Es ist recht sehr Nacht geworden. Kleist, Raabe, Benn. Essays.
Herausgegeben von Thomas Hettche. Mit Beiträgen von Lukas Bärfuss, Aris Fioretos, Durs Grünbein, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Olga Martynova, Ulrich Peltzer, Monika Rinck, Sabine Scholl Katharina Schultens und Ingo Schulze. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. So beginnt die Erzählung Das Erdbeben in Chili. Es ist der erste Text Heinrich von Kleists, der gedruckt wurde, 1807, im damals sehr populären Morgenblatt für gebildete Stände. Kleist war dreißig Jahre alt .
Obwohl er darin von einem konkreten historischen Ereignis erzählte, verwies der junge Autor die Zeitgenossen doch unverkennbar auf eine andere, ungleich größere Naturkatastrophe . Nämlich auf jenes Erdbeben, das am 1 . November 1755 zusammen mit einem Großbrand und einem Tsunami die portugiesische Hauptstadt Lissabon fast vollständig zerstörte und dessen Erschütterungen über die Iberische Halbinsel hinaus noch in Frankreichs zu spüren waren. Mit 30000 bis 100000 Todesopfern ist es eine der verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte . »Alles«, schrieb damals der fassungslose Immanuel Kant, »was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen neh- men, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen .«
Die Nachricht dieser Katastrophe verbreitete sich in Wideseile durch ganz Europa, löste hitzige Debatten unter den Philosophen der Aufklärung aus und zerstörte für immer den Glauben, der Mensch lebe in einer von Gott gut eingerichteten Welt. Was bleibt und was hilft nach diesem Verlust? Literatur . »Eine solche Erzählung«, hoffte Kant, »würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können . Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen.«
Doch ganz so einfach ist es nicht mit den »geschickteren Händen«. Ulrich Peltzer stellt in seinen Frankfurter Poetikvor- lesungen kategorisch klar: »Schreiben ist kein therapeutischer Akt .« Und auch diese genuin zur Moderne gehörende Verwei- gerung der Literatur hat, wenn man so will, mit dem Erdbeben von Lissabon zu tun, denn mit dem Glauben an eine gut einge- richtete Welt endete auch die Bereitschaft der Literatur, sich in Dienst nehmen zu lassen, für welche Sache auch immer . Sie zog sich von der Bühne der Welt zurück in das Vieraugengespräch von Autor und Leser . Es war die Geburt der intimen bürgerlichen Lektüre aus dem Geist der Katastrophe .
Die téchne des Lesens, die damit sich zu entfalten begann, ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt, den Text und seinen Leser . Sie erschafft erst den Raum, in dem Literatur im emphatischen Sinn sich ereignen kann. Das war die Hypothese, der ich von 2018 bis 2020 in einer Veranstaltungsreihe der TU Berlin nachging. An jener Hochschule also, an der Walter Höllerer Ende der 50er-Jahre sein Institut für Sprache im technischen Zeitalter gründete, ein Name, der noch immer treffend den Rahmen benennt, in dem jede Beschäftigung mit Literatur in unserer Gegenwart stattfindet, zumal heute, da im Medienwandel, den wir erleben, das Verständnis für die Geschlossenheit eines literarischen Textes, das Wissen um seinen Traditionsraum, die Techniken seiner hermeneutischen Aneignung zunehmend verloren gehen. Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili, Wilhelm Raabes Zum wilden Mann und Gottfried Benns Gehirne waren die kanonischen Texte, an denen wir drei Jahre lang im Seminar in diesem Sinn eine Emphatische Lektüre – so der Titel der Veranstaltungsreihe – erprobten, und zwar gemeinsam mit Schriftstellern, die ich einlud, ihre eigenen Leseerfahrungen in Form jener Essays beizusteuern, die dieser Band versammelt.
