Sinkende Sterne.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023Wie der Wind losbrach und an mir zerrte, als ich aus dem Auto stieg. Wütend fuhr er mir ins Gesicht, dass mir die Luft wegblieb, beißend kalt tobte er um mich her wie eine Hundemeute, die et was bewachte, von dem ich nicht wusste, was es war. Wie die dürren, langen Äste der Lärchen dumpf an einanderkrachten und sich brausend schüttelten. Ich fürchtete mich, als wäre ich wieder das Kind, das ich hier gewesen bin, und beeilte mich, durch die Schnee reste die Treppe hinab zum Haus zu kommen, wäh rend der Wind über mich hinwegfauchte. Er kam über den Berg und fegte über das Dach, fing sich in den Mauerecken, griff in die geschlossenen Läden, die klapperten und in ihren Scharnieren quietschten, und verebbte mit hohlem Seufzen in der Türlaibung, in die ich mich hineinpresste, um ihm zu entgehen. Als ich wieder zu Atem gekommen war, wagte ich einen Blick hinab ins Tal. Noch glomm der Himmel rot über dem Scherenschnitt der fernen Gipfelkette im Westen, doch schon verschwand der stumpfe Stein im Dun kel der anbrechenden Nacht. Nur das Weisshorn, auf dem der Schnee niemals schmilzt, zog das letzte Licht gespenstisch an und leuchtete fahl herüber, als gäbe es dort oben, auf seinem Gipfel, einen anderen Tag.
Spinnen hatten ihre Netze in den Türsturz gewebt, zusammengebackener goldgelber Flor aus Lärchenna deln im windstillen Schatten der Schwelle. Ich schloss die Augen. Im Wagen, wusste ich, tickte noch der heiße Motor von der Fahrt herauf, doch er würde lei ser werden und kalt und schließlich verstummen, und dann würde es sein, als hätte der Wagen immer schon hier gestanden, auf diesem Parkplatz am Rande des Lärchenwaldes hoch über dem Tal der Rhone. Erst ein halbes Jahrhundert ist es her, dass man die Straße in die Bergflanke gesprengt hat, mal schmaler, mal breiter, mit Ausweichstellen und Serpentinen und Brücken, von der Stadt im Talgrund ins Dorf herauf und weiter bis hierher zu dem Maiensäß auf tausendfünfhundert Meter. In einer sanften Kurve legt sie sich um den Hü gel, hinter dem sich die kleine Schar Häuser vor den Ostwinden verbirgt, und endet auf dem Parkplatz vor einer Phalanx von einem halben Dutzend verrosteter Garagentore. Daneben ein Gebäude aus Sichtbeton mit Rampen und Treppen aus feuerverzinkten Stahl gittern, auf dem Dach die durchhängenden Kabel einer Seilbahn, die in den Wald hinein verschwinden. Ihr Betrieb wurde schon kurz nach der Eröffnung in den siebziger Jahren als unrentabel wieder eingestellt, und nur zwei der Chalets hat man tatsächlich gebaut, die sich auf jenem bunten Prospekt des Architektur büros über den ganzen Hang verteilt hatten, der meine Eltern damals dazu bewog, eines davon zu kaufen. Auf gewachsen bin ich in der westdeutschen Provinz, aber als Kind habe ich alle Ferien hier verbracht.
Ich strich über das Lederläppchen, das der Vater eines Tages über das Schloss genagelt hatte, ich stand als Knabe dabei. Jetzt klappte ich es hoch, und es brach mürbe um die verrosteten Nägelchen herum ab. Das ist der Beweis, dachte ich. Beweis wofür? Dass es mich gibt? Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss, das tatsächlich nicht verstopft war und sich schließen ließ, als wäre ich nur kurz weggewesen und nun wieder zurück. Noch einmal hielt der Vater die Zeit an, wie er es für mich als Kind immer getan hatte. Doch die Tür klemmte. Wieder und wieder rüttelte ich am Türgriff, warf mich mit aller Kraft gegen das Türblatt.
Mein Rütteln setzte sich fort im Innern des Hauses, lief eilig durch die lange verlassenen Räume, verteilte sich im dunklen Flur und in den beiden Schlafzimmern, im Muff der Daunendecken auf den alten Matratzen und den vergessenen Playmobiltieren in meinem Kinderzimmer, ein Löwe, eine Giraffe, ein Bär, im Bad an der Nordseite des Hauses, zwei grüne Waschbecken an der bis zur Decke ebenso grün ge kachelten Wand, runde Spiegel über den Becken und Lampen aus Rauchglas, die Zahnputzgläser in ver chromten Wandhalterungen darunter und der ebenso verchromte Dorn für den kleinen Magneten, den die Mutter immer nach unserer Ankunft fast als Erstes in das neue Seifenstück gebohrt hatte. Auf der Ablage Vaters Nassrasierer, angetrocknete Bartstoppeln noch zwischen den Klingen. Als Kind hatte ich ihm gern beim Rasieren zugesehen, irgendwie entblößt stand er da in seinem Feinrippunterhemd vor dem Spiegel, den weißen Schaum auf den Wangen, und wie er den Ra sierer über die Haut führte und immer wieder unter dem laufenden heißen Wasser abspülte. Lange hatte ein letzter Tropfen am Wasserhahn gehangen in dem verlassenen, unendlich stillen Haus, unentschieden, ob er fallen solle oder nicht, bis er verdunstet war.
Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, dass auch in diesem Neubau alles ihrer Vorstellung eines Schweizer Chalets entsprach, die Decken holzgetäfelt und von Zierbalken überspannt, breite Dielen und ein offener Kamin, eine Kommode mit Bauernmalerei, um den rustikalen Esstisch Stühle mit herzförmigen Ausschnitten in den Lehnen und eine Lampe mit rot kariertem Stoffschirm darüber. An den Wänden längst farbstichig gewordene Fotos von Murmeltieren, vom Weisshorn und der Bella Tola. Ich warf mich gegen die Tür, und das Wummern drang bis in die dunklen Ecken hinter den Möbeln, wo die Chitinpanzer un zähliger Generationen von Insekten den Fußboden bedeckten. Der Staub auf dem Tisch, auf den Stühlen. Der eisige Stein des schon ewig ausgekühlten Kamins. Auf der Anrichte das glimmende blaue Kristallglas des schweren Aschenbechers. Wenn es sonnig war, huschte seit Jahr und Tag ein Lichtstreifen unter den Läden des großen Südfensters herein und wischte über den Boden hin wie das lautlose Pendel einer unsichtbaren Uhr.
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Wie früher mit den Eltern hatte ich die A5 nach Süden genommen, die Grenze in Basel über quert, hatte Bern passiert und die Autobahn schließlich bei Spiez verlassen, linkerhand der Thunersee, war ins Kandertal hinaufgefahren und dann auf dem offenen Pritschenwagen des Autozuges durch den Lötschberg transportiert worden, der den Kanton Bern vom Kanton Wallis trennt. In meiner Kindheit habe ich diese Fahrt geliebt, und der Gedanke an sie ist so etwas wie mein Einschlaflied gewesen, das mich bei jeder Gelegenheit beruhigte, in meinen kindlichen Verzweiflungen und auch später immer dann, wenn ich mir vorstellte, vor irgendetwas in meinem Leben fliehen zu müssen und wieder wie als Kind im völligen, Dunkel des Berges zu verschwinden, durchgerüttelt auf den alten Schienen, während vor den Autofen stern der nackte Fels vorüberhuscht, dessen Konturen nicht mehr sind als ein Glimmen im Schwarz. Die Zeit scheint in diesem Rasen lange nicht zu vergehen, bis endlich die Helligkeit des Tunnelausgangs zunächst einen zähen Moment lang nur zu ahnen ist, nichts als eine Empfindung von Helligkeit, die sich dann bestä tigt, einen leuchtenden Punkt im Schwarz setzt, in den der Zug sich hineinzustürzen beginnt, bis das Licht von der anderen Seite des Berges den Stollen schließ lich ganz erhellt und man wieder hinausfährt in den Tag.
Aber diesmal war alles anders. In vorsichtigem Schrittempo fuhr der Zug in eine Art Stahlkäfig hinein, und während noch die Bremsen quietschten, hörte ich polternde Stiefel auf den Pritschen, dann tauchte ein Soldat neben dem Seitenfenster auf, seine große Stabtaschenlampe tastete den Innenraum des Wagens ab und verharrte schließlich mit blendendem Licht einen Moment auf meinem Gesicht. Mit einer knappen Geste bedeutete der Uniformierte, die Scheibe zu öff nen. Wie ich sicher wisse, sei die Einreise ins Wallis reglementiert, erklärte er, und ich beeilte mich, ihm meinen Ausweis und den Brief hinauszureichen, den ich vor zwei Wochen erhalten hatte. Der Soldat las ihn mit steinerner Miene, nickte mir dann zu und lief grußlos weiter. Er arbeitete sich den ganzen Zug ent lang, drei andere Soldaten, Maschinenpistolen im An schlag, folgten ihm dabei.
Ich atmete tief durch, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, aus dem Käfig hinausfuhr und den Bahnhof Goppenstein erreichte, unter dessen aufwen digen Betonsubstruktionen aus Pfeilern und Rampen für Gleise und Zufahrten sich im Sommer ein Flüsschen bergab stürzt, und die im Winter unter meter hohem Schnee verschwinden. Wie immer fuhren die Wagen im Schrittempo von den Pritschen herunter, doch die Glasfront des Kiosks mit den öffentlichen Toiletten war bis auf schmale Sichtschlitze zugemauert, und die bunten Reklameschilder für Eis und Snacks waren verschwunden, mitten auf dem Rangierplatz ein auffälliger Soldat, ein muskulöser Hüne mit rotem Barett, der etwas von einem Landsknecht hatte, breit beinig und unbeweglich, die Hände in die Hüften gestützt. Über ihm flatterte die rotweiße Walliser Fahne mit den dreizehn Sternen an einem Mast, den man in den Asphalt gesetzt hatte. Mit ungeduldigem Winken forderte er mich zum Weiterfahren auf, und ich beeilte mich, der Aufforderung Folge zu leisten.
Irgendwann, als ich Serpentine für Serpentine die steile Straße ins Tal hinabfuhr, erspähte ich dann weit unten zum ersten Mal den See. Langsam rückte er immer näher. Alles, was ich über das Unglück ge lesen hatte, ging mir dabei durch den Kopf, und ich spürte meine zunehmende Beklemmung. Kurz über dem Örtchen Steg endet die Straße einfach im Wasser, verschwindet hinab in den Ort, den es nun nicht mehr gibt. Die Wagen stauten sich auf einem improvisierten Parkplatz, Soldaten wiesen uns ein, ich stieg aus. Offenbar warteten wir auf eine Fähre. Ich sah einen stählernen Ponton, der in den See hineinragte, dahin ter die Dachhaube des Kirchturms im düsteren Was ser, das grau und milchig unter tiefen Wolken an das schwappte, was nun sein Ufer ist, und konnte nicht aufhören, in dieses kalte Grau zu starren, erst das Hu pen der anderen Wagen riss mich aus meinen Gedanken.
