans Arbogast schuldig ist.

Dass seine Geschichte ein sonderbares und, doch ja, wunderbares Buch ist, weiß der Leser.


Berliner Zeitung / 15.09.2001

Tief in den Körpern liegt ein Geheimnis.

„Der Fall Arbogast“: Thomas Hettches brillanter Kriminalroman nutzt die Eigenheiten des Genres.

Von Iljoma Mangold.

 

Am ersten September 1953 nimmt der junge Metzgerssohn Hans Arbogast eine Anhalterin in seiner hellblauen Borgward Isabella mit. Die junge Frau, Marie, ist Anfang zwanzig, kommt aus Berlin und ist im Flüchtlingslager im badischen Ringsheim untergebracht. Die beiden jungen Menschen machen, was man damals wohl eine Spritztour genannt haben würde. Es ist ein sonniger Spätsommertag, der Neuanfang des überstandenen Weltkriegs hat für sie noch keine festen Lebensrollen vorgesehen, eine ziellose Freiheit unbestimmter Möglichkeiten liegt in der Luft. So fahren sie durch die milden Hügellandschaften Badens, rauchen Kurmark und kommen sich näher. Irgendwann, es ist bereits Abend, stoppt Arbogast seinen Wagen, sie steigen bei einer Brücke aus und auf der Wiese neben dem Flüsschen lieben sie sich. Erst einmal, dann noch einmal. Sie lieben sich heftig, suchen in der Leidenschaft eine Gewalt, wie sie seltsam kontrastiert zu dieser durch und durch süddeutsch-wohltemperierten Idyllik. „Fester“, fordert Marie, und es vergeht noch einige Zeit, bis Arbogast registriert, „daß sie schon einen unendlich langen Moment seinen Bewegungen nichts mehr entgegnete“. Eine Tote hält Arbogast in den Armen. „Es ist der erste September 1953.“

Was Thomas Hettche in „Der Fall Arbogast“ erzählt, ist ein historischer Kriminalfall. Alles, was einen solchen Kriminalfall ausmacht, wird von Hettche mit bewunderungswürdiger Umsicht und Transparenz in den Erzählstrom eingearbeitet: Obduktionsberichte, Pressestimmen, der gerichtsmedizinische Forschungsstand, das Zeitkolorit der jungen Bundesrepublik. Aber ebenso auch kollektive Stimmungen und die Psychologie der Figuren: Alles erfasst dieser Erzähler mit einem eigentümlich intensiven Realismus. Selbst dort, wo er aus der Innenperspektive seiner Figuren berichtet, ihre Träume und inneren Monologe dem Leser zugänglich macht, geschieht dies auf eine so delikat-registrierende Weise, dass der objektive Realismus überhaupt nicht gebeugt scheint. Es ist der künstlerische Coup dieses großen Buches, dass es Hettche gelingt, einen allwissenden Erzähler zu installieren, der alles und zugleich doch nicht mehr als jeder andere wache Mensch auch sieht und weiß. Es ist eine transempirische Autorperspektive, die gleichwohl nur mit den Mitteln der menschlichen Sinne arbeitet. So entsteht ein schillernd-faszinierender Realismus, der weit mehr umfasst, als einer bloßen Dokumentation zugänglich wäre.

Nach der tödlichen Liebesvereinigung verbringt Arbogast die Leiche an einen anderen Ort und stellt sich erst Tage später der Polizei. Der Körper der toten Marie weist Spuren von Gewalt auf: Kratzer auf ihrem Rücken, Bisswunden an ihren Brüsten. Der obduzierende Arzt protokolliert alle Zeichen dieses Körpers, die Hinweise auf seine Geschichte hergeben. Er macht Fotografien der Toten. Während des Gerichtsprozesses scheint es auf „Körperverletzung mit Todesfolge“ hinauszulaufen, bis schließlich ein Gutachten des renommierten Gerichtsmediziners Maul die Wundmale am Hals von Marie als Würgespuren identifiziert allerdings nur auf der Basis der Maul vorliegenden Fotografien. Das Wort „Perversion“ entfaltet seinen magischen Bann, die Stimmung schlägt um, das Gericht entscheidet auf Mord.

16 Jahre verbringt Arbogast hinter den Gittern des Bruchsaler Gefängnisses. Hettche erzählt auf berührendste Weise von den Wirkungen der Einzelhaft: Wie der gefangene Arbogast seine Zivildurch die Sträflingskleidung ersetzt, wie ihm die bürgerlichen Ehrenrechte (wir befinden uns in den 50er-Jahren vor der großen Strafrechtsreform) aberkannt werden, wie die Mutter ihren ,perversen‘ Sohn aufgibt, seine Frau sich von ihm scheiden lässt und wie der Mensch Hans Arbogast immer mehr verkümmert, wie seine Gesichtszüge zu zucken beginnen, wie seine Biografie durch die monoton mahlende Zeit zerrieben wird und seine Erinnerung zerfällt. Die Jahreszeiten lassen sich aus dem Gefängnisfenster noch feststellen, die Jahre selbst nicht mehr.

Und so sehr Arbogast sich selbst verliert, sich selbst unwirklich wird, so wenig gelingt es seiner Mitwelt, sich von ihm ein Bild zu machen: Er ist zu einem gefangen gesetzten Körper geworden mit einem Geheimnis, dass so tief in ihn eingeschlossen ist, dass er selbst es nicht mehr kennt. 13 Jahre Haft liegen hinter Arbogast, als sich der engagierte Erfolgsschriftsteller Sarrazin und der Rechtsanwalt Klein sich seines Falles erneut annehmen. Zu vieles erscheint ihnen fragwürdig an diesem Prozess. Sie sorgen für Publizität die Zeiten haben sich geändert, die Bundesrepublik projiziert ihren Schrecken vor dem eigenen geschichtlichen Zivilisationsbruch nicht mehr in eine Angst vor der Perversion so reagieren die Zeitungen bereitwillig und kramen den Fall wieder hervor. Klein und Sarrazin schalten Experten ein, bringen neue Gutachten bei, schließlich gelingt ihnen die Wiederaufnahme des Verfahrens. Dem Menschen Hans Arbogast aber und dem, was am ersten September 1953 geschah, in dieser seltsamen Mischung aus archaischem Liebestod und der Gewalt der Körper, kommen sie nicht näher. Das Wiederaufnahmeverfahren bringt Arbogast die Freiheit. Das Gericht hat sich diesmal angesichts allzu vieler Zweifel für den Angeklagten entschieden. Was mit dieser Geschichte gesagt sein soll, bleibt völlig im Dunkeln. Sie wird erzählt, gründlich und präzise aber sie gibt an keiner Stelle das preis, was der Leser von Literatur immer erwartet: Dass das Erzählen einer Geschichte seinen Grund haben müsse in tieferen Gründen, die sich einer aufmerksamen Lektüre irgendwann unter der Oberfläche des Stoffes als Sinn oder höhere Bedeutung zu erkennen geben. Ab einem bestimmten, angestrebten Erzählniveau so die Reflexe unserer Lesegewohnheiten stehen die erzählten Dinge nicht mehr nur für sich selbst, sie verwandeln sich in Zeichen, die einer über die konkrete Geschichte hinausweisenden Deutung zugänglich sein müssen. Die einzige Gattung, die sich dieser Unvermeidlichkeit der Interpretation oder Bedeutungsunterstellung entzieht, ist der Kriminalroman, weil in ihm die Deutung der Zeichen nur auf die Auflösung des in ihm geschilderten Falles hinweist. Die Aufklärung und die daraus resultierende Spannung, keine Hinterwelten, sind sein höchstes Ziel.