Weshalb gerade diese drei Texte? Weshalb Kleist? Weil er, bevor er in das Königsberg des kurz zuvor gestorbenen Kant reiste, dessen Philosophie ihn in eine tiefe Krise gestürzt hatte, an seine Verlobte schrieb: »Wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins u seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich u die Seele u das ganze Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht giebt – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit for- dern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei . Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten u mit Andacht ißt er ihn auf .«
Das ist die Disposition, aus der heraus dieser Spross einer preußischen Offiziersfamilie, der gegen die französischen Revo- lutionstruppen gekämpft und überstürzt seinen Abschied genommen, ein Studium begonnen und abgebrochen, sich verlobt und die Verlobung wieder gelöst, Goethe seine Penthesilea auf den »Knien seines Herzens« überreicht und Zurückweisung erfahren hatte, der nach Frankreich gereist war, um sich Napoleon anzuschließen, und zurückgeschickt wurde, dieser gescheiterte und immer weiter scheiternde Kleist, der sich schließlich, vier Jahre nach dem Erscheinen des Erdbebens in Chili, erschoss, das Scheitern einer Liebe in einer scheiternden Gesellschaft erzählt.
Er beginnt mit der Geburt eines Kindes, die ein unstatthaftes Liebesverhältnis ans Tageslicht bringt, erzählt die Verhaftung des Kindsvaters und wie das Liebespaar durch das Erdbeben glücklich Tod und Gefängnis entkommt . Er schildert dann jenen Moment, in dem alle gesellschaftlichen Schranken ebenso einstürzen wie die Mauern der Stadt, und wie die beiden Liebenden in der Atempause einer Nacht, inmitten der Katastrophe, einen utopischen Moment des Friedens erleben . Doch schon mit dem Dankgottesdienst der Überlebenden am nächsten Tag konstituiert sich die Gesellschaft neu, und Kleist lässt das Liebespaar von einem rasenden Mob auf den Stufen der verschont gebliebenen Kathedrale töten.
Man liest das atemlos und zugleich irritiert. Die Erzählung, durch die Kleist’schen Konjunktivkonstruktionen kühl und distanziert, scheint keinerlei Deutung geben zu wollen für das, was sie schildert. Die Figuren scheinen keine Innenwelt zu haben und weisen unser Bedürfnis nach Identifikation ab . Die Handlung, die Zufälle auf Zufälle zu häufen scheint, ent- täuscht unsere Erwartungen. Und so bleiben wir am Ende der Geschichte ergriffen, doch seltsam ratlos zurück und wüss- ten noch nicht einmal zu sagen, was eigentlich ihr Thema ist: die Brutalität der Natur und des Schicksals? Die Feier eines Rousseau’schen Naturzustandes? Die Grausamkeit der Menschen? Der Triumph der Liebe? Oder doch jener der Moral? Wovon nur handelt dieser monströse Text?
In seinem Essay Wasser, Gänsehaut notiert Aris Fioretos zur Bildfolge eines antiken griechisches Gefäßes, sie enthalte alles, »was man sich von einem Roman wünschen kann. Es finden sich darauf Spannung, Schönheit, Verstecke, Besinnung, Präzision, jäher gewaltsamer Tod und eine überraschende Geburt .« Besser lässt sich Kleists Erdbeben in Chili nicht cha- rakterisieren, zumal Fioretos anhand des Vasenbildes auf eine Lektüreempfindung zu sprechen kommt, die jener des Kleist-Textes verblüffend gleicht: Ein Roman sei wie kaltes Wasser, das unsere Haut berührt, der Schauer beim Lesen gleiche ihrer physiologischen Reaktion . Man kann von einer sinnlosen Katastrophe nicht sinnstiftend erzählen, ließe sich so Kant entgeg- nen, denn dann erreicht man die Wirklichkeit des Katastrophischen nicht.
Und katastrophisch ist bei Kleist alles und vor allem die Liebe. Es ging diesem Dichter um Literatur, die ernst nimmt, nicht mehr entscheiden zu können, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, und die trotzdem an der Mög- lichkeit des Erzählens festhält. Das Zwischenreich, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz, in dem die Literatur seit dem Erdbeben von Lissabon ihren Ort hat, manifestiert sich bei Kleist in seinen Figuren. Alle können sie, wie Max Kommerell schreibt, »Rätsel sein für sich, für einen Partner, für die Umwelt, für uns«. Dieses Rätsel aber, das wir uns notwendig selber sind, wird bei Kleist nicht gelöst, sondern ausgehalten. Im Erdbeben in Chili kulminiert dieser Rätselcharakter in einem einzigen, in dem berühmten allerletzten Satz der Erzählung. Kleist lässt jenes Kind der Liebe überleben, von der er erzählt hat, doch nur zu dem Preis, dass ein anderes irrtümlich an seiner Stelle erschlagen wird. Und dessen Vater, der vergeblich versucht hat, die Liebenden vor dem Mob zu retten, und dessen Kind man gerade den Kopf an einem Kirchenpfeiler zerschmettert hat, nahm hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.