Der See war auch das Erste, woran ich denken musste, als ich am nächsten Morgen erwachte, unendlich beruhigend stieg das alte Aroma meines Kinder zimmers aus der Bettwäsche, die so lange unberührt im Schrank gelegen und in die ich mich am Abend ver krochen hatte. Ich warf die schwere Daunendecke von mir und tappte nackt durch das Haus. Es war noch eiskalt vom Winter in den seit Jahren ungeheizten Räu men, aber durch die große Schiebetür im Wohnzim mer kam die Sonne herein, vor Kälte zitternd öffnete ich sie, trat hinaus auf den Balkon und stellte mich in das wärmende Licht. Der Himmel war strahlend blau, die Luft windstill, vom Sturm des gestrigen Abends nichts mehr zu spüren. Der Frühling kam, doch auf den Gipfeln ringsum, bis hinab zur Baumgrenze, lag noch blendender Schnee. Darunter das breite, südli che Tal, in das ich hinabsah wie in eine Spielzeugwelt. Der mäandernde Fluss und die Dörfer, die Straßen zwischen ihnen, die Aprikosenplantagen, an den Hängen der Wein, darüber der Lärchenwald, der im Herbst golden wird. Wie als Kind suchte ich rhoneabwärts die beiden Burghügel von Sion, die Hoteltürme und Lift anlagen von CransMontana und ahnte in der Ferne Martigny, wo einst die römische Legion der Provinz Vallis Poenina stand. Dort führt der Weg zum Großen Sankt Bernhard hinauf und über den Pass nach Italien.
Und talaufwärts der See. Ich versuchte mich an die Berichte über den Bergsturz zu erinnern, an die Bil der, die durch die Medien gegangen waren, von dem verheerenden Murgang, durch den das ganze Tal blok kiert worden war. Ich hatte die Katastrophe kaum zur Kenntnis genommen und mir nicht einmal das genaue Datum gemerkt. Die Rhone hatte sich wohl in Win deseile aufgestaut, ein halbes Dutzend Dörfer war im Wasser versunken, der Lötschbergtunnel geflutet wor den, es hatte Tote gegeben. Und nun glitzerte der See, der dabei entstanden war, dort unten in der Sonne, als wäre er immer schon dort, die Kantonalstraße nur noch eine Erinnerung, die Weiler Gampinen und Agarn ver schwunden. Das Wasser leckte den Schwemmkegel am Illgraben hinauf bis gen Feithieren und Pletschen, und irgendwo bei Leuk, direkt unter mir und deshalb nicht zu sehen, endete wohl die Wasserfläche, deren bedroh liche Gleichgültigkeit machte, dass ich nicht aufhören konnte hinabzustarren. Ein Falke tauchte auf und be gann in weiten Schwüngen über dem Tal zu kreisen. Und als ich mich frierend endlich von seinem Anblick losmachte und wieder hineinging ins Haus, stand mir im Glas der Schiebetür plötzlich mein Spiegelbild ge genüber. Mitleidig betrachtete ich mein weißes Fleisch, meine weiche Brust und wie mein Bauch sich über mein Geschlecht wölbte, und wusste, es hätte mich weniger überrascht, wäre statt meiner tatsächlichen Gestalt die jenes Jungen im Glas aufgetaucht, der ich hier einmal gewesen bin.
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Alles war wie immer, und doch hatte sich offensichtlich etwas grundlegend verändert. Die Soldaten mit den Maschinenpistolen, der Stahlkäfig, der Landsknecht mit dem roten Barett unter der Walliser Fahne. Der See. Mein Telefon hatte keinen Empfang. Den ganzen Tag ging ich mit dem Blick auf das Display von Zimmer zu Zimmer, vor das Haus, auf den Parkplatz, immer wieder auf den Balkon, doch das Telefon blieb offline, und ich starrte hinab auf den See, als wäre er mit der Stille im Bunde. Schaltete das alte Küchenradio ein, doch über das ganze Frequenzband war nur Rauschen zu hören, die analogen UKWSender waren längst abgeschaltet. Einen Fernseher haben meine El tern nie besessen. Schließlich blieb ich vor dem alten Festnetztelefon stehen. Ich selbst hatte den Vertrag nach dem Tod meines Vaters gekündigt. Und doch nahm ich den orangenen Hörer mit dem Spiralkabel ab, und meine Hand erinnerte sich im selben Moment wieder daran, dass er ein wenig schwerer wird, wenn die Kontakte ganz herausgeglitten sind. Eingeholt von der Vergangenheit, presste ich gegen jede Logik die Muschel ans Ohr. Sinnlos, wie routiniert mein Zeige finger in die Löcher der Wählscheibe fasste, sie drehte, losließ und wartete, während sie mit einem klacken den Geräusch zurückschnurrte, bevor ich die nächste Nummer wählte. Die Leitung war tot.
Die Stille hatte die Farbe der Nacht und legte sich mir so kalt auf die Haut, dass es mich ängstigte. Drunten im Tal stieg jetzt das Schwarz aus dem Spiegel des unheimlichen Sees. Meretschihorn, Schwarzhorn, Rothorn, zählte ich mir die Namen der jetzt unsichtba ren Gipfel draußen vor dem Fenster auf und goss mir ein Glas von Vaters Pinot ein, von dem ich noch ein paar Flaschen gefunden hatte. Das schwarze Display des Smartphones auf dem Couchtisch zeigte dieselbe Nacht wie das große Fenster zum Balkon. Daneben lag der Brief aus Leuk, den ich vor zwei Wochen erhalten hatte. VORLADUNG prangte über dem Anschrei ben. Ich sei als deutscher Staatsbürger und Besitzer ei ner Parzelle in der Gemeinde Leuk gemäß Artikel 276 GemG–SGS/VS175.1 verpflichtet, auf dem Gemeinde amt Leuk, Rathausplatz 1, persönlich zur Einvernahme zu erscheinen. Datum und Uhrzeit. Unterzeichnet von Jesko Zen Ruffinen, Kastlan von Leuk und Bannerherr der Sieben Zenden. Immer wieder wanderte mein Blick zu dem Wappentier der Stadt im Briefkopf, dem Greifen mit dem erhobenen Schwert.