„Der Fall Arbogast“ ist ein Kriminalroman. Hettche hat die Eigenheiten dieser Gattung hervorragend eingesetzt. Jede Beobachtung, jedes registrierte Detail ist ein technisches Indiz, das im Prozess der Aufklärung die Wahrheit des Falles zu rekonstruieren hilft. Nicht die Welt soll erklärt, sondern ein Todesfall geklärt werden. Besser lässt sich ein Roman gar nicht verschließen gegen die Interpretationsanmutungen unserer Lektüregewohnheit. Der Reichtum an Beobachtungen, den Hettche in seinem Meisterwerk zusammenträgt, würde in jeder anderen Gattung zu einem Bedeutungskollaps führen, nicht so im Kriminalroman. Alles dient ja nur der Wahrheit einer kruden Wirklichkeit. Und doch: Indem Hettche seinen Kriminalroman so vollständig vor Symbolisierungen abdichtet, gerät die gesamte, so realistisch dargestellte Wirklichkeit ins Schwirren, schlägt um in einen neuen Status und wird greifbarer und übermächtiger, als es nur je irgendein Symbol vermöchte. Die Gewalt der Körper und ihre Disziplinierung im Strafsystem, die sexuelle Lust als Gier nach einer anderen Lebensintensität und ihre Klimax im Tod, die fürchterliche Mechanik der Zeit und die Unergründlichkeit der Schuld, die Blicke der Menschen, mit denen sie in ihr Gegenüber eindringen wollen und doch immer nur an den Oberflächen des Körpers und seiner schweigenden Zeichen abprallen all dies steht vor dem Leser so intensiv und unausdeutbar, als wären es Inbegriffe des Wirklichen selbst.

Das ästhetische Prinzip von Hettches Roman ist die Vollständigkeit. Nichts wird ausgelassen, alles notiert. Und trotzdem bleibt ein uneinholbarer Rest. Mehr konnte mit allen inneren und äußeren Sinnen an Wirklichkeit nicht zusammengetragen werden, und doch geht die Gleichung nicht auf. Kein Teil des Puzzels hat der Erzähler übersehen, jedes Bruchstück immer wieder neu angeordnet, aber das Puzzle lässt sich nicht zu einem kohärenten Bild zusammenfügen. Eine Lücke bleibt, für die es in den Begriffen unserer Wirklichkeit keinen Ort gibt. Eine Unbekannte, die in der Gleichung dieser Welt noch nicht einmal als Platzhalter integriert ist. Ein schlechterdings nicht Erzwingbares: Der Körper, sein Begehren und sein Tod.


Frankfurter Allgemeine Zeitung / 9.10.2001

Ein jeder tötet, was er liebt.

„Der Fall Arbogast“: Thomas Hettche verteidigt einen Lustmörder.

Von Felicitas von Lovenberg.

 

Es ist eine der ältesten Geschichten der Welt, die Thomas Hettche in seinem neuen Roman erzählt. Nur geht sie bei ihm schlechter aus als üblich. Hans Arbogast ist ein einigermaßen unbescholtener, verheirateter Billardtisch-Vertreter Ende Zwanzig, als er die junge Anhalterin Marie Gurth am 1. September 1953 in seinem Borgward, Modell Isabella, mitnimmt….

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung


Frankfurter Rundschau / 9.10.2001

Sex im Silberwald.

Skalpellartiges Erzählen: Thomas Hettches „Der Fall Arbogast“ fixiert die Libido an die Macht einer Toten.

Von Maike Albath.

 

Ein Mann und eine Frau sind in die Rituale des Liebesspiels vertieft: sein Handrücken drückt gegen ihren Oberschenkel, sie berührt seinen Nacken, küsst ihn, er hält ihre Taille, zieht ihren Kopf an sich heran. Nach kurzer Zeit steigt das Paar aus dem hellblauen Borgward und legt sich auf das trockene Gras. Wie mit einer Filmkamera fängt der Erzähler das Geschehen ein. Ein unbeteiligtes Auge tastet die Körper ab, gleitet weiter, verfängt sich in einem Detail ihr weißer Unterrock im Scheinwerferlicht eines herannahenden Autos, das glatte Holz der Türblätter, die lackierten Fußnägel -, dann gerät wieder die Totale in den Blick. Wegen der plötzlichen Stille überfällt Hans Arbogast eine Ahnung. Die junge Geliebte liegt unter seinem schweren Körper, mit dem Rücken nach oben. Als er sie umdreht, ist sie tot.

Ein atemberaubender Einstieg für einen Roman, der vorgibt, ein Krimi zu sein, einen spektakulären Justizirrtum der 50er Jahre zum Gegenstand hat und das Material eines authentischen Falls verarbeitet. Aber das ist nur die Oberfläche. In den Tiefenschichten des Textes geht es vor allem um Sexualität, Erotik und Tod, so fein verwoben und versponnen mit den Handlungsfäden der Kriminalstory, dass sich die Schwingungen auf den Leser ausdehnen. Obwohl Hans Arbogast unschuldig zu sein scheint, setzt sich ein kaum erklärbares Gefühl von Bedrohung fest und hält bis zum Schluss des Romans an. Die große Spannung der Geschichte hängt mit dieser Empfindung zusammen: Irgend etwas Dunkles, irgendeine archaische Urangst wird da angesprochen. Denn Lust und Tod miteinander zu verknüpfen, hat etwas Ungeheuerliches. Mit dem Lachen der Frau lässt Hettche Der Fall Arbogast beginnen. Es gefällt dem 29jährigen Vertreter für Billardtische, der Marie Gurth an einer Straßenkreuzung aufgabelt und sich gleich von ihr angezogen fühlt. Die junge Flüchtlingsfrau aus Berlin steigt in den Borgward, gemeinsam vertrödeln sie den warmen Septembernachmittag, gehen Essen, fahren durch den Schwarzwald. Bestechend deutlich ist die erotische Spannung von der ersten Zeile an zu spüren mit seinem kühlen Blick, der sich auf die Empfindungen Arbogasts konzentriert, hält Hettche die untergründigen Strömungen fest. Als es zum zweiten Mal zum Sex kommt, wünscht Marie Geschlechtsverkehr „a tergo“, wie es die Pathologin Katja Lavans 16 Jahre später lapidar formulieren wird.

Wie Genrebilder kleidet Hettche manche Szenen aus. Im September 1953 wird die Autopsie der Leiche auf dem steinernen Sektionstisch im Nebenraum der Friedhofskapelle von Grangat vorgenommen, Marie ist umgeben von einem Blumenmeer aus Lilien und Gladiolen. Der Arzt setzt das Messer an und fördert mit jedem Schnitt die physische Verfassung der jungen Frau zu Tage. Und Thomas Hettche übersetzt die Profession ins Literarische: Gleich einem Anatom „der privilegierte Schauplatz des Blicks war die Anatomie“ hieß es in seinem Venedigbuch Animationen (1999) legt er mit seinem Skalpell-Blick Schicht um Schicht frei: das Liebespaar, die Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren, die stummen Bindungen der Figuren untereinander, alles wird seziert. Ein durchkomponiertes Motivgewebe stellt Zusammenhänge her: Sämtliche Frauenfiguren frieren leicht, die kalte Oberfläche der Billardkugeln erinnert an Maries Haut, Hans Arbogast ist im Gefängnis gefangen, Katja Lavans in Ostberlin.