Freuen? Nach dem Tod des eigenen Kindes? Und müssen? Schaudernd beenden wir diese Erzählung im Wissen darum, nichts zu wissen und doch unendlich viel, das wir nicht in Worte fassen können, verstanden zu haben .
Das aber ist eine Empfindung, die uns, gleichgültig, aus welcher Epoche der Text stammt, bei dem wir sie haben, Modernität bedeutet. Eine Spur verläuft, quer zu den Gräben literaturgeschichtlicher Perioden, durch die Zeit, und wer diese Fährte aufnimmt, wird belohnt mit der Erfahrung, dass es Texte gibt, die einen mit unerbittlicher Neuheit treffen . Wir halten sie auf eine bestimmte Weise für glaubwürdig, denn sie geben uns die Gewissheit, etwas über die Welt zu erfahren, das wir vorher nicht wussten. Das ist wirklich geschehen, sagt der Text, es ist nicht ausgedacht, sondern abgenommen von der Wirklichkeit. Glaubhaft wird diese Behauptung durch die Genauigkeit der Erzählung und die Geschlossenheit der Fiktion, die psychologische Stimmigkeit von Figuren und Handlungen und all jene anderen Mittel, die das realistische Erzählen seit dem 19 . Jahrhundert, seit Flauberts Madame Bovary, seit Dickens’ Oliver Twist, Tolstois Krieg und Frieden und Melvilles Moby-Dick, perfektioniert hat.
Roland Barthes war nun der Ansicht, dieser »Wirklichkeitseffekt« entstehe durch »das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt. Das meiste, was wir Erzählung nennen, besteht in der Modulation dieser Bewegung.« Und diese Bewegung gelinge nur, weil ein solches Erzählen geläufige kulturelle Codes verwende, es handle sich dabei, urteilte Barthes abfällig, um ein »Erbrechen der Stereotypen« . Das aber bedeutete, die Anmutung von Realität, die Literatur zu erzeugen imstande ist, wäre nichts als Schein, die Behauptung, die Literatur nähme die Welt in den Blick, nichts als Ideologie.
Aber handelt es sich bei den Modulationen, von denen Barthes spricht, nicht vielmehr um eben jene Rätsel, wie etwa Kleists Erdbeben in Chili sie uns aufgibt? Um das Fantastische, das plötzlich hereinbricht, um Erwartungen, geweckt und schon unterlaufen? Wie sollte ein Schriftsteller wie Kleist nicht wissen, dass Realität weder einfach zu haben noch abzutun ist? Gerade ihm ist sie doch schon immer das, was Kant eine regulative Idee nannte, also etwas, dessen objektives Sein vorausgesetzt werden muss, sich der Abbildung aber entzieht. Das Wissen darum, wie Joseph Vogl es einmal formulierte, dass es »eine Welt oder eine Wirklichkeit da draußen gibt, die sich ungerührt, indifferent, selbstgenügsam, souverän und in völliger Unabhängigkeit von Denkprozessen und Begriffen behauptet«.
Das Reale ist real gerade darin, dass es kontingent und souverän sich der Erzählbarkeit widersetzt, und zwar am offen- sichtlichsten im Moment der Katastrophe, von der die Literatur deshalb nicht müde wird zu erzählen. Jede Katastrophenerzählung ist eine über die Möglichkeiten realistischen Erzählens selbst: »Etwas bricht herein, über die Protagonisten wie über uns Leser . Es bricht herein mit metaphysischer Gewalt; es bricht herein wie ein Teufelssturm, wie das Donnerwetter des Jüngsten Gerichts . Und das, was da hereinbricht, mit Gewalt und Komik, ist der Realismus .«
Daniel Kehlmann schreibt das in seinem Essay über Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann, die 1873 entstand, also ein halbes Jahrhundert nach Kleists Erdbeben in Chili, und uns im zweiten Jahr der Emphatischen Lektüre beschäftigte. Raabe, einer jener deutschen Realisten, die im Vergleich zu ihren Kollegen aus Paris und London als etwas provinziell gelten, weil sie dem Fantastischen so viel Raum geben, lässt seine Erzählung in einer Regennacht vor der Apotheke eines kleinen Städtchens im Harz folgendermaßen beginnen: Wir suchen einfach, wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, dass das ganze Haus widerhallt: wir sind darin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom wilden Mann.