Das Schreiben war der Anlass herzukommen, aber nicht der Grund. Wenige Tage, bevor ich es im Brief kasten fand, hatte mich die Vizepräsidentin der Uni versität in ihr Büro gebeten und mir erklärt, man sehe, so leid ihr das tue, keine Perspektive mehr für mich an der Hochschule. Es sei meine Verantwortung als Leh render, einen offenen Raum zu gestalten, in dem die Studierenden konstruktiv, abwägend, mit angemes senem Ton und Sensibilität an einen Diskurs heran treten und daran teilhaben könnten. Meine Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons, mein Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen und mein sexisti scher Sprachgebrauch verunmögliche das jedoch. Es habe Proteste gegeben. Die Odyssee, versuchte ich eine hilflose Entgegnung, ich hätte ein Seminar zur Odyssee angeboten. Das Lächeln der Vizepräsidentin schwebte starr in der Luft.
Jede Kulturrevolution versteht den moralischen Terror, den sie ausübt, wie Robespierre als Ausfluss von Tugend. Ein Satz Pasolinis schoss mir durch den Kopf: Io sono una forza del passato. Was denn aus meinen Studenten werde, fragte ich. Es handle sich ja wohl, wenn sie richtig informiert sei, nur noch um einen Studie renden, entgegnete die Vizepräsidentin trocken, und damit hatte sie natürlich recht. Am Semesteranfang war nur eine Handvoll Studenten im Seminar erschie nen und nach drei Wochen lediglich Dschamīl übriggeblieben. Wir hatten weitergemacht, als wäre dasganz normal. Um ihn, einen syrischen Flüchtling, den ich für begabt hielt, tat es mir leid. Dennoch hatte ich genickt, und damit war das Gespräch beendet gewesen. Als der Brief aus Leuk kam, hatte ich ohne nachzuden ken gepackt, um die Stadt zu verlassen.
Ein kalter Wind fuhr mir ins Gesicht und unter das Hemd, als ich die Balkontür öffnete und ins Dun kel hinaustrat. Der See eine opake schwarze Fläche. Ich hielt mich an der Brüstung fest, legte den Kopf in den Nacken, suchte die Sterne über dem Haus, musste an den Falken denken, den ich am Morgen gesehen hatte, und erinnerte mich wieder daran, wie verständnislos
Tony Soprano seine Therapeutin ansieht, als sie seufzt: The falcon cannot hear the falconer. Things fall apart. The centre cannot hold. Lange habe ich nicht begriffen, dass meine Generation die letzte ist, die im amerikanischen Jahrhundert geboren wurde, dessen Ende Joan Didion in jenem Buch beschreibt, dem sie diese Verse von Yeats voranstellte. Der Falke hört den Falkner nicht. Die Dinge zerfallen. Die Mitte kann nicht halten. Das erste Mal im Kino war ich 1977, Star Wars, und als ich dreißig Jahre später, im siebten Teil, den zerstörten Sternenkreuzer aus jenem ersten Kinofilm wiedersah, begriff ich, dass dies die Trümmer meiner Jugend wa ren, die nun in einer neuen Gegenwart herumlagen. Die Ruinen einer Welt, an deren Zerstörung meine Generation Anteil hat. Wir haben Schuld an dem, was jetzt geschieht. Wie fasziniert wir waren von Lyotards Abgesang auf die großen Erzählungen. Wie begeistert wir Nietzsche zitierten, die Wahrheit sei ein Heer von Metaphern. Was uns interessierte, war der Raum von Freiheit jenseits jeder Moral. Doch die Klugheit des Ästhetizismus ist immer schon auch seine Dummheit gewesen.
Ich leerte die Neige aus der Flasche ins Glas und trank den letzten Schluck. Aber wann, fragte ich mich, ist meine Jugend, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hätte, denn zu Ende gegangen? Vielleicht in jener Silvesternacht des Jahrtausendwechsels in Rom, es war warm, der Ocker der Häuser glomm, und ich war sechsunddreißig Jahre alt. Einzig besorgte uns, die Computer könnten durch Programmierfehler Schwie rigkeiten mit der Zeitumstellung haben. Das Pantheon im Lachen der Menschen aus ganz Europa, das bald eine gemeinsame Währung einführen würde. Nichts wussten wir von all dem, was kommen würde. So fern diese Welt heute. Weiße Papierballons, erleuchtet von kleinen Kerzen, glitten in Schwärmen lautlos durch den Nachthimmel über die Stadt, und wir, an der Ba lustrade aus samtenem Travertin, sahen staunend zu, ein Glas Sekt in der Hand, vor uns die Stadt mit ihren Kuppeln. Ich erinnerte mich an Papageien, die keckernd durch die Nacht flirrten, grüne Sittiche, deren Vorfahren irgendwann ihren Besitzern entflohen sein mussten und am Tiber heimisch geworden waren.
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Dichtes Brombeergestrüpp hatte das Fenster des Arbeitszimmers im Keller zugewuchert, irgend wann hat Vater wohl aufgehört, die Büsche zurückzuschneiden, konnte wohl auch nicht mehr hier herunter. Im Dämmerlicht an der Wand das kolorierte Foto mei nes Onkels Albert, des jüngsten Bruders meines Vaters, in Wehrmachtsuniform. Die Erzählung seines Todes 1942 in Russland war in meiner Kindheit die erste Ima gination einer großen Ferne. An den Rahmen gesteckt ein altes Passbild meiner Mutter und eines der Groß eltern, vielleicht aus Anlass ihrer goldenen Hochzeit. Der Großvater im Dreiteiler mit Krawatte, die Groß mutter mit dünnem Haar und Dutt in schwarzer ober hessischer Tracht. Der Raum hat so gar nichts von dem Alpengepränge des Wohnzimmers, und doch hielt sich mein Vater, der sich dieses Haus eigentlich nicht hatte leisten können und den Rest seines Leben dafür ar beiten und sparen musste, am liebsten hier unten auf. Wie, fragte ich mich, hatte der Traum wohl ausgesehen, den er, der nicht Ski fuhr und die Berge immer nur von der Terrasse aus betrachtete, sich hier unbedingt hatte verwirklichen wollen?