Elegant umspielt der Autor das Erotische, immer wieder scheint die Intensität der Begegnung zwischen Hans und Marie auf alle Beteiligten auszustrahlen plötzlich gefällt dem Gerichtsreporter die Fotografin, die Ehefrau des Journalisten fühlt sich von dem Anwalt angezogen, der Anwalt mag die Pathologin. Elegant montiert Hettche sämtliche Ebenen und Erzählstränge und entwirft eine ganze Partitur, die in sich stimmig ist. Eine eigentümliche Poesie entfaltet der Fachjargon, durch den die Sprache eine metaphorische Kraft bekommt: Am Kinn Maries ist eine „blutunterlaufene Würgemarke“ sichtbar, „das Zwerchfell steht beiderseits an der fünften Rippe“, die „Kapsel ist glänzend glatt“, in der Gebärmutter der Toten zeugt ein „fünfmarkstückgroßer Mutterkuchen“ von einer Abtreibung, und im Verlauf des Romans wird mehrfach von „Halsweichteilen“, „Kammblutungen“ und „postmortalen Blutungen“ die Rede sein.

Geschmeidig wechselt Hettche in seiner Erzählführung von Hauptzu Nebenfiguren, präsentiert Schauplätze, lässt den Blick hin und herpendeln und fängt fast beiläufig Details ein, die die 50er Jahre atmosphärisch verdichten. Dicke Tweedanzüge und karierte Koffer suggerieren Alltäglichkeit, aber sie verdecken nur oberflächlich die rachsüchtige Stimmung und die Selbstgerechtigkeit der Menschen. Bei dem manischen Rechercheur Thomas Hettche bildet sich der geistige Zustand direkt in den Figuren ab: Ein kleiner Ausruf „ein Perverser!“ sagt mehr über Prüderie und Verdrängung aus als jede wortreiche Analyse, und der feixende Pfarrer Karges, Seelsorger im Zuchthaus Bruchsal, verkörpert am besten den Durchschnittsbürger von 1955.

In der Zwangsnormalität der jungen Bundesrepublik nimmt sich das Liebesabenteuer von Arbogast und Marie Gurth, obendrein beide anderweitig verheiratet, ungehörig aus. Sexueller Genuss, zumal ungewöhnlich praktiziert, ist schon per se verwerflich. Deshalb scheint es auch niemanden zu verwundern, als der Prozess plötzlich eine unerwartete Wendung nimmt. Trotz des entlastenden ersten Gutachtens, das einen Tod durch Herzversagen nahe legt, wird Arbogast für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ausschlaggebend dafür ist das Gutachten von Professor Maul, der anhand der Fotos die Hypothese Tod durch Strangulation formuliert und das Gericht auf seiner Seite hat. Erst zwölf Jahre später beginnen sich der Publizist Fritz Sarrazin und der Rechtsanwalt Ansgar Klein für den Fall zu engagieren und erreichen nach zwei abgeschmetterten Anträgen 1969 die Wiederaufnahme des Verfahrens. Arbogast sitzt währenddessen im Zuchthaus Bruchsal ein. Seine Frau hat sich längst scheiden lassen, und alles was er noch besitzt, sind Erinnerungen an eine Tote.

Leitmotivisch zieht sich das Foto der Leiche durch den Roman: Kaum jemand kann sich dem Zauber der jungen Frau entziehen, wie sie mit ihrer ungeschützten Nacktheit im Brombeergestrüpp liegt, den Mund leicht geöffnet, einen entrückten Ausdruck im Gesicht. Mit einer betörend suggestiven Sprache erzählt Hettche von der Macht der Toten. Die Berührung ihrer Haut, ihr Lachen, ihre Stimme, die roten Haare, alles liegt in Hans Arbogast verkapselt und bindet ihn an die Vergangenheit. Erregen kann er sich bei dem Gedanken an Marie nicht, es käme ihm unzüchtig vor. Über seine Poetik des kühlen Blicks schreibt der Autor die Ambivalenz von Anfang an in den Text ein: Die Wahrnehmung mit dem Kameraauge schafft Distanz, zwangsläufig wird der weibliche Körper zum Fetisch erhoben (ähnlich wie übrigens der Borgward). Arbogasts Libido ist an ein unerreichbares Objekt fixiert. Die gespenstische Verbindung erreicht ihren Höhepunkt, als die Ostberlinerin Katja Lavans ins Spiel kommt.

Thomas Hettche ist ein mit sämtlichen Foucault’schen Wassern gewaschener Konstrukteur, formt den vorgefundenen Fall für seine Zwecke um und erfindet eine Wiederholungsszene, die zu einer Spiegelung der tödlichen Umarmung wird. In den Prozess um Hans Hetzel, der die Folie für Hettches Roman bildet, war nämlich ein Pathologe der Charité namens Otto Prokop involviert. Ihm wird in einer Nachbemerkung für die Geschichte gedankt. Aber nur eine Frauenfigur konnte das faszinierende Geheimnis von Sexualität und Tod weiter verdichten, weshalb bei Hettche die 41jährige Katja Lavans Otto Prokops Rolle übernimmt. Fritz Sarrazin und Ansgar Klein bitten die Ostberlinerin um Mithilfe, denn sie ist die einzige, die sich gegen die Kompetenz des geschätzten Doktor Maul zu äußern wagt. Als Arbogast (der sicherlich nicht zufällig den Namen des Detektivs aus Hitchcocks „Psycho“ trägt) von Katja Lavans hört, erwacht er zu ersten Mal aus seiner Totenstarre, die sein Anwalt dem langen Gefängnisaufenthalt zuschreibt. Katja stammt wie Marie aus Ostberlin, sie ist so alt, wie es die Freundin von damals heute wäre, und als Arbogast sie trifft, trägt sie eine rote Perücke. Just in dem Moment und hier zeigt sich Hettches Gewitztheit als Arbogasts Unschuld nahezu bewiesen scheint, kippt die Wahrnehmung des Lesers. Katja dechiffriert die Zeichen auf dem Körper der jungen Frau und identifiziert sich mit ihr. Gleichzeitig ist die Pathologin Arbogast tief verwandt, denn genau wie er ist sie dem Reich der Toten verhaftet, genau wie bei einem Gefängnisinsassen wird jede ihrer Bewegungen von den Ostberliner Behörden kontrolliert. Wie ein fehlendes Puzzleteil fügt sich die Spazierfahrt im Borgward gemeinsam mit Arbogast in den Roman ein: Jetzt erleben wir die Anfangsszene noch einmal, aber aus weiblicher Perspektive, und plötzlich liegen sexueller Höhepunkt und Todessehnsucht nahe beieinander.

Der Fall Arbogast ist ein romantischer Gerichtskrimi, fesselnd und auch literarisch spannend. Dem überhitzten Stoff und den schwülen 50er Jahren bekommt Hettches kühler Konstruktionswille und das skalpellartige Erzählen. Wie Billardkugeln prallen seine Figuren aufeinander. Es ist ihr Blick, der ihm an jenem Septemberabend auf einmal fehlt. Sechzehn Jahre lang wird er ihn vermissen.


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09/2001.

  Photo Arne Dedert.
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Gespenster.

  23.12.2000.

Alle medialen Artefakte und Formen bilden ein unendlich verzweigtes Stollensystem in den Sedimentschichten des kollektiven Erinnerns, die die Zeit immer weiter unter den sanften Hügeln der Gegenwart verdichtet, auf denen wir Tag für Tag unschlüssig von einem Fuß auf den anderen treten. Überall Gruben und Stollen, die ganze Landschaft unterteuft von den Wetter- und Blendschächten der künsterischen Motive, den aufgelassenen Zugängen historischer Erklärungen, den Wendelrutschen und Fördergruben von Information und Zerstreuung. Tief geht es an manchen Stellen hinab, andernorts überschneiden sich sehr unübersichtlich die engen Ganggeflechte der paranoiden Weltentwürfe und öffnen sich dann plötzlich zu den riesigen Kavernen und Salzkathedralen der populären Mythen. Ein Autor, der diese mediale Verfaßtsein der Welt außer Acht läßt, verirrt sich notwendigerweise und findet oft nie mehr ans Tageslicht zurück. Die mediale Verfaßtheit der Welt bedeutet stets Selbstreflexion an den gleisenden Wänden der inneren Quarze, denn auch die eigenen Bücher sind winzige Lufteinschlüsse in den Sedimenten der Zeit, Negativformen der eigenen Person, Avatare und Unterhändler im kollektiven Raum des Erinnerns, Selbstgespräche mit der eigenen toten Zukunft.