Wir werden so vom Erzähler im Wortsinn in die Geschichte hineingezogen und registrieren das verblüfft, als erklärte uns ein Zauberer seine Tricks oder als würde die vierte unsichtbare Wand plötzlich durchstoßen, die Bühne und Zuschauerraum trennt. Aber: »Wer spricht?«, fragt Monika Rinck. »Wenn es der Erzähler, der ein Bündnis mit seiner Leserschaft eingehen wird, nicht sein kann, bleibt diese Stelle eigenartig leer. Oder ist’s ein Schatten aus einer anderen Welt?« Natürlich ist er das. Jeder Versuch, die Fiktion einer Erzählung zu durchbrechen, indem der Autor von sich selbst spricht, schafft nicht Authen- tizität, sondern nur eine weitere literarische Figur, die, wie alle Figuren, auf eine andere Welt verweist, die zugleich die eigentliche ist. Doch diese Welt liegt im Dunkeln. Es ist recht sehr Nacht geworden, stellt Rache gleich zu Anfang fest .
Allerdings vergisst der Leser jenen seltsamen Anfang schnell wieder und folgt gern einer zunächst ganz biedermeierlichen Geschichte um einen Apotheker, seine Schwester und einen unerwarteten Gast . Doch je mehr Raabe seine Geschichte entfaltet, beginnt er Perspektive gegen Perspektive zu setzen, und plötzlich geht es erstaunlich modern um eine Fabrik für Dosenfleisch in Brasilien, um Kolonialismus und Sklavenhan- del, dann wieder ist von einer Blutschuld die Rede, einem Henker und gar einem Teufelspakt, Gründerzeitökonomie koppelt sich mit Schatzgräberei, Liebigs Chemie mit einem mythischen Schiffsarzt, und wenn am Ende das ganze biedermeierliche Setting in Trümmern liegt, in das uns der Erzähler zu Beginn der Gewitternacht mitgenommen hat, weiß man: Nichts von dem, was einem gerade erzählt worden ist, ist das, was es scheint .
»Es haben wenige meiner kleineren Dichtungen das Publikum so intriguirt wie diese«, hält Raabe lakonisch fest. Das hat mit der Erzählweise dieses Schriftstellers zu tun, der betont, »ein Drittel« dessen, was er erzähle, habe »der Leser selber herauszudenken, zu fühlen und empfinden« . Was nichts anderes bedeutet, als dass wir die Sätze, die wir lesen, in unseren Köpfen ergänzen müssen zur Ganzheit einer Welt . Wenn wir Literatur als Wirklichkeit empfinden, erleben wir insofern eigentlich genau das Gegenteil, nämlich die Übereinstimmung der Erzählung mit jenen Konventionen, die uns vertraut sind, und zwar je mehr, je welthaltiger der Text zu sein behauptet . Weshalb der Realismus sein Versprechen, ein Erkenntnismittel jener Wirklichkeit zu sein, die sich immer entzieht, nur einzulösen vermag, wenn er miterzählt, was zwischen dem Text und uns geschieht, wenn wir lesen.
Und eben das ist es, was Wilhelm Raabe in Zum wilden Mann tut. Sobald sich in der Geschichte ein Element zu sehr mit Bedeutung auflädt und so den realistischen Charakter des Textes zu gefährden droht, zerstreut er in einer erzählerischen Bewegung der Metonymisierung jenen Sinn wieder, den er eben erst etabliert hat, um dann, wenn die Erzählung sich im realistischen Detail zu verlieren beginnt, wieder Prozesse der Bedeutungsaufladung in Gang zu setzen. Was eben jene Modulation beschreibt, aus der laut Barthes das »meiste, was wir Erzählung nennen, besteht«, einen ständigen Abgleich von Sensation und Deutung, von Kohärenz und Kontingenz .