Das Reißbrett, das den kleinen Raum fast voll ständig ausfüllte, ist eines der wenigen Dinge, die Vater mitnahm, als die Eltern das Haus verkauften, in dem ich aufgewachsen bin, und hierher zogen. Seit ich denken kann, waren darauf die Konstruktionszeich nungen der Maschinen befestigt, mit denen sich mein Vater gerade beschäftigte, nun war das Blatt darauf leer. Rechts unten das Signet der Firma, für die er sein Leben lang gearbeitet hat: ein Anker in einem Kreis, die Jahreszahl 1731 und darüber BUDERUS’SCHE EISENWERKE. Diese Zeichnung ist nur zu den aus beigefügten Unterlagen ersichtlichen Zwecken bestimmt und dem Empfänger zur persönlichen Verwendung anvertraut. Sie darf deshalb nicht vervielfältigt und nicht ohne Zustimmung dritten Personen überlassen oder wei- tergegeben werden. Ich setzte mich an den Schreibtisch und hörte die Stille, die der Vater gehört haben muss, wenn er hier unten war, eine innere Stille, die in mir dröhnte, und erinnerte mich an jenen Moment eine Weile nach seinem Tod, als ich plötzlich spürte, wie etwas durch mich hindurchschmolz, durch mich und durch den Raum, in dem ich in diesem Augenblick war, und etwas von großer Schwere tropfte heiß ins Dunkel hinab, schmerzhaft und endgültig.
Ich war nicht hier, als er starb, und kam auch nicht zur Beerdigung, ließ alles von dem Notar organisie ren, der sich schon lange um die Belange meiner Eltern gekümmert hatte. Er löste das Konto auf, und ein paar Wochen später erhielt ich eine Überweisung aus der Schweiz, die gänzlich abstrakte Summe einer Rechnung, die ohne mich gemacht worden war. Das
Versprechen, ihn zu besuchen, das ich meinem Vater immer wieder gab, als er mich nach dem Tod der Mut ter öfter anzurufen begann, war nicht ernst gemeint, und da Arbeit ihm stets das Wichtigste gewesen war, konnte ich mich auf sein Verständnis für meine Aus reden verlassen. Ohne dass es eine medizinische In dikation gegeben hätte, wurde er in Jahresfrist selbst zum Pflegefall. Wieder versprach ich zu kommen und tat es nicht. Irgendwann mochte er nicht mehr telefo nieren, seine Pflegerin rief mich dann gelegentlich per Skype an und hielt Vater die Kamera vor das Gesicht, was ihm unangenehm war. Als ich seinen eingefallenen Greisenmund zum ersten Mal sah, ertrug ich den An blick kaum. Die letzten Zähne waren ihm ausgefallen, und das neue Gebiss wollte nicht halten. Ich verstand kaum, was er sagte, starrte nur auf seine Zunge, die gespenstisch gewachsen zu sein und im Mund keinen Platz mehr zu finden schien. Ununterbrochen rotierte sie über die Lippen und die eingefallenen Wangen. Bei unserem letzten Gespräch war der verwaschene Frot teepullover, den er trug, voller Speisereste. Die Hör geräte hielten offenbar nicht in den Ohren, sondern baumelten neben den Ohrläppchen, die viel größer geworden waren, wie die Zunge, dachte ich, wie bei Toten.
Ich würde nicht mehr erfahren, was ihm dieses Haus bedeutet hatte. Traurig zog ich die oberste Schublade des Schreibtisches auf. Eine Plastiklupe mit eingebautem Lämpchen, ein Locher, ein halbes Dutzend Lesebrillen mit Etuis, ein Tesaroller aus ro tem Plastik, ein billiger Taschenrechner mit großen Tasten, ein stählernes Rollmaßband, ein Nagelknip ser, Eukalyptusbonbons, ein alter Füller, Heftstreifen, einige Münzen, eine Pappschachtel mit Werbekugel schreibern, eine Blechschachtel der Firma SchwanSta bilo mit Bleistiften, ein Klebestift, eine durchsichtige Dose mit Büroklammern, ein Durchschreibbuch, eine Pappschachtel mit Reißbrettstiften, eine leere lederne Brieftasche mit grünem Seidenfutter, Radiergummis, eine Schere, vertrocknete Kastanien, ein Tütchen koh lensaures Natron, ein goldenes Federmesser, ein halbes Dutzend Schlüssel, alle ordentlich mit kleinen Anhän gern versehen, beschriftet mit der Handschrift meines Vaters.
Und zwischen all dem Kram plötzlich ein Schächtelchen, das mir bekannt vorkam. Ich nahm es aus der Schublade und öffnete den Deckel. Eine antike Scherbe lag darin, und sofort erinnerte ich mich wieder, wie der Vater sie mir geschenkt und wie ich sie als Kind sorg sam in dem Schächtelchen auf Watte gebettet hatte, als wäre sie kostbar. Dabei war es lediglich eine Replik aus dem Shop des Archäologischen Museums in Sion, der Kantonshauptstadt, in dem wir einmal waren. Meine Eltern gingen nie mit mir ins Theater oder ins Konzert, Kultur spielte für sie keine Rolle, insofern war jener Museumsbesuch während eines Sonntagsbummels et was Besonderes gewesen. Wie gebannt ich die Scherbe damals in der Vitrine betrachtet und den Begleittext gelesen hatte. Der Krug, zu dem sie einmal gehörte,stammte aus dem dritten oder vierten Jahrhundert, aus Karthago oder Leptis Magna, ich erinnerte mich nicht mehr genau, jedenfalls aus einer jener prunk vollen römischen Städte am Rande der afrikanischen Wüste, wo die Karawanen der Garamanten einliefen mit dem Nachschub an Löwen und Elefanten für die römischen Arenen. Gefunden aber hat man sie hier im Rhonetal, in der Asche einer römischen Feuerstelle, die man unter der Kirche Sankt Stephan in Leuk ausge graben hat. Ich drehte die Scherbe in der Hand und erinnerte mich, wie ich mir als Junge jenes nächtliche Feuer vorzustellen versucht hatte, im rauen Wind. Auf den Gipfeln erster Schnee. Woher kamen diese Men schen, hatte ich mich staunend gefragt, wohin waren sie unterwegs? Was wussten sie vom marmorglitzern den Leptis Magna am südlichen Meer? Eine stecknadelkopfkleine Sehnsucht spürte ich da zum allerersten Mal.