Autoren benötigen daher neben guten Kenntnisse der geologischen Verwerfungen in den Erzadern und Flözen, aus denen die Hüttenwerke der bildverarbeitenden Industrie versorgt werden, vor allem ein Bewußtsein für die Verarbeitungstechniken, mit denen der geförderte Ertrag immer wieder umgeleitet, durch Zisternen, Reinigungsbecken und Sickergruben geführt, gestaut, erhitzt und gefiltert wird in dem schier endlosen Prozeß aus Vergessen und Rekonstruktion, aus dem schließlich unsere mediale Erinnerung geläutert und geschmiedet hervorgeht. Entscheidend für jede literarischen Gestaltung von Welt ist jedoch letztlich die Sensibilität für das, was in all diesen Prozessen, in den geläufigen Mustern und der Routine, in den Formeln, den zu geübten Gesten und im vorurteilsvollen Blick verformt, verfälscht und damit für immer verloren wird.

Als ob man Arme, Straßen, Rümpfe, Häuser verlängerte, wo der Bildrand sie abschneidet, beginnt jede Erzählung dort, wo die Bilder die Wirklichkeit immer schon amputieren. Man schreibt sich mit einer Geschichte in die Geschichte ein, die doch vorgibt, nichts wegzulassen, und versenkt Stück um Stück von sich wie strahlenden Abfall im Stollen- und Gängesystem unserer Bilder. (Niemand weiß, welche Erinnerungen in den versiegelten Buchfässern noch wirkkräftig sind, welche es erst noch werden und welche bereits zerfallen und in welcher Zeit.) Dialektik der Medialität: daß sie uns von uns befreit, indem sie Macht über uns gewinnt. Überall sehe ich hinter den neuen Fassaden Berlins noch deren alte Realität, die meine erfundene ist. Unverändert gibt es für mich, weil ich sie beschrieb, noch immer die geschwärzten Stümpfe der Statuen an der ehemaligen Mauerseite des Grobius-Baus. Die Realität der Medien ist die Medialität des Realen. Wenn ich durch Berlin gehe und dabei die Wege meiner Figuren kreuze, ist mir das so unangenehm, als spräche ich auf offener Straße mit mir selbst oder begegnete Gespenstern.

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10/2000.

  Literarisches Colloquium Berlin. Mit Daniel Kehlmann und Josef Winkler. Photo Renate von Mangoldt.
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Null.

  Literatur im Netz. Herausgegeben von Jana Hensel und Thomas Hettche. DuMont, Köln 2000.

Entstanden als Milleniums-Anthologie, endet NULL zusammen mit diesem Jahr wie ein Versprechen, welches die Zeit einlöst. Zwischen Konzeption und Finale entwickelte dieser Ort im Netz seine eigene Atmosphäre und Dynamik, die hier dokumentiert wird wie im Katalog einer Ausstellung. Denn seit dem 31.12. 1999 ist NULL ein Museum, das man besichtigen kann, und die Texte, die eben noch das Spielgeld einer Gemeinschaft auf Zeit bildeten, sind von einem Tag auf den anderen allesamt zu Exponaten geworden. Und frisch versteinert erscheint diese Gemeinschaft nun schon wie das missing link zu einer vergangenen Phase der technologischen Revolution, in der wir leben. Schien doch die Idee einer Internet-Anthologie mit einer vorab bestimmten Gruppe von Autoren vor einem Jahr noch durchaus gewagt. Schließlich gab es wenig Literatur bekannterer deutschsprachiger Autoren im Netz, und in den Feuilletons zögerte man noch, das Medium überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ob sich eine Öffentlichkeit für dieses Projekt fände und Autoren, die Interesse am WWW hatten, war auch im DuMont Buchverlag durchaus umstritten.

Flaschenpost oder Adventskalender des letzten Jahrtausendjahres sollte NULL sein, schrieb ich im Herbst 1998 an die Autoren in meiner Einladung, die zumeist noch per Post zugestellt werden mußte. Um so mehr überraschte es mich, wie viele sich gerade über den Anlaß freuten, online gehen zu können. Dezember 1998. Eine Optik für die Website. Nur nichts Animiertes. Wehe, wenn es nach Snowboarder riecht. Massiv soll es sein und nicht verspielt. Schnell. Das finale „L“ dreht sich vor meinen Augen auf den Kopf. NULL eine Insel im Netz – so könnte man das ausdrücken. Danach ist man immer klüger. Den Satzspiegel errechnen und durchprogrammieren. Die Sternenkarte. Eine unauffällige Einrandung, die nicht lauter sein will als auch nur ein einziger Buchstabe von Helmut Krausser oder Dagmar Leupold, notierte Harald Taglinger, der für die Konzeption und Programmierung verantwortlich war und NULL als Supervisor begleitete.

Das „Original“ liegt heute in einem Ordner auf einer meiner Festplatten. Ich sollte ihm einen Rohling antun und eine CD davon brennen. Für ein Museum, das keinen interessiert. Damals aber, nachdem die Programmierung fertig war, die Website darauf wartete, live gestellt zu werden, und auch die Pressemitteilungen verschickt waren, stand uns in jenem sehr langen Moment, in dem nichts geschah, der Sinn gar nicht nach Museum. Bis kurz vor Weihnachten der erste Text Burkhard Spinnens eintraf.

 

Von: Thomas Hettche
Datum: Die, 22. Dez 1998 17:57 Uhr

Lieber Burkhard,

Dank für den schönen Text! Und frohe Feste. Nur eines erklär mir doch bitte noch bis zum 28. Nämlich wie Du das „einschliefen“ in Deinem Text meinst: „…anbrechende 3. Jahrtausend will einschliefen sehen als angetan mit dem Ornamentum einer Geburt im Jahre der dreifachen  0.“
Gruß T.

 

Von: Burkhard Spinnen
Datum: Don, 24. Dez 1998 0:48 Uhr

Lieber Thomas,
EINSCHLIEFEN: das gibt es. Es stammt aus der Jägersprache und meint im speziellen das Eindringen kleiner Jagdhunde in unterirdische Bauten mittelgroßer Räuber, also etwa das Eindringen eines Teckels (Dachshund oder Dackel) in einen Dachsbau. Es ist ein altes Wort, auch für mich, der ich es wohl im Alter von ca. 8 in meinen Vorbereitungsbüchern las. Den Büchern, die mich auf Besitz und Aufzucht eines Dackels vorbereiten sollten. (Was ein ander‘ Thema wär‘.) Ich hab’s immer gemocht, das Wocht. Und später auch gut verstanden, daß ein „Schlieferl“ (österr.) ein Schmeichler sei ( also einer, der dackelgleich in was Enges hineinschlüpft).
Wenn Du glaubst, daß es keiner versteht, setz‘ halt was neutrales hin. Oder was anderes mit fieser Tendenz. Hast mein Permesso grande.
Und hast, nein habt meine Besten Wünsche Zum Fest.
Meine: Spinnens!