Nichts anderes ist Realismus: Wir konstruieren unsere Welt in Sprache und aus Sprache, aber zugleich gibt es die Welt, sprachlos, ohne uns. Wir können sie nicht erreichen und müssen es doch. Dieses Eingeständnis macht die Modernität von Texten aus, egal wann sie geschrieben wurden. Und weil in der Katastrophe und der Liebe diese unaufhebbare Kluft uns am direktesten berührt, ist Literatur von beidem besessen. Es könne sein, vermutet Olga Martynova in ihrem Essay Warum Straßenbahn? Warum Lissabon?, »dass die Lissabonner, die seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nach und neben der Kata- strophe leben, ein Geheimnis kennen: Es gibt Dinge, die nicht überwunden werden können.«
Die Schönheit von Literatur ist daher immer auch die ihrer Vergeblichkeit. Darum, dass eine emphatische Lektüre sich dies eingesteht, kreisten unsere Gespräche im Seminar auch angesichts des dritten Textes, der uns nach Kleist und Raabe beschäftigte und dessen Konstruktion Durs Grünbein so zusammenfasste:
»Einen Text so zu komponieren, daß man ihn immer wieder lesen wird, um in seine Kammern einzudringen,
um zu begreifen, was da komplex erfaßt wurde,
bis der Leser versteht, daß er hier dasselbe erleben soll
wie beim Gang durch eine Kunstausstellung, ein Museum
mit lauter Bildern, die zum Verweilen einladen
(nur daß Satzkonstruktionen hier das Visuelle ersetzen) .
Also: lauter Bildergefüge . Und einen Kommentator, den Autor,
das moderne Ich, das durch den Ausstellungstext führt .«
Wovon ist die Rede? Von Gottfried Benns Gehirne. Novellen, einem halben Dutzend kurzer Erzählungen, deren erste so beginnt: Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und unerklärlichen Weise erschöpft.
Es ist das Jahr 1916, und wieder ist, seit Raabes Der wilde Mann, annähernd ein halbes Jahrhundert vergangen. Gottfried Benn, Pfarrerssohn aus der Prignitz jenseits der Oder, »wo die Ebenen weit«, hatte sein Medizinstudium in Berlin gerade erst beendet. Vier Jahre zuvor war sein erster Gedichtband Morque erschienen, neun Gedichte, die Skandal machten und heute Schullektüre sind: Kleine Aster, Schöne Jugend, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke. Es geht um Medizin, Körper, Schmerz, Gleich- gültigkeit, Armut und den Tod. Das Nest kleiner fiepender Ratten in einer Wasserleiche, der vom Krebs zerstörte Schoß einer Frau. Er habe die Gedichte während eines Sektionskurses am Klinikum Moabit in einer Nacht aufgeschrieben, erklärte Benn später. Sie machten ihn berühmt wegen ihrer scheinbaren Kälte .
Welche Anstrengung diese Kälte bedeutete, zeigt ein Gedicht Benns über seine Mutter, die in jener Zeit an Krebs starb. Der gläubige Vater hatte verhindert, dass der junge Arzt ihr Leid mit Morphium linderte.
»Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt .
Sie schmerzt nicht immer . Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot .
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde .«
Zu Kriegsbeginn eingezogen, arbeitete Benn 1916 als Militärarzt in einem Krankenhaus für Prostituierte in Brüssel. Hier – er hörte die Kanonen der Yser-Schlacht von fern – erfand er Rönne, die Hauptfigur seiner Erzählungen, die er uns folgen- dermaßen vorstellt: Das ist Rönne, Arzt, mittelgroß, von gesun- der Konstitution, linkes Augenlid hängt leicht herunter, meistens mißvergnügt, Dyspepsie im Gehirn, Neigung zu Fettansatz und Transpiration. Erkennbar ist dies ein unsentimentales Selbstporträt. Benn sieht uns durch seine Figur hindurch an. Diese Prosa zu lesen, bedeutet, über ihren Verfasser nachzudenken, was höchst zeitgenössisch anmutet, ist doch das Memoir die vielleicht populärste literarische Form der Gegenwart. Doch anders als bei seinen aktuellen Epigonen, ist Rönne gerade nicht einfach ein Abbild des Autors, es gibt da eine offensichtliche Differenz, diese Texte zielen nicht auf Authentizität, die Konturen von Rönne und Benn flirren und dem entspricht ein Flirren der Sprache.