Krakau an einem Wintertag, zwanzig Jahre später, die knarrenden Dielen der ungeheizten Räume im ver blichenen eiskalten Glanz des ehemaligen Adelspalais, die wenigen Besucher in Mänteln, flüsternd. Endlich, im hintersten Kabinett, Leonardos Dame mit dem Hermelin. Die Fenster des Raums verhängt, vor dem Bild ein Rokokosesselchen, vergoldetes Holz, verschossener Samt. Für den Herzog von Mailand gemalt, dreihun dert Jahre später vom Fürsten Czartoryski gekauft und nach Polen gebracht, während eines Aufstands nach Paris geschickt, zurückerworben, im Zweiten Welt krieg nach Berlin verschleppt, als Wandschmuck der Residenz des Generalgouverneurs Frank wieder in Krakau, beim Rückzug der Deutschen mitgenommen, von amerikanischen Truppen in Bayern entdeckt und schließlich zurückgegeben. Ich schrieb über die Dame mit dem Hermelin, es war ein Text um jene stecknadelkopfkleine Sehnsucht. Leptis Magna am südlichen Meer.
Vielleicht, dachte ich und betrachtete die Scherbe in dem Kästchen, hat mit ihr tatsächlich alles begon nen, meine Flucht aus dem Elternhaus und das Schrei ben, das mich auf meiner Suche zu dem hat werden lassen, der ich nun war. Doch was war es, das ich die ganzen Jahre gesucht hatte? Monterchi fiel mir in je nem Moment wieder ein. Es war sehr heiß, an der kurvenreichen Straße von Arezzo durch die Berge sa ßen afrikanische Prostituierte auf ihren Klappstühlen, und als ich schließlich ankam, vibrierten auf dem ver wahrlosten Friedhof die verblichenen Plastikblumen in der Hitze. Ich stieß die alte Holztür der Friedhofs kapelle auf, und der Blick von Piero della Francescas Madonna del Parto fiel auf mich. Jedes Fresko durch scheint die Wand, auf die es gemalt wird. Das Bild ist nicht ablösbar von seinem Ort. Es ist, begriff ich da zum ersten Mal, wonach wir uns so sehr sehnen: das Ende unserer Reise. Eine Hand ruhig auf dem hoch schwangeren Bauch betrachtete die Madonna mich, so stolz wie alle Mädchen in jener Gegend, ich hatte ihr Ebenbild auf der kleinen Piazza gesehen, Jugend und Heiligkeit flirrten umeinander. Noch immer, hieß es, kämen Frauen hierher, um sich von der Madonna ein Kind zu erbitten. Um das Gefühl der Beschämung, das ich in jenem Moment in mir spürte und das mit dem Kunstwerk ebenso viel wie mit mir selbst zu tun hatte, kreiste der Text, den ich darüber schrieb.
Als ich Jahre später einmal wiedergekommen war, hatte ich die Kapelle verschlossen gefunden. Die Ma donna wohne hier nicht mehr, hatte mir die alte Frau zwischen den Gräbern erklärt. Man hatte sie von der Wand genommen, restauriert und in der ehemaligen Schule des Ortes hinter Panzerglas gehängt. Der Raum leer, klimatisiert und abgedunkelt, kein Heiligtum mehr, ein Käfig, die Jungfrau durch Spots gleichmäßig ausgeleuchtet. Es war mir peinlich gewesen, sie anzusehen.
Ich starrte in das Brombeergestrüpp vor dem Fenster. Es war gewiss richtig gewesen, sich aus alldem hier zu befreien und wegzugehen. Aber eine Ankunft irgendwo hat es nicht gegeben, dachte ich bitter. Ein mal flog ich in die USA, zuerst nach Dallas und dann weiter in einer kleinen Maschine nach El Paso, von dort mit einem Leihwagen über den menschenleeren Highway durch die texanische Wüste, um Donald Judds Skulpturen zu sehen. Doch als ich in dem alten Hangar der USArmy in Marfa vor ihnen stand, geschah etwas Seltsames. Ich erkannte Judds Kuben aus glänzendem rostfreiem Stahl, die mir aus Museen und Katalogen vertraut waren, nicht wieder. Sie waren da und waren es zugleich nicht. Verunsichert ging ich zwischen ihnen umher, und es dauerte lange, bis ich begriff, dass das, was sich flirrend über diese doch so eindeutigen Objekte gelegt hatte, mein eigener Blick war. In ihm waren sie plötzlich zu einer zwingenden Antwort auf die Landschaft geworden, durch die ich gefahren war. Es war schwer, darüber zu schreiben. Über jene Empfindung einer Lücke in der Schöpfung, die diese Kunstwerke besetzten und die ich nur zu se hen in der Lage war, weil dieser Highway mich direkt auf sie zugeführt hatte.
Ich zog die zweite Schublade des Schreibtischs auf. Darin all die Arbeitsutensilien meines Vaters, die ich aus meiner Kindheit kannte, und etwas von jener Empfindung in Marfa war plötzlich wieder da, wäh rend ich sie betrachtete. Da war der Tuschekasten mit den Füllern, der Glasfaserradierer, der Dreikantmaß stab mit den sechs Skalen 1:100, 1:50, 1:20, 1:10, 1:5, 1:2,5 und der weiße Rechenschieber. Das abgestoßene schwarze Futteral, aufgeprägt in Gold E.O.RICHTER & Co PRÄCISION VaP, wenn man einen kleinen Messinghaken seitlich herauszog, konnte man es auf klappen, gebettet in dunkelroten Samt ein Reißzeug mit verschiedenen Ziehfedern und Zirkeln. Lineale, Zeichenschablonen mit Kreisen, Ellipsen, Punkten, die Schieblehre meines Vaters, eingeritzt in den glän zenden Werkzeugstahl WILLI HETTCHE. Werk zeuge und Kunstwerke. Dinge und Körper. Der Tag verdämmerte im Gestrüpp vor dem Fenster, und zum ersten Mal spürte ich Trauer über den Tod meines Va ters. Ich rührte mich nicht, nur die Tränen liefen mir über die Wangen.