 

Von: Jana Hensel
Datum: Don, 24. Dez 1998 12:05 Uhr

thomas,

wenn es das ganze jahr so lehrreich weitergeht, ersparen wir uns ja jeden volkshochschulkurs! wunderbar, so lassen wir das wort einschliefen und legen darauf einen link zur mail von spinnen, und zum nächsten fest wünsche ich mir endlich mal ein dackelaufzugsbuch – it’s time
frohe tage
jana

 

Jana Hensel, Herausgeberin der Literaturzeitschrift EDIT, hatte sich bereit erklärt, mit mir gemeinsam die Redaktion von NULL zu übernehmen, was hieß, die Texte, die per Mail ankamen, zu redigieren und in die HTML-Formulare einzusetzen, Links anzubringen und Formatierungen, den Index zu aktualisieren und die „Sternenkarte“ – das Inhaltsverzeichnis von NULL – immer wieder durch neue Sterne und Sternbilder zu ergänzen. Außerdem war abgesprochen, daß manche Beiträger nicht online sein würden. So mußten Ulrich Holbeins Texte, die er per Post auf Diskette in einem sehr obskuren Dateiformat schickte, konvertiert und die Collagen von Urs Richle genauso gescannt werden wie die per Fax ankommenden Text-Graphiken Andreas Neumeisters, Jan Peter Bremers Postkarten und Johannes Jansens handschriftliche Texte. Die fertigen Seiten wurden dann an DuMont gemailt, wo der Webmaster Christian Schnieders – Ich konnte mir immer vorstellen, wie Jana Zigarette rauchend am anderen Ende der Leitung saß und versuchte, einen Weg durch das Chaos NULL zu bahnen – sie in die Seite einstellte.

 

Von: Helmut Krausser
Datum: Fre, 1. Jan 1999 11:39 Uhr

Frohsneusjahr, lieber Thomas.
Gibst Du mir nochmal die Adresse unsrer Internet- wie sagt man? – Literatur-Convention? Habe heute noch nichts gefunden.
Beste Grüße und Wünsche
Helmut Krausser

 

Kraussers Mail war die erste, die sich am 1.1. nach NULL erkundigte. Mit ihr begann neben der redaktionellen Arbeit an den Texten eine Erprobungsphase, in der alle Beteiligten lernten, mit diesem Ort im Netz und den Formen der Vernetzung, die er erforderte, umzugehen. Was sich im Zeitraffer der E-Mails beispielsweise so liest:

 

Von: Jana Hensel
Datum: Son, 10. Jan 1999 15:48 Uhr

hallo,

aus der traum, die computerkiste will nicht so, wie ich will, so war mein ganz persönliches interneterlebnis von kurzer dauer, bis auf weiteres also die alte adresse benutzen, ich gebe dann wieder so euphorisch meldung
p.s. was macht man, wenn einen sein eigenes modem nicht versteht???
jana

 

Von: Christian Schnieders
Datum: Die, 19. Jan 1999 13:22 Uhr

Hallo Herr Hettche,
es ist in einigen Mails die Frage nach einer Vergrößerung der Namen auf der Karte aufgekommen. Jetzt hat auch die Verlagleitung, nachdem sie die Seiten gesehen hat, gesagt, „das muß geändert werden“. Ist es möglich, die Namen größer zu schreiben? Das wäre wesentlich benutzerfreundlicher!!! Grüße nach Frankfurt

 

Von: Harald Taglinger
Datum: Mit, 20. Jan 1999 12:21 Uhr

Thhhhooooooooooooommmmaaaaaaaaas

zum letzten Mal:
Ich kann PICs nicht lesen. JPG oder GIF, sonst nehm ich Dir Dein Telefon weg.

 

Von: Katharina Hacker
Datum: Mit, 20. Jan 1999 19:25 Uhr

Lieber Thomas Hettche, verzeihen Sie die Komplikationen. Es ist einfach lausig schwer, in den Text „Liebesleute, die keineswegs zusammenpassen“, das Wort Leihbibliotheksbücher einzuschmuggeln. Habe aber einen zweiten Versuch unternommen (Die Wörter wieder mit ++ markiert.)
Da ich Word nicht benutze, versuche ich eine andere Version. Haben Sie mir etwas in der binären Datei geschickt? Die zu öffnen, bin ich nämlich auch nicht in der Lage. Sorry. Ich fürchte, ich weiß nicht so sehr viel mehr, als wo oben und wo unten ist beim Computer. Das aber immerhin.
Hier als Versuch ! und 2. Und Grüße, Kh.

 

Von: Harald Taglinger
Datum: Don, 4. Feb 1999 13:57 Uhr

_____Hallo,

wer um Himmels Willen hat denn den Zähler auf der Startseite von NULL veranlasst? Bitte SOFORT entfernen, das ist ja ultrapeinlich. Sind wir denn eine private Homepage?

 

Von: Jana Hensel
Datum: Fre, 26. Feb 1999 9:58 Uhr

so männer,
ich war heut schon fleißig, punkt neun stand ich vor meinem computerhändler und hab speicher gekauft, der beteuerte die ganze zeit sowas ja noch nie erlebt zu haben.
warum sind im „index.htm“ die umlaute verlorengegangen, ist das normal?
so, jetzt krempel ich die ärmel hoch und bau meinen speicher ein, vielleicht erkundigt sich ja mal jemand nach meinem wohlbefinden, später.
ciao
j.

 

Von: Harald Taglinger
Datum: Mon, 1. Mär 1999 9:10 Uhr

HI,

willkommen im Speicherland…
Jana: Es gibt keine Umlaute in „index.htm“, weil es dort auch keine Wörter gibt…meinst Du ein anderes File?

 

Von: Terézia Mora
Datum: Don, 4. Mär 1999 18:58 Uhr

Wo sind Sie?
Ich schicke jetzt mal meinen inzwischen fertigen Text an Jana Hensel. Vielleicht bekomme ich von da Antwort. Oder bin ich durch ein Loch gefallen und befinde mich inzwischen in einem völlig anderem Raum-Zeit-Gefüge und man kann mich gar nicht mehr hören?
Haaaaaallllooooo!

 

Unter der Hand wurde so die Arbeit auf ungewohnte Weise öffentlich, der Mail-Ordner zur Protokoll-Datei des Jahres und die monatlichen Editoriale in NULL zu meinem öffentlichen Tagebuch. Ab März für einige Monate in Krakau, erschienen darin meine allfälligen Schwierigkeiten, von dort aus NULL zu betreuen, ebenso wie Text-Kommentare und Reflexionen zum medialen Echo auf die Anthologie. Während die Hamburger Morgenpost, eher verwundert darüber, daß im WWW nicht plötzlich alles anders war, gleich im Januar feststellte: Wir merken: Krausser bleibt Krausser und die Basler Zeitung die Anthologie als eine Erfahrung der intimeren Art charakterisierte, befand die Badische Zeitung wenig später, es bestehe die Aussicht, daß NULL die Netzliteratur endlich aus ihren Windeln bringt, und die Abendzeitung sichtete das bislang ambitionierteste Projet im Internet und Focus gar ein Mammutprojekt der Netz-Literatur.

Eine unserer Vorgaben war, daß für ein Internet-Projekt Aufmerksamkeit außerhalb des Netzes gefunden werden muß, so lange es im WWW keine institutionalisierten Vermittler gibt, die Öffentlichkeit herstellen. Die große Resonanz auf NULL über das ganze Jahr hinweg war daher nicht nur für den Verlag wichtig, sondern verhalf der Anthologie auch im Durchschnitt zu monatlich über zweitausend Lesern. Wobei die Verschiebung der Rezeption auf interessante Weise die grundsätzliche Veränderung der Perspektive auf Netz-Literatur spiegelt. Die geläufige Annahme, Literatur im WWW werde die technischen Möglichkeiten medialen Crossovers erproben und nichtlineare Gesamtkunstwerke aus Bildern, Texten und Tönen entstehen lassen, übersah, was Leander Scholz bei einer Veranstaltung zu NULL so formierte: Unsere Synapsen sind die besseren Hyperlinks. Literatur setzt im Kopf jedes Lesers sowieso all das in Gang, was man meinte, der Technik gutschreiben zu müssen. Insofern verwundert es nicht, daß die meisten Autoren in und für NULL dasselbe taten wie stets: Erzählen.