Ha, heute nicht einfach, Beine breit und herab vom Stuhl, mein Fräulein, die feine blaue Ader von der Hüfte in das Haar, die wollen wir uns merken! Ich kenne Schläfen mit diesen Adern, es sind schmale weiße Schläfen, müde Gebilde, aber diese will ich mir mer- ken, geschlängelt, ein Ästchen Veilchenblut! Wie? Wenn nun das Gespräch auf Äderchen kommt – gepanzert stehe ich da, in Sonder- heit auf Hautäderchen: An der Schläfe?? O meine Herren!! Ich sah sie auch an anderen Organen, fein geschlängelt, ein Ästchen Veil- chenblut. Vielleicht eine Skizze gefällig? So verlief sie –, soll ich auf- steigen? Die Einmündung? Die große Hohlvene? Die Herzkammer? Die Entdeckung des Blutkreislaufes – – –? Nicht wahr, eine Fülle von Eindrücken steht Ihnen gegenüber? Sie tuscheln, wer ist der Herr? Gesammelt steht er da? Rönne ist mein Name, meine Herren. Ich sammle hin und wieder so kleine Beobachtungen; nicht uninteres- sant, aber natürlich gänzlich belanglos, kleiner Beitrag zum gros- sen Aufbau des Wissens und Erkennens des Wirklichen, ha! ha! Und Sie, meine Damen, wir kennen uns doch! Gestatten Sie, daß ich Sie erschaffe, umkleide mit Ihren Wesenheiten, mit Ihren Eindrücken in mir, unzerfallen ist das Leitorgan, es wird sich erweisen, wie es sich erinnert, schon steigen Sie auf.
Dieser Ton Rönnes hat die Literatur nicht mehr losgelassen. Es ist der Ton einer Überforderung und des Ichverlusts, von Nervosität und hohler Männlichkeit, der Härte und zugleich sentimentaler Sehnsucht . »So etwas war nicht zu finden woan- ders«, schreibt Klaus Theweleit, »bei keinem George oder Trakl oder Heym oder Brecht, auch Rilke nicht oder sonstwo in deut- scher Sprache . Zeilen, die ich jetzt Rocktexten näher finde als den Gedichten anderer deutscher Lyriker . Lyrics . Bennsche Klänge, sounds eher als Bedeutungswörter … Wortkonglomerate, die in den Körper eingingen … nicht wie, sondern als eine Musik. Woran liegt diese Wirkung?« Das ist die Frage, die sich bei Benn immer wieder neu stellt – ungefähr alle dreißig Jahre erlebt er eine Wiederentdeckung –, denn tatsächlich fällt es schwer, sich diesem politisch zweifelhaften und menschlich unangenehmen Dichter zu entziehen, es sei denn durch Verweigerung . Wohin verlockt er uns? In die Sphäre der Unschärfe, die zwischen einem Text und uns existiert und die er wie wenige offen zu halten verstand . In jenes Zwischenreich, von dem die Rede war, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz wie der Schirm von Raabes Erzähler . Es ist der Hallraum der Sprache selbst, in ihr nur entsteht Literatur . Jeder Vers Benns sagt: Es ist recht sehr Nacht geworden. Wir haben die Katastrophe bereits hinter uns. Geblieben von ihr ist uns die Kälte der Vergeblichkeit, doch sie berührt uns im Schauer der Lektüre tröstlich wie kaltes Wasser .
»Wie mich dieser angebliche Satz Benns durch meine Zwanziger begleitet hat: Man habe sein literarisches Material kalt zu halten«, schreibt Katharina Schultens . »Bis in den Marmorgarten meiner eigenen Medusa hallte er mir nach. Ich flüstere ihn noch immer unter jedem neuen Gedicht .«