Krakau, Monterchi, Marfa. Immer wieder sagte ich mir diese Namen vor, als läge irgendein Trost in ihrer Wiederholung. Und ich dachte an die Texte, die ich über diese Orte geschrieben, an die Kunstwerke, die ich dort gesehen hatte, und an das Leben, das ich ihnen verdankte. Das lächelnde Gesicht der Vize präsidentin huschte durch meine Gedanken. Io sono una forza del passato. Aber stimmte das denn? Galt tatsächlich all das nicht mehr, woran ich immer ge glaubt hatte? Jene stecknadelkopfkleine Sehnsucht.
Werkzeuge und Kunstwerke. Dinge und Körper. Die Erinnerung an meine erste Begegnung mit Dschamīl flackerte auf, die in Wahrheit nicht unsere erste Be gegnung war. Wie er mich im Seminar angelächelt und seinen Namen genannt hatte. Damit, dachte ich, hatte alles begonnen. Und plötzlich kam mir der Torso im Archäologischen Museum von Agrigent wieder in den Sinn. Lange hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Auch über ihn habe ich geschrieben.
Der Torso ist ganz Stückwerk, wie zur Probe zusam mengefügt, ein Betonsteg verbindet Schulter und Kopf, die Arme dicht an der Achsel abgetrennt, die Bruch linien zwischen Leiste und rechtem Oberschenkel schmerzhaft sichtbar. Keine Hände, keine Schenkel, keine Füße. Der Kopf spitz behelmt. Der angesetzte rechte Oberschenkel deutet ein gebeugtes Knie an, man musste sich das rechte Bein angewinkelt vorstel len und einen Schild in der linken, nach hinten em porgereckten Hand. Kraftlos müht dieser Soldat sich, seinen Rücken zu schützen. Eine letzte Verteidigungs anstrengung. Ein sterbender Krieger, vierhundertacht zig vor Christus. Längst unwichtig geworden, wer er war, woher er kam, wofür er kämpfte. Er erwartet für immer den letzten, den tödlichen Schlag. Blaustichig wie das ägäische Meer sah mich von der Wand der ko lorierte Blick jenes Jungen in Wehrmachtsuniform an, der mein Onkel gewesen ist. Zwischen den Fingern drehte ich die Scherbe.
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Aus dem steil ansteigenden Wald war das Tropfen von Wasser zu hören, ein gleichförmiges helles Geräusch, fast ein Plätschern, aus dem nassen moosigen Gestein, in das sich die armdicken Wurzeln der Lärchen und Tannen krallen. An den schattigen Stellen am Rand des Parkplatzes Placken schmutzigen Schnees, von denen dünne Rinnsale über den Asphalt liefen. Ich wollte gerade den Funkschlüssel des Hyundai zücken, den ich bei Sixt gemietet hatte, als mein Blick auf die zugewachsenen Garagen am Rande des Parkplatzes fiel. Dichtes Berberitzengestrüpp hatte sich vor den Toren ausgebreitet, ich trat es zu Boden und rüttelte an dem Tor der Garage, die zu unserem Haus gehört. Muffige Luft, in der ein Rest von Benzin und Ölgeruch sich gehalten hatte, schlug mir entgegen, als das Tor mit einem Quietschen der alten Federn hochschwang.
Der aufrechte Kühler mit den senkrechten Streben und den runden Scheinwerfern erinnerte tatsäch lich an einen Jeep, wie der Vater den Wagen immer genannt hat, den er Ende der siebziger Jahre hier für die Berge gekauft hat, obwohl es sich um einen Suzuki handelte. Die Reifen hatten noch Luft, Öl und Wasserstand waren normal, auf dem Boden keine Spuren einer Undichtigkeit. Vater hatte gewissenhaft die Bat terie abgeklemmt, ich verband die Kontakte, stieg ein, fand den Zündschlüssel hinter der Sonnenblende und startete den Motor. Unwillig schüttelte er sich, doch dann lief er rund. Das Lenkrad dünn und groß, lang und dünn auch die beiden Schalthebel auf dem rohen Blech des Mitteltunnels, daneben der armlange Hand bremshebel. Ich gab Gas und sah zu, wie die Nadel des analogen Drehzahlmessers ausschlug, während die Tankanzeige langsam gen Maximum wanderte. Wie lange ich so ein Auto nicht mehr gefahren war. Kein Bildschirm und keine Stimme, die mir sagte, wel chen Weg ich einschlagen musste, nicht einmal eine Servolenkung. Ich roch den lang vergessenen Geruch bleihaltigen Benzins, legte den ersten Gang ein, fuhr ins Dorf hinab, und wie in meiner Kindheit der Vater parkte ich direkt vor der Kirche. Alles schien wie früher, nur, dass niemand zu sehen war und Stille auf dem Dorf zu lasten schien. Über dem verlassenen Platz mit dem Brunnen orange die MIGROSReklame.
Stille ist das, was wir spüren, wenn etwas unsere Träume zerreißt. Das Mädchen im Laden mühte sich sehr, sie auszuhalten. In seinem weißen Hoody und mit großen goldenen Kreolen, viel Wimperntusche um die schwarzen Augen, die dicken Haare mit einem
strengen Mittelscheitel zum Pferdeschwanz gebändigt, rührte es sich nicht, während ich schweigend einen Einkaufskorb nahm und zusammensuchte, was ich brauchte, Nudeln, Zwiebeln, Milch, das Angebot war klein, doch es gab Alpkäse und die Hauswürste, die ich aus meiner Kindheit noch kannte, frischen Ziger, Zucchini und Tomaten. Auch Toilettenpapier, Kaffee, Wein packte ich in den Korb, als wollte ich nie mehr ins Tal hinab, und als ich alles auf den Verkaufstresen legte, fragte ich das Mädchen, wie es heiße.