Wenn NULL sich bei Veranstaltungen wie der Leipziger Buchmesse oder zu einer Klausurtagung der NULL-Autoren im Münchner Literaturhaus, im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg oder im Rahmen der Tagung „Tunnel über der Spree“ im Literarischen Colloquium Berlin vorstellten, war genau diese vorgebliche Konventionalität zunächst Ansatzpunkt von Kritik. Doch verlor die Fama von der experimentellen Netz-Literatur, die möglichst multimedial und interaktiv zu sein habe, zunehmend an Bedeutung. Harald Taglinger notierte in Leipzig: Die Einsicht, daß es einer Online-Avantgarde nicht bedarf. Das ist die eigentliche Zukunftsmusik. Zukunft im Web ist so lapidar wie elektrisch Licht. Angeknipste Glühbirnen. Ungeheuer. NULL ist die Abkehr vom Glauben an das Internet. So wie es keinen Glauben an Cassettenrekorder gibt. Die Welt  war es schließlich, die als Qualität von NULL ausmachte, was zunächst gänzlich netzunspezifisch erschienen war: Gerade die Vorsicht oder Skepsis, mit der Null solchen Experimenten (…) begegnet, macht das Projekt allerdings interessant. Denn es dürfte wahrscheinlich sein, daß die Produktion von Online-Literatur wesentlich subtileren Einflüssen unterliegt als reine Formalien vermuten lassen. Das Internet erzeugt neue Formen von Öffentlichkeit und simultaner Teilhabe am globalen Weltgeschehen, die fast zwangsläufig in eine veränderte Ästhetik münden werden. Symptom für die entsprechende Veränderung war in NULL folgende Mail Thomas Meineckes:

 

Von:Thomas Meinecke
Datum: Son, 21. Mär 1999 20:49 Uhr:

Hallo Jana, hallo Thomas,

dies hier ist kein Kunstwerk, sondern ein Brieflein an Euch. Der Text von neulich dagegen sollte schon so ins NULL.

 

Daß wir Meineckes Text nicht als literarischen Beitrag zu NULL gelesen hatten, zeigt genau an, auf welche Weise sich die Aufmerksamkeit für Texte im Netz unbemerkt verschoben hatte. Und diese Veränderung wurde schnell registriert. Noch vor kurzem, schrieb der Freitag, gruselten sich alle vor den virtuellen Welten. Heute regiert statt ideologiekritischer Bedenkenträgerei euphorisches Netzgeschnatter das worldwideweb. Die schnelle und direkte Teilhabe am Leben des lebenden Autors wurde zum medialen Ereignis: Zugang zu seinem Schreibtisch haben nun auch die Leser, schrieb etwa der Spiegel. Sie nehmen Einblick in sein Arbeiten, in sein Leben. Nie zuvor waren sie so dicht am Dichter wie heute. Und die Süddeutsche Zeitung interessierte sich in NULL natürlich ganz besonders für jene Notizen, in denen Helmut Krausser bekennt, er würde gern mal Dagmar Leupold küssen. Kein Zufall – wenn auch eine Verwechslung –, daß Petra fand, NULL sei in seinen besten Momenten eine Art literarische Talkshow. Zwar fanden die Talkshows andernorts im Netz statt, doch öffneten sich auch viele der Autoren in NULL den neuen Formen literarischer Öffentlichkeit.

Anlaß war auch dafür der Beginn des Bombardements im Kosovo. Plötzlich stand NULL im Zeichen einer heftigen Debatte über den Krieg. Wie die Zeitlupenaufnahme einer Explosion breitete sich das gleichnamige Sternbild Woche für Woche weiter aus. Initiiert und mit der Sprengkraft sehr direkten Austausches versehen von Helmut Krausser und Thomas Meinecke, zeigte gerade diese Diskussion, wie in NULL ein Geflecht literarischer Texte von Brigitte Oleschinski, Joachim Helfer oder Julia Franck die direkte politische Konfrontation kommentierte und ästhetisch einsponn, während zugleich in der Newsgroup der NULL-Autoren heftig gestritten wurde:

Joachim Helfer aus Hamburg am 9.6.99: Liebe Julia Franck, (…) das Heldentum der Autoren ist immer Maulheldentum – Auch Deines. Die Frage ist, für oder gegen was man/frau das Maul aufreißt. In Deinem Fall sind es „die Soldaten über dem Balkan“, also die NATO-Piloten, und das Heulen der Kriegssirenen, also die Vorwarnung bei Luftangriffen. Nicht Anlaß Deines Maulheldentums sind hingegen die Soldaten auf dem Balkan und das Heulen der Kinder, die dabei zusehen mußten, wie ihre Mütter vergewaltigt, ihre Väter hingerichtet, ihre Häuser niedergebrannt wurden.

Julia Franck aus Berlin am 11.6.99: Lieber Joachim, (…) ich werde nicht den Fleiß beweisen, Deine Sätze zu demontieren, da sie ganz offensichtlich wenig mit meinen Beiträgen zu tun haben und ich gegen das Denken in Polaritäten (Mann – Frau gehört dazu) nicht nur ausdrücklich, sondern auch absichtlich polemisiere.

Thomas Hettche aus Frankfurt/Main am 12.6.99: Rukedigu-Blut ist im Schuh. (…) Gespenstisch, wie sich in NULL die Polarisierung en miniature wiederholte mit allen Ritualen der Gegnerschaft, wie wir sie in diesem Krieg auch verfolgen konnten. Darauf bezieht sich meiner Lektüre nach der Text Julia Francks und zwar für mich auf eine hochinteressante Weise.

Joachim Helfer aus Hamburg am 13.6.99: Lieber Thomas. (…) Wenn du meinen Beitrag genau gelesen hast, wird dir aufgefallen sein, daß sich meine scharfe Kritik an Julias Text (…) gerade nicht an ihrem behaupteten Versuch entzündet, eine Position außerhalb der Polarisierung zu beziehen. Ich hielte einen solchen Versuch im Angesicht des Völkermords zwar für absurd, sogar für verwerflich, aber ich könnte sachlicher damit umgehen. Was mich wütend machte und macht, ist, daß sie in der Geste der Überparteilichkeit Partei ergreift: Denn sonst würde sie ja eben nicht ausschließlich von den Soldaten ÜBER dem Balkan und dem Heulen der Luftkriegssirenen geschrieben haben, sondern vielleicht eine Silbe über die Soldaten auf dem Balkan und das Heulen ihrer Opfer verloren haben.

Steffen Kopetzky aus Baden-Baden am 16.6.99: Zum Ganzen eine Bemerkung. NICHT NUR ZU JOACHIM GESPROCHEN. „Die Händel an den Grenzen werden unlösbar, weil die Grenzen ihren Sinn verloren haben.“ (Ernst Jünger in „Minima Maxima) (…) Eure Debatte ist (oder war) sinnlos, weil euer ‘Thema’ eine Fiktion ist. Fiktionen sind Setzungen – Von außen, von oben. (…) Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe (als Schriftsteller), irgendetwas zu klären, sondern die Sachen komplizierter zu machen – weil sie in der Tat kompliziert sind, viel komplizierter, als man es ohnedies sagen kann. (…) Alles rast ins Präsens. Alle wollen von allen irgendeine Antwort zu allem, Hauptsache schnell, möglichst schneller als die anderen. (…) Wer schreibt den ersten Roman über die Deutsche Einheit? Lewinsky, den Kosovo?

Julia Franck aus Berlin am 21.6.99: (…) Übrigens behandelte mein Beitrag den Krieg bewußt am Rande, als ein aktuelles Ereignis, das mein Thema Sirenen, Odysseus und das Schweigen berührt. (…) Ich spreche bei den Helden eben nicht ausschließlich von Autoren, von „euch“ und von „Männern“. Ich spreche von Helden, von denjenigen, die im Krieg eine Gelegenheit wittern, von „wir Sklaven“ gleichermaßen wie von „wir Helden“ und auch von den Sirenen. Daß deren Schweigen ebenso bösartig sein kann, wie die Abenteuerlust der Helden.

Leander Scholz aus Bonn am 1.8.99: (…)  Andererseits finde ich die Debatte ueber die Debatte deswegen so wichtig, weil man auch mal der Frage nachgehen muss, was es bedeutet zu polarisieren, was ja seit dem „Ende der Ideologien“ ziemlich unkorrekt ist. Polarisieren ist ja so etwas wie eine absichtliche Ungerechtigkeit und kann auch deshalb sehr fruchtbar sein. Es ist eine Wut, ein Zorn, die man den anderen zumutet. Und da wuerde ich Joachim gerne recht geben, dass ja neben diesem Zorn, der sich natuerlich selbst ermaechtig, auch ganz nuechtern und ohne Aufregung argumentiert wurde. (…) Die Frage ist doch, wie man Polarisierungen Mann/Frau, Freund/Feind, Vernunft/Gefuehl, Held/Schweigen so einsetzt, dass sie fruchtbar werden. Ohne solche leitenden Unterscheidung ist es ja sehr schwer, einer Debatte gemeinsame Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht gehts auch anders, wie das Helene Cixous ja versucht hat…

Mirko Bonné aus Hamburg am 5.8.99: Der Schlaf des Monsters. Ein lesenswertes Interview zum Thema mit dem jugoslawisch-französischen Zeichner und Filmer Enki Bilal findet sich unter: www.comic.de/_spotlight.html.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt entwickelte NULL die Dynamik einer schnell getakteten Zeitschrift, die das Problem aller Anthologien, stets Text neben Text zu beerdigen, dadurch umging, daß die Beiträger selbst immer – und vielleicht sogar vor allem – auch Leser waren, wie es Dagmar Leupold einmal formulierte. Zwar beeinflußten die Geschichten einander nicht so direkt, wie ich es mir vorgestellt hatte, Motive wurden nur selten aufgenommen und weitergesponnen, gleichwohl aber entstand doch ein Textgespinst, das sich nun mit einem Mal als hochkomplexes Dokument und Portrait der jüngeren deutschsprachigen Literatur dieses Jahres entpuppt. Folgt man dem Stern, so zeigen die Beiträge zu NULL außer ihrer Individualität auch, was Internet-Literatur so einzigartig macht: Miteinander verbunden, verweisen die einzelnen Texte aufeinander, geben dem Leser Gelegenheit, von Gedanken zu Gedanken zu springen, laden zur Abschweifung ein. Und die FAZ resümierte: Als Veröffentlichungsort etablierter Autoren ist NULL die große Ausnahme im Netz.

Die »Sternennacht«, schrieb Christian Schnieders einmal, habe ihn bei NULL am meisten beeindruckt. Und tatsächlich gibt die Vielfalt der Sternbilder, mit denen der Himmel sich immer mehr füllte, nicht nur das genannte Textgespinst wider, sondern ebenso die wechselnden ästhetischen Alliancen der Autoren in dem Spiel, das NULL auch war. Während nur Alban Nikolai Herbst und Zoë Jenny ihre Mitarbeit bald wieder einstellten, kamen im Laufe des Jahres immer wieder neue Mitspieler, wie zuletzt noch Aris Fioretis, hinzu. Und in der Vielfalt der Stimmen ist NULL schließlich auch Ausdruck einer Auseinandersetzung mit dem neuen Medium geworden. Nur vollzieht sich die Veränderung der literarischen Formen in ihm naturgemäß sehr viel langsamer, als die Apologeten der Netzes dies annahmen, und weit unterhalb thematischer Reizschwellen. Man kann beobachten, daß die Texte in NULL im Laufe der Zeit kürzer wurden und etwas seltsam Anfangloses bekamen. Autoren, die sonst kaum etwas Unredigiertes aus der Hand geben würden, ließen sich sichtlich auf die Verführung zur Privatheit ein, die der Bildschirm und die flüchtigen Buchstaben im glimmenden Licht noch immer darstellen. Ohne daß die Ergebnisse dabei unfertig in einem herkömmlichen Sinne wären, sind sie doch oftmals weitmaschiger, flexibler, reaktionsfähiger. Und sollte man darüber spekulieren, was solche Veränderungen in Duktus und Form bedeuten, ließe sich vielleicht sagen, daß Literatur längst beginnt, die liquide Aura eines Mediums für sich zu nutzen, das keine auratische Gestalt mehr zuläßt.

November 1999. Eine Autofahrt durch Frankfurt mit Thomas. Die Frage, wie sich NULL abschließt. Nicken, als ich die technischen Wörter benutze. Ein berechtigter Einwurf aus Gründen der Interface Usability. Das Netz ist angekommen. Ich lehne mich zurück und schaue mir die rechte Fahrspur an, notiert Harald Taglinger nach dem letzten unserer unzähligen Gespräche über NULL. Ich weiß noch nicht, ob ich mich und mein eigenes Schreiben aus diesem Netz werde wieder befreien müssen, daß mich in diesem Jahr scheinbar fest in veränderten ästhetischen Koordinaten verzurrt hat. Literatur, das weiß ich nun und dafür danke ich allen Autoren von NULL, wird sich nicht an Geplapper verschenken. Aber für allzu große Anhänglichkeit an tradierte Formen ist andererseits die Neugier der Literatur sicherlich viel zu groß. Und ihr Vertrauen in die Magie der Wörter.

 

Von: Stefan Beuse
Datum: Fre, 17. Dez 1999 13:01 Uhr

Lieber Thomas, hier kommt noch ein letzter Text. Eine wahre Geschichte.

Hat Spaß gemacht, und ich freu mich auf das NULL-Buch.
Alles Gute für Dich,
Stefan Beuse.

 

Und während noch die letzten Beiträge eintreffen und Jana Hensel schon beginnt, aus dem verzweigten Tableau der über zweihundertfünfzig HTML-Dokumente und GIFs den linearen Text dieses Buches zusammenzusetzen, das bis auf vier Ausnahmen, in denen Autoren einen Beitrag für den Druck zurückzogen oder an Bildvorlagen nicht mehr zu gelangen war, alles enthält, was im Netz erschien und damit möglichst viel von dem Gespinst, das NULL ausmachte. Und während ich schreibe, daß ich zu Beginn nicht habe glauben können, daß es einmal vorüber sein würde, vollendet sich tatsächlich eine Vergangenheit.

Süddeutsche Zeitung / 6.7.2000

Nullspiele.

Historie aus dem Jahr 1999: Schreib-Experimente im Netz.

Von Hans-Peter Kunisch.

 

Mehr als 400 Seiten in nicht aufgeschnittenen, nicht gebundenen Papier-Bögen: ein „Buch“, sicher, aber eigentlich ist dieses auseinander fallende Ding nur auf dem Weg dorthin. Gelassen setzt es auf eine Ästhetik, die altertümlich wirkt, aber im Grunde noch nie da war. Gleichzeitig liest man in diesem formalen Experiment eine politische Diskussion noch einmal, deren Schärfe und Variantenreichtum jene der altgedienten deutschen Öffentlichkeit zum selben Thema übertraf….