»Serafine.«
Es sah mich abwartend an.
»Es ist so still hier im Dorf.«
Nur sie und die Mutter seien noch da, sagte das Mädchen leise, dem es schwerfiel, Hochdeutsch zu sprechen. Nach dem Bergsturz seien alle ins Tal hin unter. Weshalb sie hiergeblieben seien, fragte ich. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und zog stumm mei nen Einkauf über den Scanner. Wie alt sie sei.
»Fünfzehn«, sagte sie, nannte dann den Betrag, den die LEDAnzeige der Kasse zeigte, und fragte, ob ich ein Säckli wolle. Ich nickte und bezahlte. Während ich die Sachen in der Tüte verstaute, fragte ich noch, was mit dem Internet los sei.
»Es gibt kein Netz hier in den Sonnenbergen.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und wollte gerade etwas erwidern, als jemand meinen Namen rief.
»Thomas, bist du das?«
Eine Frau war durch den Vorhang hinter dem Tre sen geschlüpft. Im ersten Moment sicher, sie nicht zu kennen, ganz fremd dieses Gesicht, erinnerte ich mich ebenso plötzlich, dass das hier der Laden ihres Vaters war. Wie konnte ich das nur vergessen. Sicher, ihren Namen nicht mehr zu wissen, fiel er mir im selben Moment, als öffnete sich eine Tür, wieder ein.
»Marietta!«
Sie kam lachend um die Theke, und wir umarmten uns. Im Augenwinkel sah ich, das Mädchen musterte uns skeptisch dabei.
»Damals war ich größer als du!« Marietta betrach tete mich lange. »Erinnerst du dich? Ich war mit meiner ganzen Familie im Sommer oben. So viele Kinder waren wir damals.«
Die schwarzen langen Haare ihrer Tochter hätten mich zu ihr führen können, dieselben schweren Haare hatte Marietta als Kind gehabt. Sie hatte sie immer of fen getragen und länger als die anderen. Nun waren sie grau. Ich suchte in ihrem Gesicht nach dem der Kinderfreundin und erinnerte mich plötzlich an einen ganz bestimmten Sommertag, stürzte kopfüber durch den Tunnel der Jahre in die Vergangenheit zurück, von den Erinnerungen weitergelenkt bis hinab auf ihren tiefsten, dunklen Grund, sah ihr ganz junges Gesicht wieder vor mir, atemlos und mit geröteten Wangen wie nach einem langen lachenden Lauf. Sie flüsterte meinen Namen. Ich hielt ihre Hand. Manchmal hatte mein Vater mich und die anderen Kinder im Sommer zum Schwimmen gefahren, meist war die Rückbank voll besetzt gewesen. Doch ein Mal, erinnerte ich mich jetzt, waren wir nur zu zweit, Marietta und ich. Es war sehr heiß an jenem Tag, alle Fenster waren offen bei der Fahrt die Serpentinen hinab ins Tal, und da war dieser Geruch nach Benzin und die Nähe zu dem Mädchen, die mich so schüchtern machte, dass ich kein Wort herausbekam. Wie wir froren im eiskalten Gerundensee. Ihr Badeanzug grün wie das Wasser. Der Vater auf seinem Handtuch sah uns zu. Später würde er uns Eis kaufen.
»Das mit deinem Vater hat mir sehr leidgetan. Ich hab ihn immer gern gehabt.«
»Er dich auch.« Ich musste mich räuspern. Jedes Mal habe er am Telefon davon erzählt, wenn er ihr zu fällig begegnet sei.
»Besser für ihn, so, wie es ihm in letzter Zeit gegangen ist.« Sie sah mich unsicher an. »Schade nur, dass du nicht zur Beerdigung kommen konntest.«
Ich nickte.
»Du willst jetzt sicher das Haus verkaufen«, sagte sie. »Überleg es dir doch noch einmal. Grund und Bo den gibt man nicht weg.«
Sie wusste nichts von meinem Leben. Der grüne Badeanzug ging mir nicht aus dem Kopf. »Serafine hat mir erzählt, es wohne niemand mehr hier oben?«
»Ja. Alle Dörfer sind jetzt verlassen, alle sind weg gezogen nach dem Bergrutsch, zuerst die Fabrikarbei ter der Lonza, die ja unter dem Wasser begraben ist, und dann auch die anderen.«
»Und du?«
»Ich nicht.«
Als handle es sich um eine Intimität, über die man nicht sprach, zögerte ich einen Moment, aber dann fragte ich sie doch: »Hast du es gesehen?«
Ja, sagte sie leise, sie habe von hier oben alles ge sehen in jener Nacht. Doch nicht vergessen könne sie, was sie gehört habe. Ihr Blick war so traurig, als bäte sie mich um Entschuldigung.
»Iär miässät eib mäldu!«, platzte es da aus Serafine heraus.
»Melden?« Ich drehte mich überrascht nach dem Mädchen hinter der Kasse um und freute mich über das Ihr. So hatten die Kinder aus dem Dorf auch zu meiner Zeit die Erwachsenen angesprochen, nie hätte ich gedacht, dass sie das noch immer taten.
»Ja, Iär miässät«, sagte es eindringlich. »Bitte!«
»Fiineli!«, ermahnte Marietta ihre Tochter.
Ich nahm die schwere Tüte und lächelte ihr zu. »Besuchst du mich mal?«
»Sie hat recht, Thomas«, sagte sie ernst, ohne auf meine Frage zu antworten.
Ich blieb in der Tür stehen. Bei wem ich mich denn melden müsse.
»Bim Jesko Zen Ruffinen.« Das Mädchen sah mich bittend an.
»Der hat mir geschrieben. Deshalb bin ich hier.«