 


Frankfurter Rundschau / 06.5.2000

Die Nuller-Konjunktur.

„Literatur im Netz“: Thomas Hettches Anthologie, Generationenpakete und anderweitige Phänomene.

Von Eberhard Falcke.

 

”Die Gegenwart IST Science Fiction geworden. … Wir müssen uns nichts mehr ausdenken, wir müssen vielmehr konstatieren.” Schreibt Helmut Krausser. Im Internet. Und Dagmar Leupold: „Schweiß floss in Strömen aus literarisch erhitzten Poren und aus Überzeugung.” Woraus zu ersehen ist, dass der Gebrauch des neuen Mediums von den verschiedensten Sensationen begleitet sein kann, immateriellen so gut wie materiellen. Da ist in jedem Sinn des Wortes alles drin. Sabine Scholl zitiert passend dazu den Begriff „Gesamtdatenwerk” und die Feststellung einer „für die Netzkunst- und -literatur konstitutiven Verknüpfung von Technik, Ästhetik und Sozialem”.

Sie sind also angekommen: die deutschsprachigen Schriftsteller im Internet – jedenfalls eine halbwegs repräsentative Anzahl von den Jüngeren und von jenen, die bei solchen Modernisierungsbemühungen einfach gern dabei sind. Aufregend war das Debüt offenbar für alle Beteiligten, die Produzenten und auch die Rezipienten, die sich am Computer durch die wuchernden Textgespinste klicken konnten und können.

1999 war das Jahr der ersten großen Autorentreffen im virtuellen Raum, nachdem im Jahr zuvor schon Rainald Goetz mit seinem beachtlichen Alleingang als Netztagebuchschreiber das Terrain erprobt hatte. Gleich mehrere Animateure riefen im vergangenen Jahr ihre Kollegenschar zur elektronisch vermittelten Begegnung auf. Die drei wichtigsten Treffpunkte dieser Art sind das von Norbert Niemann und Heiner Link initiierte Forum der Dreizehn, die von Elke Naters und Sven Lager gegründete Website ampool und schließlich das Projekt NULL, das inzwischen abgeschlossen und so bereits Geschichte ist. Begründet wurde NULL vom DuMont Buchverlag, der damit gleich drei Akzente setzte: Er betonte als Neuling in der Verlagslandschaft seine Zuständigkeit für die neuesten Entwicklungen; er hängte sich an die Nuller-Konjunktur des vergangenen Jahres an, indem er den Autoren das runde Datum als Schreibanlass nahe legte; vor allem aber lieferte er damit der grassierenden Aufbruchstimmung, Selbstdarstellungsund Diskussionslust in der deutschen Literaturszene ein Forum, so wie die anderen Netzadressen auch. 37 Autoren haben für NULL Beiträge geliefert, darunter Matthias Altenburg, Marcel Beyer, Ulrike Draesner, Julia Franck, Ulrich Holbein, Steffen Kopetzky, Terézia Mora, Andreas Neumeister, Brigitte Oleschinski und Burkhard Spinnen.

„Vielleicht wird eine Spur gelegt werden, die aus diesem letzten Jahrtausendjahr ins Kommende führt. Und zwar entlang von Texten der Autoren jener Generation, für die erstmals die Rituale des Bleistifts nicht mehr gelten.” Schreibt Thomas Hettche als Herausgeber dieser Stimmensammlung, der das Unternehmen nicht nur monatlich mit einem Editorial begleitete, sondern außerdem als Headhunter, Lektor und Moderator. Weil das Projekt seit dem 31. Dezember beendet ist, und nur noch als erstarrtes Denkmal seiner selbst im Netz steht, hat Thomas Hettche . zusammen mit Jana Hensel nun eine Dokumentation des Ganzen – „wie im Katalog einer Ausstellung” – als Buch editiert: Null. Literatur im Netz. Womit die Autorenworte auch wieder aus den Weiten des WWW auf archivarisch sicheres Terrain gerettet wären.

Und die Literatur? Wie ist es ihr da draußen ergangen? Eigentlich eher wie drinnen. Denn jeder Buchtext ist mehr von einem kühlen Klima der Fremde und Anonymität umgeben als diese poetischen, erzählerischen oder oftmals postalischen und performativen Netz-Äußerungen. Die nehmen sich viel eher aus wie drinnen in einem Innenraum der internen Autoren-Kommunikation, nur dass der hier eben nicht als Kaffeehaus oder Tagungsort in Erscheinung tritt, sondern als eine Art von computergestütztem Internet-Workshop.

Daher lässt sich die Frage nach literarischen Qualitäten nur fallweise diskutieren und nur in dem Bewusstsein, dass es interessantere Aspekte gibt als diesen. Auch die Frage nach netzspezifischen, multimedialen Formfindungen führt nicht viel weiter als zu einigen handschriftlichen und (foto-)grafischen Beiträgen. Das wurde schon vielfach bemerkt und drinnen wie draußen kontrovers diskutiert. „Tut uns Leid: NULL ist das, was es sein will – ein Ort für gute Texte im Netz.”

Konterte Thomas Hettche und erwies sich damit auf jener Höhe der Zeit, wo für Manager, Politiker und sonstige Anführer gilt: dass Theorie, Programm und Reklame gefälligst ein und dasselbe zu sein haben.

Darum kann es dann für Einsichtsvermögen sehr wohltuend sein, wenn am Ende des Projektes ein paar von den anfangs ganz groß hingepinselten Slogans verblichen sind. Siehe Hettche, im fortgeschrittenen Stadium: ”Erkennbar ist bisher lediglich die Auflösung der gegebenen literarischen Standards.” So wird die Lage wieder etwas übersichtlicher und der Bezug zwischen Plan und Ergebnis erkennbarer. Schließlich entwickeln sich die Formen und Schreibweisen literarischer Netzproduktion erst in der medialen Praxis, und die ist ja – trotz NULL –noch sehr kurz.

Was jedoch nicht heißt, dass die Äußerungslust der Autoren von zaghaften Stockungen oder konzeptionellen Anstrengungen belastet würde. Ganz im Gegenteil. Viele Texte sind extrem locker formuliert, spontan oder ersichtlich aus momentanen Situationen entstanden. Bei dem heftigen Streit zwischen Thomas Meinecke, Helmut Krausser und Joachim Helfer über die Bombardierung Jugoslawiens geht es mit geschliffenen Argumentationen, hitzigen Polemiken und persönlichen Ehrabschneidereien munter drunter und drüber. Andere wieder halten sich völlig fern von solchen rhetorischen Salongefechten, schreiben wie Jan Peter Bremer in antiquierter Manier Postkarten an Thomas Hettche aus einem fernen Jahrtausend oder verfolgen völlig unbeirrt ihre erzählerischen Pfade. Beispiele dafür sind Ulrike Draesners Reisenotizen aus Japan, Katharina Hackers subjektive Erlebnisprosa oder Kathrin Schmidts surreal-skurrile Jahrhundertwendemärchen. Kurzum: Es gibt vieles und viel Verschiedenes. Und was sollte auch anders entstehen aus solch einer für-, mit-, gegeneinander und aneinander vorbeischreibenden Autorenversammlung.

Die Ästhetik wandelt sich, gewiss, aber nur allmählich. Die Technik beschränkt sich noch auf den Versand von E-Mails durch die Autoren und die hübsche Vernetzung der Dokumente durch den NULL-Programmierer Harald Taglinger. Und das Soziale?